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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

301–304

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Delgado, Mariano [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Christentum der Theologen im 20. Jahrhundert. Vom "Wesen des Christentums" zu den "Kurzformeln des Glaubens".

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 272 S. gr.8. Kart. Euro 20,40. ISBN 3-17-015680-2.

Rezensent:

Uwe Rieske

Der vorliegende Band versammelt neben der Einleitung des Herausgebers, einem Namenregister und Angaben zu der Autorin und den Autoren 21 Beiträge zu Wesensbestimmungen des Christentums und Kurzdarstellungen des christlichen Glaubens, die im 20. Jh. veröffentlicht wurden. Die Darstellungen beginnen mit Adolf Harnacks klassischer Vorlesung über das "Wesen des Christentums" (1900/1901) und enden bei Walter Kaspers "Einführung in den Glauben" von 1972. Die Konzepte von zehn evangelischen, ebenso vielen römisch-katholischen Theologen und einer evangelischen Theologin (Dorothee Sölle) finden sich unter drei Überschriften: Entwürfe zum "Wesen des Christentums", Auslegungen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses und schließlich "Kurzformeln des Glaubens". Lässt sich von einem solchen Band, der über das Nachdenken über das Christentum nachdenkt und Kurzdarstellungen nochmals bündelt, anderes erwarten als Christliches in gleichsam homöopathisch verdünnten Dosen? Oder verdichtet bzw. potenziert sich das Christliche, je länger man es traktiert? Immerhin: Bereits die Auswahl dieser Porträts zeigt, "daß jede Wesensbestimmung als individueller Akt nicht alleine bleiben kann: Die Wesensbestimmung des Christentums gibt es nur im Plural" (Hartmut Ruddies zu Ernst Troeltsch, 23). Dies gilt längst auch von den Bestimmungen der Wesensbestimmungen.

Im ersten Teil (15-122) werden die Entwürfe von Adolf von Harnack (Karl H. Neufeld), Ernst Troeltsch (Hartmut Ruddies), Paul Tillich (Erdmann Sturm), Friedrich Gogarten (Peter Henke), Emanuel Hirsch (Arnulf von Scheliha), Gerhard Ebeling (Peter Knauer), Karl Adam (Johannes Kreidler), Romano Guardini (Thomas Ruster) und Michael Schmaus (Richard Heinzmann) vorgestellt, von denen aber durchaus nicht alle sich zur Überschrift des ersten Kapitels und damit zum Wesen des Christentums geäußert haben. Von Paul Tillich etwa gibt es keine Veröffentlichung, die diese Überschrift beansprucht und sich somit in die bereits im Vormärz des 19. Jh.s mit den Entwürfen von Ludwig Feuerbach (1841) und Karl Ullmann (1845) angeregte Perspektive einreihen lässt, so sehr auch seine zwischen Philosophie und Theologie angesiedelte Ontologie zum Thema beiträgt.

Gleichwohl ist Erdmann Sturms eng an das Denken Tillichs angelehnter Beitrag (37-51) anregend und erhellend, weil er aus dem Spektrum seiner Publikationen in dessen eigenwillige Begriffsschöpfungen einführt, sie konsequent auf ihre theologiegeschichtlichen Wurzeln bezieht und ihre gegenwartsorientierte, existenzklärende Relevanz deutlich werden lässt. Zudem versucht Sturm, was in anderen Beiträgen zuweilen vermisst wird: Er entwickelt Tillichs Theologie vor dem Hintergrund seiner Vita. Hier wird ein knapper, präziser und lesenswerter Überblick über Tillichs Theologie gegeben.

Als "Überlehrmäßigkeit des christlichen Glaubens" annonciert Arnulf von Scheliha das "Wesen des (protestantischen) Christentums nach Emanuel Hirsch" (61-73). Damit ist offenbar gemeint, dass der Glaube nach Hirsch allen gedanklichen und lehrhaften Ausprägungen vorausliegt und ihnen seine Kraft und Substanz als innere Gewissheit zueignet, ohne jemals in dogmatischen Traditionen und Fixierungen ganz und kenntlich aufzugehen. Insofern ist, was gewiss nicht für Hirsch allein gilt, "die Wesensbestimmung ... ein Mittel zur wissenschaftlichen Selbstvergewisserung der christlichen Religion im neuzeitlichen Diskurs" (61). So gelesen lässt sich mit Hirschs Phänomenologie der Typen von katholischem und neuprotestantischem Christentum auch eine "Theorie der Pluralität christlicher Religionstypen" entwickeln und "eine vielversprechende Heuristik des Christentums in der modernen Welt" (71) eröffnen - allerdings erst, wenn man solch verdichtete systematisch abstrahierte Sprachgestalt schließlich und endlich durchkämpft hat.

