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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

284–287

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theobald, Michael

Titel/Untertitel:

Herrenworte im Johannesevangelium.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2002. XIV, 663 S. m. Tab. gr.8 = Herders Biblische Studien, 34. Geb. Euro 70,00. ISBN 3-451-27494-9.

Rezensent:

Jens Schröter

Ziel der umfangreichen Studie von Theobald ist es, anhand einer Untersuchung der Verarbeitung von Herrenworten im JohEv dessen Einordnung in die urchristliche Theologie- und Überlieferungsgeschichte zu präzisieren. Dabei steht vor allem die nach wie vor strittige Frage nach dem Verhältnis zu den Synoptikern bzw. zur von diesen verarbeiteten Überlieferung zur Diskussion. Es sei vorstellbar, so eine bereits auf S. 7 angedeutete These, dass Johannes von den Synoptikern zwar nicht literarisch abhängig sei, ihnen - zumindest partiell - gleichwohl überlieferungsgeschichtlich nahe stehe. Das zu den Synoptikern parallele Spruchgut könne ihm aus der eigenen Gemeindeüberlieferung bekannt geworden sein, müsse also nicht notwendig auf deren unmittelbare Kenntnis zurückgeführt werden. Die historischen Implikationen dieser These verfolgt T. nicht weiter, geht es ihm doch zunächst darum, den überlieferungsgeschichtlichen Befund zu erheben. Das geschieht in den vorgelegten Analysen mit hoher exegetischer Präzision und bemerkenswerter interpretatorischer Sorgfalt.

Das Buch setzt, nach einigen inhaltlichen Hinweisen im Vorwort, mit Teil A ein, der sich mit den so genannten Offenbarungsreden des JohEv befasst. Zu Grunde liegt die Prämisse, Jesus habe so, wie es das JohEv darstellt, selbst nicht gesprochen (so bereits im Vorwort). Um das Verhältnis des JohEv zur Jesusüberlieferung zu erheben, sei es deshalb notwendig, die Reden überlieferungsgeschichtlich zu untersuchen. Dabei steht weniger die Frage nach authentischen Jesusworten als vielmehr die Nachzeichnung von Überlieferungswegen und die Erhebung johanneischer Rezeptionsmerkmale im Zentrum des Interesses. Nach einem forschungsgeschichtlichen Überblick und einer methodisch wichtigen Unterscheidung von "Tradition" und "Überlieferung" wendet sich T. hierzu der Identifizierung so genannter "Kernworte" in den Rede- und Dialogkompositionen des JohEv zu. Auf diese Weise soll derjenige Umgang mit der Wortüberlieferung herausgearbeitet werden, der zu der dem johanneischen Jesus eigentümlichen Redeweise geführt habe.

Als Indizien identifiziert T. die bei Joh häufigen Wiederaufnahmen von Aussprüchen Jesu (etwa Joh 3,3 und 7 oder 12,32 und 34), das Nebeneinander von Herrenworten und Schriftzitaten sowie die exponierte Stellung der Herrenworte in den Reden. Dahinter zeige sich das Bewusstsein, dass die Worte einen zentralen Bestandteil der Jesusüberlieferung darstellen, was sich bis in die "Worttheologie" des JohEv hinein ausgewirkt habe.

Freilich muss bedacht werden, dass die Repetitionen im JohEv zumeist nicht überlieferungsgeschichtlich auszuwerten sind, sondern ein Merkmal johanneischen Stils darstellen. Auch dass der Terminus "Herrenworte", den T. für den Titel seines Buches gewählt hat, im JohEv nirgends begegnet, sollte zur Vorsicht mahnen. Gleichwohl leuchten die Kriterien der Mehrfachbezeugung und Kontextunabhängigkeit, die T. zur Identifizierung von Überlieferungsgut anführt, ein.

Die Teile B und C sind überlieferungskritischen Detailstudien gewidmet und nehmen den mit Abstand größten Raum des Buches ein. Zunächst werden Herrenworte auf synoptischer Basis untersucht, unterteilt in synoptische Parallelen und Metatexte zu synoptischen Überlieferungen. Zur ersten Kategorie z. B. rechnet T. das Wort vom Geborenwerden von oben bzw. aus Wasser und Geist in Joh 3,3.5 mit den Analogien in Mt 18,3/ Mk 10,15 par. Lk 18,17. T. entwickelt einen Stammbaum des Wortes, der von einem "Urlogion" ausgeht und die verschiedenen Varianten aus diesem herleitet (80). Untersucht werden sodann Spuren außerkanonischer Überlieferung, die möglicherweise auf das Logion eingewirkt hätten (Justin, Clemens Alex., Ps-Clemens, Hippolyt, ConstAp). T. sieht in dem Spruch aus Joh 3 eine Neuinterpretation von Jesu metaphorischer Redeweise vom erneuten Kind-Werden durch die johanneische Gemeinde, die dies in der Metapher von der Wiedergeburt ausgedrückt habe. Dabei hätte sowohl die jüdische Vorstellung der Neuschöpfung als einem eschatologischen, auf den Geist zurückzuführenden Ereignis eingewirkt, wie sie sich in Ez 36, 24-28 und Jub 1,23-25 findet, als auch die in hellenistischen Mysterienkulten begegnende Idee der Wiedergeburt. Letztere könnte, wie die Auslegung von Ex 24,16 durch Philo in Quaest in Ex II 46 nahe legt, bereits durch das hellenistische Judentum an das Urchristentum vermittelt worden sein. Es zeigt sich also, dass in der johanneischen Theologie eine Überlieferung aufgegriffen, zugleich jedoch auf kreative Weise neu interpretiert wird.

