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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

288–290

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Dähn, Horst, u. Joachim Heise [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Staat und Kirchen in der DDR. Zum Stand der zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2003. 272 S. 8 = Kontexte, 34. Kart. Euro 40,40. ISBN 3-631-39088-2.

Rezensent:

Friedemann Stengel

Der vorliegende Band ist anlässlich des 60. Geburtstags von Horst Dähn, dem Verfasser eines bereits 1982 erschienenen Standardwerks zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der DDR (Horst Dähn: Konfrontation oder Kooperation? Das Verhältnis von Staat und Kirche in der SBZ/DDR 1945-1980. Opladen 1982. 295 S.), und zum zehnjährigen Gründungsjubiläum des von ihm geleiteten Berliner Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung entstanden. Er vereint bilanzierende Rückblicke von Historikern, Politikwissenschaftlern, Soziologen und Theologen auf die bisher geleistete Forschungsarbeit zum angegebenen Thema.

Ralf Rytlewski wirft ausgehend von der Intention des Instituts einen Blick auf die konfessions- und Europa übergreifende vergleichende Perspektive, die zur Überwindung des "eigenen Religions- und Kirchenzentrismus" nötig ist (9). Es bedürfe allerdings noch der Erarbeitung von Typologien für die Durchführung eines komparatistischen Verfahrens.

Hermann Weber beleuchtet die Entwicklung der Forschung vor und nach 1989/90. Mit Blick auf die ganz unterschiedlichen Möglichkeiten des Archivzugangs in den neuen und alten Ländern fordert er eine parallele Öffnung der altbundesdeutschen Archive und weist zugleich auf die fatalen Folgen der nach dem Urteil zur Herausgabe der Kohl-Akten durch die Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR erheblich eingeschränkten Nutzbarkeit der von ihr verwalteten Akten hin, eine Warnung, die sich mittlerweile als begründet herausgestellt hat.

Horst Dähn fordert in seinem Beitrag über die westdeutsche historische und sozialwissenschaftliche Forschung zur DDR eine stärkere Verschränkung juristischer und theologischer Perspektiven (38). Die Öffnung der Archive nach 1989 habe aber keine "grundlegenden Revisionen" wissenschaftlicher Ergebnisse nötig gemacht (44).

Reinhard Henkys, langjähriger Vertrauensmann des Evangelischen Pressedienstes für die Belange der Kirchen in der DDR, schildert seine persönlichen Erfahrungen als Informationsmediator zwischen Ost und West.

Der stellvertretender Direktor des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung Joachim Heise, vor 1989 Mitarbeiter der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkommitee der SED, diagnostiziert versachlichende Ansätze bei der Analyse der Lage der Kirchen und der Kirchenpolitik seitens einiger Historiker aus der ehemaligen DDR, die eine "ehrliche und offene Diskussion" (60) innerhalb der SED-Spitze allerdings nicht erreichen konnten.

Die Forschungen zu den Kirchen in der DDR lassen sich nach der Beobachtung des Religionssoziologen Detlef Pollack in die Themenbereiche "Verhältnis von Staat und Kirche" und "Entkirchlichung und Säkularisierung in der DDR-Gesellschaft" einteilen (69). Neben einem biographieorientierten und einem begriffsgeschichtlichen Ansatz, der nach der Wirkung geprägter Traditionalismen wie der Zwei-Reiche-Lehre oder der Sozialismus-Rezeption fragt, macht er eine milieutheoretische und schließlich die von ihm selbst vertretene gesellschaftstheoretische Perspektive aus. Abgesehen von den moralisierenden und vorgefassten Werturteilen der Forschungen Gerhard Besiers, die den Diskurs in den 90er Jahren stark prägten, sei die Geschichte der Kirchen in der DDR insgesamt gut erforscht. Es bestehe aber neben dem schon genannten Desiderat einer Osteuropa übergreifenden Forschung und der Einbeziehung ökonomischer, theologischer, institutioneller, politischer und nationaler Bedingungen auch ein Bedarf an Kriterien, die zu einer nachvollziehbaren Beurteilung etwa politischen Verhaltens führen.