Der Frage "Was ist Christentum?" stellte sich Friedrich Gogarten in einer Schrift von 1956, an der sich Peter Henkes dargestellter Antwortversuch (52-60) eng orientiert. Vielleicht aber lässt sich Gogartens Entwurf, der den Menschen stets im Gottesverhältnis situiert sieht, erst vor dem Hintergrund von dessen Säkularisierungsbuch "Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit" (1953) und von seinen Überlegungen zur Wirklichkeit des Glaubens in der Moderne her zureichend verstehen; in diesem Beitrag wäre eine interessante vergleichende Anknüpfung zu Hirsch und Tillich möglich gewesen, die aber hier ebenso wenig versucht wird wie in anderen Darstellungen.

Dialogisch und zugleich ganz unprätentiös an das Denken Gerhard Ebelings angelehnt ist die Darstellung des katholischen Fundamentaltheologen Peter Knauer über dessen "Wesen des christlichen Glaubens" (74- 83). Eine interessante Idee: derlei Darstellungen von Theologinnen und Theologen der jeweils anderen Konfession verfassen zu lassen, so dass ein Ertrag auch für die Selbstvergewisserung in der eigenen Konfession deutlich wird, wie dies im dritten Teil auch im lesenswerten Beitrag von Guido Verhauwen OP über Dietrich Bonhoeffer (207-221) geschieht: Wesensbestimmungen gibt es auch in interkonfessioneller Perspektive nur im Plural. Aus Ebelings Wesensbestimmung des Glaubens wird Knauer deutlich, "warum evangelische Theologie sich nicht damit zufrieden geben kann, die Rechtfertigungslehre als nur ein Kriterium unter anderen für das rechte Verständnis des Glaubens anzusehen. ... Man kann die Kirchlichkeit des Glaubens nicht gegen diese Lehre ausspielen." (81) Dem kann man nur beipflichten, aber es gilt gewiss auch vice versa.

Überwiegend kritisch würdigt Thomas Ruster den Aufbruch und die Gedankenwelt Romano Guardinis, indem er dessen Gedanken zum Wesen des Christentums in den Kontext von anderen oft nachgedruckten Veröffentlichungen stellt. Guardinis Darstellung der Person Jesu bleibe, so Ruster, auf Grund des polemisch gefärbten Spannungsverhältnisses zum zeitgenössischen Judentum, von dem Guardini einseitig Gestalt und Wirken Christi abhebe, defizitär: "Er verfehlt die angezielte Konkretheit über die Person Jesu, weil er sie aus ihren biblisch-konkreten Bezügen herauslöst" (111). Fraglich aber bleibt, ob die Deskription ihrem eigenen Desiderat entspricht, ob nämlich mit dieser gewiss nicht ohne Recht vorgetragenen Kritik hinwiederum der zeitgeschichtliche Ort Guardinis angemessen beachtet ist.

Gerade darum müht sich Richard Heinzmann, dessen Beitrag die selten behandelten Vorlesungen des Münchener Fundamentaltheologen Michael Schmaus über das "Wesen des Christentums" (114-122) aufgegriffen hat. Zunächst wird der historische Ort betrachtet, an dem sie gehalten wurden: das von Bomben zerstörte München im Wintersemester 1945/46. "Eine unheimliche Wüste der Zerstörung bildete den Rahmen dieser Vorlesung." (114) So gerät die gesamte Deduktion in ein angemessenes zeitgeschichtliches Licht. Gleichwohl wird Schmaus' Wesensbestimmung über den Rahmen dieser Vorlesungen hinaus bis in dessen Gesamtwerk verfolgt.

Das zweite Kapitel zur "Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses" (123-206) behandelt Entwürfe von Karl Barth (Christof Gestrich), Wolfhart Pannenberg (Kurt Koch), Hans Urs von Balthasar (Thomas Krenski), Eugen Biser (Erwin Möde), Joseph Ratzinger (Siegfried Wiedenhofer), Hans Küng (Leo Karrer) und Theodor Schneider (Bernd Jochen Hilberath). Auch in diesem Abschnitt ist der jeweils in den Beiträgen gewählte Zugang und das heuristische Interesse denkbar verschieden.

Christof Gestrichs Darstellung (123-140) orientiert sich eng an Karl Barths "Dogmatik im Grundriß" von 1947, die mit Hilfe von Passagen aus der "Kirchlichen Dogmatik" systematisierend paraphrasiert wird. Thomas Krenskis Beitrag über Hans Urs von Balthasar (148-163) nähert sich dessen 1996 postum veröffentlichten "Meditationen zum Apostolischen Glaubensbekenntnis", indem er sie als Spätfrucht eines eigenwilligen Gesamtwerkes ganz aus diesem entwickelt und plausibel werden lässt. Anregend lesen sich die Passagen über Balthasars Gespräch mit Dostojewski und kreativ wird die Inspiration behandelt, die Balthasar aus einem Epitaph Hans Holbeins d. J. von 1521 erwuchs. Ihr ist der Titel des Beitrags geschuldet: "Spekulativer Karsamstag" - Die radikale Entäußerung des Gekreuzigten und die nicht zu antizipierende "Überwindung des Todes ist das unlüftbare Geheimnis des Karsamstags, das die Westkirche im Verstummen jeder Liturgie ehrt" (152).

