Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2005

Spalte:

290–292

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Karl, Pilvousek, Josef, Tomka, Miklós, Wilke, Andrea, u. Andreas Wollbold

Titel/Untertitel:

Religion und Kirchen in Ost(Mittel) Europa: Deutschland-Ost. Hrsg. v. P. M. Zulehner, M. Tomka u. N. Tos in Zusammenarb. m. d. Pastoralen Forum Wien.

Verlag:

Ostfildern: Schwabenverlag 2003. 373 S. m. Abb. u. Tab. gr.8 = Gott nach dem Kommunismus. Kart. Euro 25,00. ISBN 3-7966-1090-0.

Rezensent:

Hubert Kirchner

Die etwas komplizierte Titelei macht es schon deutlich: Das Buch steht in größeren und wichtigen Zusammenhängen. Es ist Teil eines Forschungsprojektes, "das in zehn postkommunistischen Ländern mit einer gemeinsamen Fragestellung durchgeführt worden ist" mit dem Ziel, für die Entscheidungsträger in Politik und Kirchen Grundlagen zu erarbeiten "für die Frage, wie die christlichen Kirchen, die der Kommunismus ideologiegemäß gettoisiert hat, wieder eine angemessene gesellschaftliche Position gewinnen können und wie sie dazu die Sozialform der Sakristeikirche angemessen umbauen können" (13). Es handelt sich also nicht um eine DDR-Sonderstudie, "sondern um eine komparative ost(mittel)europäische Studie" (14). Sieben Bände, teils länderbezogen wie dieser, teils zu speziellen theologischen Sachverhalten, sind bereits erschienen. Ein weiterer soll noch folgen.

Damit ist ein spezifischer Ansatz gewonnen, der insofern noch eine Verstärkung erfährt, als es sich einerseits um die "allererste eigenständige und repräsentative religionssoziologische Studie im ostdeutschen Raum" handelt (ebd.) und andererseits, bei aller Konzentration auf die römisch-katholische Kirche, bei der repräsentativen Befragung natürlich das religiöse Gesamtfeld untersucht wird. Die Relevanz auch für die evangelische Kirche als der Mehrheitskirche im Untersuchungsgebiet liegt auf der Hand.

Die Studie bietet drei in sich geschlossene Teile: Der erste und umfangreichste Teil "Kirchliches Leben in der DDR und nach der Wende " (15-192) bietet mit insgesamt elf Einzelaufsätzen gewissermaßen ein Resümee von Entwicklung und Stand einzelner Bereiche katholischen kirchlichen Lebens: Rezeption des II. Vatikanums, Volksfrömmigkeit, Caritas, religiöse Unterweisung, Pfarrseelsorge, Finanzierung, Ökumene. Vorgeschaltet ist ein mehr grundsätzlicher Beitrag zur Frage "Widerstand und Konformismus" (J. Pilvousek). Es wird also ein ziemlich breites Spektrum entfaltet, durch die Fülle durchaus eindrucksvoll und instruktiv. Ein eigenes Literaturverzeichnis sowie zum Teil ausführliche Anmerkungen regen darüber hinaus zu Weiterem an. Leider ließ es sich nicht durchsetzen, jeweils mit relativ knappen Übersichtsbeiträgen gleichen Umfangs stets nur Hauptlinien auszuziehen und damit zueinander passende Bausteine für ein Gesamtbild zu gewinnen. Statt dessen wechseln jetzt ausführliche und substantielle Erarbeitungen mit kürzeren und weniger konzentrierten ab über Fragen, die man anderswo schon erhellender behandelt sah. Vollends kommt der Aspekt "... nach der Wende" oft ein wenig zu kurz. Die Chance, die Erfahrungen des ersten Jahrzehnts neuer Einheit auf dem Hintergrund der spezifischen Erfahrungen in der DDR zu reflektieren, hätte wohl mutiger genutzt werden können.