Gegen die Vermischung von zeitgeschichtlicher Analyse und moralischem Urteil wendet sich auch Friedrich Winter. Die Übertragung vorgefertigter historischer Schablonen wie eines verfallsgeschichtlichen Modells auf die kirchliche Zeitgeschichte sei der Angemessenheit von Forschungsergebnissen abträglich. Trotz abnehmenden Interesses an den ostdeutschen Kirchen plädiert er für eine Verbreiterung des Blickwinkels auf das kirchliche Leben. Auch Rudolf Mau macht darauf aufmerksam, dass es trotz zahlreicher Darstellungen und Fallstudien noch erheblichen Nachholbedarf hinsichtlich der Frage nach der Gestalt der Kirche "in concreto" gebe.

Einen Überblick über die wichtigsten Gesamtdarstellungen und Monographien sowie Dokumentationen gibt Anke Silomon. Nach den turbulenten, von "Polemik, Selbstverteidigung oder persönliche[n] Bedürfnisse[n] und politische[n] Implikationen" geprägten Auseinandersetzungen in den 90er Jahren habe sich die Forschungssituation weitgehend beruhigt (140).

Über die Aufarbeitung der Geschichte der römisch-katholischen Kirche und vier ausgewählter kleinerer Religionsgemeinschaften berichten Gerhard Lange und Bruce W. Hall. Während es die katholische Seite nicht nur bei der Aufarbeitung personeller Verstrickungen mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bewenden ließ, sondern darüber hinaus auch wissenschaftliche Forschungen beachtlichen Ausmaßes vorzuweisen hat, sind solche Bestrebungen bei den kleineren Religionsgemeinschaften, von den Zeugen Jehovas und den jüdischen Gemeinden abgesehen, offenbar wegen deren Randlage und der anhaltenden personellen Kontinuität kaum feststellbar.

Aus US-amerikanischer und aus Schweizer Perspektive berichten Robert F. Goeckel und Jürgen J. Seidel. Die Beschäftigung mit den Kirchen in der DDR sei angesichts der relativen Unkenntnis des Themas in beiden Ländern allerdings eher ein Randthema. Besonders in den USA kreisen die fast durchgängig auf Sekundärliteratur basierenden Forschungsergebnisse um die Apologie oder Widerlegung der These von der "Protestantischen Revolution" und die ethische Legitimation des Modells der "Kirche im Sozialismus". Das Interesse an den Kirchen in der DDR ist dabei besonders von der Nachwende-Sicht und den politisch-theologischen Konzepten der Autoren geprägt.

Auf die großen Unterschiede in der Öffentlichkeitsrepräsentanz und auch der Repression zwischen den vor allem orthodoxen Kirchen in Ost- und Südosteuropa und denen in der DDR macht schließlich Hans-Dieter Döpmann aufmerksam. Die auf Archivmaterial beruhende Beschäftigung mit der kirchlichen Zeitgeschichte vor der Wende bleibt hinter den aktuellen Herausforderungen weit zurück, die mit der Neugestaltung der Verhältnisse zwischen den Nationalstaaten und Nationalkirchen, dem Umgang mit neuen und alten Spaltungen und - sich auch antiwestlich gerierenden - antiökumenischen Tendenzen gegeben sind.

Der Band bietet einen großenteils instruktiven Überblick über die Geschichte der Zeitgeschichtsforschung zu den Kirchen der DDR. Es liegt natürlich auf der Hand, dass bei einem Umfang von 1000 Forschungsprojekten in den 90er Jahren (26) und 1995 bereits ca. 2500 vorliegenden Veröffentlichungen (141) eine erschöpfende Darstellung kaum möglich ist. An die notwendig schwerpunkt- und perspektivenorientierten Sichtungen des gewaltigen Materials und die konstruktiven Vorschläge zur weiteren Arbeit hätte sich am Ende allerdings noch ein Beitrag über die künftigen Forschungsperspektiven angesichts des Zeitabstands und des momentanen wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses anschließen können.