Das Miniaturporträt Erwin Mödes über Eugen Biser (164-173), Siegfried Wiedenhofers Darstellung über Joseph Ratzingers "Einführung in das Christentum" (1968) (174-185) und Leo Karrers Annäherung an Hans Küngs "Credo für Zeitgenossen" (186-195) suchen jeweils auf ihre Weise nach gegenwartsrelevanten Impulsen, die aus den dargestellten Entwürfen erwachsen. Dies liegt insbesondere beim Werk Hans Küngs nahe. Sein Spezifikum, so Karrer, sei es, auch Fragen aufzunehmen, die "im Alltag von den Menschen gestellt werden" (192). Es sei ein Gewinn, wenn durch "stete Ausweitung der Fragestellungen und Wahrnehmungen über den theologischen und kirchlichen Rahmen hinaus die Theologie weltläufig und wirklichkeitsbewußt wird und durch die Reibung mit der Realität an Lebendigkeit und Wärme nur gewinnen kann" (193). Dies sei sofort zugestanden, auch wenn mit derlei Zu- und Übereinstimmung der kognitiv-deskriptive Duktus der meisten übrigen Beiträge nicht ganz eingehalten wird. Wo Reibungswärme und Begegnungsfreude sich zu deskriptivem Charme gesellen, hat der Band Pointen und lässt zugleich Wesenswirkungen des Christlichen spüren.

Im dritten Teil zu den "Kurzformeln des Glaubens" (207-268) gibt auch Hedwig Meyer-Wilmes' Beitrag über "Dorothee Sölles Credo als Kurzformel des Glaubens" (222-234) eine kreative, zustimmende Annäherung, mit der der poetischen Sprachkraft der im April 2003 verstorbenen, zuletzt in Hamburg lebenden Theologin Raum gegeben wird. So sehr der biographische und zeitgenössische Kontext gerade dieses Werkes zu beachten ist, lassen sich Sölles Gedanken eben doch am besten aus ihren Texten selbst erspüren. Meyer-Wilmes zitiert zwei Gedichte, die Sölles Credo in ihrer provokanten Kraft deutlich werden lassen. Auch der Widerspruch, den sie etwa mit dem Politischen Nachtgebet in Köln erntete, wird in seinem inneren Recht untersucht, und so wird endlich auch die Perspektive einer dialogischen Auseinandersetzung profiliert, die in den anderen Beiträgen nur selten einmal aufgenommen wird.

Spürbar einfühlend gerät auch die Darstellung des Herausgebers über das "Christentum von Johann Baptist Metz" (246- 258): "Sieht man genauer hin, dann will die metzsche Theologie vor allem ein jüdisches Korrektiv gegen die gesamte Christentums- und Theologiegeschichte seit Markion sein" (247). Gerade aus dieser Antithese wird ihr spannungsreicher Ertrag deutlich, der gleichwohl kritisch befragt wird: "Läßt sich Theologie auf Theodizee, auf negative Theologie reduzieren, das Gebet auf den Aspekt der Klage, auf das nach Gott gerichtete Schreien inmitten von Unrecht, Leid und Elend, auf ein Gottvermissen im Karsamstag der Geschichte, auf eine Rückfrage nach Gott, die schließlich fast verstummt?" (254) Delgado geht vor dieser Frage dem ästhetisierten Ertrag der Metzschen Theologie nach, die in ihrer eigenwillig provokanten Pointierung ihr inneres Recht auch gegen systematisierende Kohärenzwünsche behauptet.

Verdienstvoll sind diese Darstellungen gewiss - für wen sind sie gedacht und wem zu empfehlen? Manches liest sich als Einführung in theologische Lebenswerke, die oft mehrere Jahrzehnte umspannen: Im Theologiestudium lassen sich solche Darstellungen gewiss verwenden, zumal die einschlägigen Titel für die weiterführende Lektüre im Abspann genannt sind. Interessant sind manche Beiträge aber auch für ein theologisch interessiertes Publikum und eine geneigte Pfarrerschaft - wann finden sich schon Muße und Zeit, die sich einem theologisch produktiven Werk in Gänze widmen ließen? Die Suche nach dem Wesen des Christentums bleibt anregend und die Wegstrecke zu seiner Bestimmung auch. Vielleicht hätte etwas stärkere methodische Stringenz im Aufbau der Artikel ihre Lesbarkeit erleichtert. So aber wird zugleich perspektivische Vielfalt in den gewählten Zugängen zum wesentlich Christlichen plural vermittelt - gewiss entspricht auch dies dem Gegenstand.