Der zweite Teil "Die Kirchen in der DDR vor und nach der Wende" (193-341) wertet dann die Ergebnisse der repräsentativen Befragung in den neuen Bundesländern aus, die im Herbst 1997 so wie in neun weiteren nachkommunistischen Ländern vorgenommen wurde, um mit Hilfe solcher religions- und kirchensoziologischer Untersuchung dazu beizutragen, "die Position der Kirchen während der kommunistischen Herrschaft zu erhellen und Möglichkeiten der Repositionierung auf dem Weg in demokratische Reformgesellschaften zu erkunden" (195). Nachdem eine Übersicht über die Ergebnisse und erste Auswertungen schon in einer früheren Veröffentlichung vorgestellt worden waren, konzentriert sich die jetzige Auswertung "auf die Ermittlung von Ursachen für die starke Entkirchlichung der Bevölkerung ..., auf die Ermittlung von in Kollektiven geteilten Weltbildern ... und auf die Selbst- bzw. Fremdbilder, die in diesen Kollektiven über Christen und die Kirchen vorliegen. Schließlich werden die Vorstellungen, die in den neuen Bundesländern über Religiosität vorherrschen, ermittelt" (195 f.). Auch dieser Teil wird eingeleitet von einem allgemeineren Beitrag "Verhältnis Kirche - Staat in der DDR", der sich weitgehend auf die evangelische Kirche bezieht und die besonderen Problemfelder aufweisen soll, deren Entwicklung und Ausbreitung jene zu untersuchenden Ergebnisse zeitigten, wobei vor allem auf die Auseinandersetzungen um die Jugendweihe hingewiesen wird.

Die Einzelergebnisse der Befragung werden in vielen Tabellen und Grafiken dargestellt. Das Bild, das damit von der Gesamtbevölkerung der DDR entsteht - auf Details muss hier verzichtet werden -, ist schon interessant, sicher im Großen und Ganzen erahnt oder durchaus bekannt, in solcher Aufschlüsselung aber gewiss erhellend. Sicher kann gefragt werden, ob der in allen zehn Ländern identische Fragebogen tatsächlich die für die DDR-Gesellschaft bzw. überhaupt die angemessenen Fragen stellte, z. B. was Glaubensinhalte angeht. Für ein derart einheitliches Vorgehen sind doch eigentlich die jeweiligen religiösen Prägungen, und das heißt: die Voraussetzungen, zu unterschiedlich. Manche Grafiken sind zudem für Nicht-Fachleute nur schwer durchschaubar, andere wieder durch weit ausholende allgemeine soziologische Erklärungen mit seitenlangen Zitaten aus der Fachliteratur über Gebühr befrachtet. Nichtsdestoweniger verdienen es die Ergebnisse und die daraus zu ziehenden Folgerungen, sehr ernst genommen zu werden, nicht zuletzt auch die Mutmaßungen über die Gründe, welche "den im Vergleich zu den meisten Ländern Ost(Mittel)Europas so radikalen Entkirchlichungsprozess im Osten Deutschlands möglich gemacht" haben (334), in die vor allem langfristige mentalitätsgeschichtliche Einflussprozesse einbezogen werden. Auch diesen Teil beschließt ein Literaturverzeichnis.

Teil 3 "Religion in den neuen Bundesländern - im internationalen Vergleich" (343-370) schließlich versucht ein letztes Resümee, nun im Vergleich der ostdeutschen Situation mit den Ergebnissen in den anderen Ländern. Näherhin geht es um die Frage: Ist in der DDR nicht tatsächlich eine atheistische Gesellschaft entstanden, in der eine umfassende Religionslosigkeit vorherrscht? Die Verfasser meinen, dieses Urteil bestätigen zu können. Doch auf die Frage nach den Ursachen gibt es keine eindeutige Antwort. Aufgezählt wird eine ganze Reihe unterschiedlicher Erklärungsansätze (der protestantische Charakter Ostdeutschlands, die Besonderheiten der Kirchenpolitik der SED, die wirtschaftliche Lage, Migrationsbewegungen, [Fehl-] Verhalten der Kirchen, Rückzug ins Private, das Fehlen einer Bindung zwischen Religion und nationaler Geschichte), die alle irgendwie zusammenwirkten und es ermöglichten, dass "Ostdeutschland in der Tat ein einmaliger Fall" wurde, "wo es einem System gelang, die kulturelle Kontinuität zu unterbrechen und anstelle der Selbstverständlichkeit einer christlichen Tradition eine nichtreligiöse Kultur zu implantieren" (368). Und dann die letzte Folgerung und gewissermaßen auch zusammenfassende Antwort auf die Ausgangsfrage: "Der Weg für eine Entscheidungsreligiosität blieb freilich offen. Es fragt sich nur, wie weit die ostdeutsche Gesellschaft und die Kirchen zu deren Wahrnehmung gerüstet sind" (ebd.).