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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

294–296

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Kuhlemann, Frank-Michael, u. Hans-Walter Schmuhl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Beruf und Religion im 19. und 20. Jahrhundert.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 332 S. gr.8 = Konfession und Gesellschaft, 26. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-17-027621-8.

Rezensent:

Wolfgang Marhold

Als Beiträge zur Zeitgeschichte wollen die bislang 27 erschienenen Bände der Reihe Konfession und Gesellschaft überkommene Klischeevorstellungen aufbrechen und dem Christentum zur historischen Ortsbestimmung unter besonderer Berücksichtigung seiner gesellschaftlichen Beziehungen in der Zeitgeschichte verhelfen. Die beiden Herausgeber des vorliegenden Bandes sind Privatdozenten für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld und Gesellschafter des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Bethel, was das Übergewicht der evangelischen Seite und die durchaus plausible Einbeziehung eines großen Blockes III "Diakonie und Medizin" erklären mag. Insgesamt teilen sich die 16 Beiträge in vier thematische Bereiche: I. Verkündigung, II. Schule, Bildung undMusik, III. Diakonie und Medizin, IV. Öffentlichkeit und Politik.

Nicht zu Unrecht wird die Begegnung mit der modernen Welt, die Bewährung an ihren Problemen und die Versöhnung mit ihrem Geist als die große Herausforderung der Religionen und Konfessionen im 19. und 20. Jh. gesehen. Trotz oder gerade wegen der großen Konkurrenz auf dem Markt der Weltdeutungen mischen sie sich, zum Teil verzweifelt rückwärtsgewandt, zum Teil als konservative Hüter ihrer Wahrheiten, zum Teil jedoch in konstruktiver und innovativer Weise in die gesellschaftlich ablaufenden Prozesse ein - längst Teile der modernen Gesellschaft geworden. So kann die historische und (religions-) soziologische Feststellung, die jedoch die theologische Eigendeutung vieler Akteure nicht zu fassen vermag, nur unterschrieben werden: "Ob in Verkündigung oder im Religionsunterricht, in der Krankenpflege oder der Gesundheitsfürsorge, in der Wohlfahrtspflege oder im kollektiven Arbeitsrecht, schließlich auch auf dem modernen Markt der Meinungen - die Religionen und Konfessionen reihten sich in die Basisprozesse der Moderne ein: Bürokratisierung, Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung, Medizinalisierung, Pädagogisierung und Ökonomisierung wurden zu Leitlinien ihres Handelns." (9) Damit umreißen die Herausgeber den weit gespannten inhaltlichen Horizont des Buches. Viele bis dahin eher unspezifische Tätigkeiten wurden verberuflicht bzw. professionalisiert und zudem stark aufgefächert, so dass sie in die Lage versetzt wurden, das religiöse Milieu, systemtheoretisch formuliert: Segmente gesellschaftlicher Ausdifferenzierung von Religion, auf neue Weise zu prägen; zugleich wurden aber auch die beruflichen von den religiösen Identitäten bestimmt. Die konfessionsübergreifende Perspektive, die sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze der modernen Geschichtswissenschaft systematisch in Anschlag bringen soll, wird indes eher in der ausführlichen Einleitung als in den Einzelbeiträgen eingenommen, was dort auch kaum geleistet werden kann. Dabei bekommt der Professionalisierungsbegriff, der aber bei den vielen Autoren durchaus nicht einheitlich gebraucht wird, eine herausragende Rolle.

Krisensituationen im Modernisierungsprozess generieren neue Antworten. Dazu gehörten die Soziale Frage, die Frauenfrage, das mangelhafte Bildungssystem, die unzureichende medizinische Versorgung und die Gesundheitsfürsorge, die veraltete Verwaltungsorganisation u. a. Überall stellten sich brennende Fragen, und die Ausdiffernzierung der modernen Berufstätigkeit ist als eine wesentliche Reaktion darauf anzusehen. Damit einher ging eine stetige Anhebung der Bildungs- und Ausbildungsgänge und -institutionen, Qualifikationen, Einkommen und Autonomie bis hin zur berufsständigen Selbstverwaltung - die Kirchen und der Staat waren bei den hier untersuchten Berufen diejenigen Instanzen, die diese Entwicklung anerkennen bzw. fördern sollten -, was seinerseits wiederum das Sozialprestige wachsen ließ (oder wachsen lassen sollte). Besonders in den großen Kirchen kam es in diesem Prozess zu einer Rangordnung der Berufe, was natürlich theologisch mit dem Amtsbegriff, der Ordination bzw. Weihe zusammenhängt, die anderen kirchlichen Berufen verweigert wurde. Dies stärkte seinerseits die Emanzipationsbestrebungen z. B. des Lehrerberufs von der klerikalen Aufsicht und Widerstände gegen den geistlichen Herrschaftsanspruch der Pfarrer, wobei auch die Entkonfessionalisierung z. B. im diakonischen und karitativen Bereich, ihrerseits heftig angestoßen durch das Dritte Reich, befördert wurde. Es sei hervorgehoben, dass der geschlechtergeschichtlichen Perspektive, die nicht nur im Pfarrberuf, sondern ebenso bei Lehrerinnen, im Pflegebereich, bei Gemeindehelferinnen und neuen sozialen Frauenberufen zu berücksichtigen ist, eine wichtige Rolle eingeräumt wird. Hier sind besonders die Kategorien Öffentlichkeit/Privatheit und Beruf/Ehrenamt zu thematisieren.

Auf einzelne Beiträge einzugehen ist hier nicht der Ort. Unabhängig von mehr oder weniger guter Lesbarkeit und Detailfreude kann man feststellen, das man in allen Beiträgen ausführliche Quellen- und Literaturangaben findet, um bei Bedarf tiefer einsteigen zu können. Durchgängig ist die Berücksichtigung der sozialgeschichtlichen Umwelt mit ihren Problemen, auf die die Verberuflichung ja eine Antwort unter vielen war.

Andererseits muss kritisch festgehalten werden, dass die Detaillierung bisweilen in ein Klein-klein ausartet, zu Aufzählerei und Unübersichtlichkeit führt. Die untersuchten Zeiträume im 19. und 20. Jh. schwanken und reichen unterschiedlich nah an die Gegenwart heran - was sich aber möglicherweise mit der Eigenart des untersuchten Berufs rechtfertigen lässt. Dass nicht einheitlich von Professionalisierung und Verberuflichung gesprochen wird und der Fokus mal auf Ausbildungsstandards, mal auf Prestigegewinnung, mal auf Emanzipationsbestrebungen oder andere konfessionelle Eigenheiten gelegt wird, mag ebenfalls der Vielfalt der behandelten Sujets geschuldet sein. Dass das Buch mit einem Personenregister ausgestattet ist, macht es forschungstauglicher, nicht jedoch die Tatsache, dass Literaturangaben bei wiederholtem Vorkommen in einigen Artikeln nur mit Mühe wieder aufgefunden werden können. Auch trägt die kleine Schriftgröße nicht gerade zur Lesefreundlichkeit bei. Dennoch schließt das Buch einen hochinteressanten Bereich der jüngeren Zeitgeschichte auf und bietet Zeithistorikern, Soziologinnen und nicht zuletzt Theologen einen weiten Horizont und Verstehenshilfe für gegenwärtige Fragen ihrer jeweiligen Zunft.