Auf analoge Weise wird der Spruch vom Bewahren des Lebens und der Nachfolge Jesu (Joh 12,25 f.) untersucht. Auch hier sei keine unmittelbare Abhängigkeit des JohEv von den Synoptikern festzustellen, vielmehr sei das Spruchpaar hinter Mk 8,34 f./Q 14,27; 17,33; Joh 12,25 f. der überlieferungsgeschichtliche Ausgangspunkt der verschiedenen in den Evangelien begegnenden Rezeptionen (vgl. das Schema S. 113). Als charakteristisch für Joh 12,24-26 erweist sich die Zusage ewigen Lebens angesichts des Todes, die in der Verbindung des alten Spruchpaares mit dem Wort über das sterbende Weizenkorn zum Ausdruck kommt.

Als weiteres Beispiel sei T.s Analyse von Joh 13,16.20 erwähnt. Beide Logien besitzen wiederum Parallelen bei den Synoptikern: Joh 13,16 in Mt 10,24/Lk 6,40; Joh 13,20 in Mt 10,40/Lk 10,16 sowie in Mk 9,37/Mt 18,5/Lk 9,48. Wie ist der Befund zu erklären? T. zufolge bildeten beide Worte auf der vorjohanneischen Ebene ein Spruchpaar, das dann in die Fußwaschungserzählung eingearbeitet wurde. Dagegen sei eine Kenntnis des MtEv für Joh nicht zu erweisen. Vielmehr sei damit zu rechnen, dass Q 6,39 f. (blinde Blindenführer/Schüler und Lehrer) ein Spruchpaar darstellte, das auf dem Weg über Q 6 in Mt und Lk rezipiert worden sei. Wir hätten es also mit zwei Überlieferungswegen, einem synoptischen und einem johanneischen, zu tun, die jeweils eigenständig auf mündlich vermittelter Jesusüberlieferung beruhen. Ebenso sei der zweite Spruch in Joh 13,20 nicht über die Synoptiker vermittelt, sondern aus mündlicher Überlieferung aufgegriffen worden. Die Wiederaufnahme des Logions in Joh 15,20 f. könnte allerdings Kenntnis der matthäischen Aussendungsrede auf Seiten des Redaktors als eines späteren Überarbeiters des JohEv verraten. Im Blick auf die historische Rückfrage führen die Analysen zu dem Schluss, dass hinter Joh 3,3/5; 13,16.20 und 14,13 f. authentische Jesusworte stehen könnten.

In Kapitel 4 untersucht T. "Herrenworte", die die Funktion deutender Metatexte übernehmen. Hierzu zählen Joh 3,14 f. (die eherne Schlange), Joh 12,28a (die Bitte um Verherrlichung des Gottesnamens) und Joh 21,22 f. (das Wort vom Bleiben des Petrus bis zu Wiederkunft Jesu). Der Befund unterscheidet sich von demjenigen des vorangegangenen Kapitels, insofern synoptische Überlieferungen bei Joh Vertiefung und Explikation (Joh 3,14 f. im Verhältnis zu Mk 8,31), Überbietung (Joh 21,22 im Verhältnis zu Mk 9,1) oder kritische Transformation (Joh 12, 28a im Verhältnis zur Vaterunser-Eröffnung) erfahren. Insgesamt führt der Teil zu dem Ergebnis, dass sich bei Joh eine Wortüberlieferung mit einem unverwechselbar eigenen Charakter erkennen lasse, die jedoch nicht auf eine "Exterritorialität" des johanneischen Kreises weise, sondern auf einen eigenen Selektions- und Interpretationsprozess urchristlicher Spruchüberlieferung.

Teil C untersucht dem JohEv eigene Herrenworte in vier Kapiteln: die "Ich-bin"-Bildworte, Gleichnisse und weitere Bildworte, Weisheitsworte sowie Verheißungs- und Trostworte. Die Ich-bin-Worte werden als Ausdruck johanneischer Hoheits- und Gesandtenchristologie interpretiert, die sich zwar in den Bahnen synoptischer Jesusüberlieferung bewegt, ohne dass sich jedoch konkrete Haftpunkte in Form von Logien oder Erzählungen ausmachen ließen. Die Beziehungen sind hier also deutlich lockerer als im ersten Bereich. So lässt sich etwa zu Joh 8,12 (Jesus als Licht der Welt) zwar das Nachfolge-Motiv als Verbindung zum synoptischen Bereich ausmachen, nicht aber ein konkreter Spruch. Ähnlich stellt sich der Befund in den anderen Kapiteln dar: Bei Joh wird zwar auf intensive Weise Gebrauch von metaphorischer Rede gemacht, der Bezug zum Gottesreich fehlt dabei jedoch. Es sei damit zu rechnen, dass der Verfasser des JohEv zum Teil auf Überlieferungen der johanneischen Gemeinde zurückgegriffen, zum Teil selbst Bildworte und Gleichnisse gebildet hat. Zur Deutung der Person Jesu bediente er sich dabei in vielfältiger Weise jüdischer und paganer Traditionen. Es eröffnet sich somit ein weiterer Bereich johanneischen Denkens, der sich vor allem durch seine Kreativität und Freiheit gegenüber der sonstigen urchristlichen Jesusüberlieferung auszeichnet.

Teil D, "Die johanneische Entwicklungslinie", fügt die bislang gewonnenen Ergebnisse zusammen und konfrontiert sie mit der These einer Linie von altem Spruchgut über Dialog- und Redekompositionen zu gnostischen (EvThom, Dial, EpJac) bzw. antignostischen (JohEv) Interpretationen, wie sie von Helmut Koester entwickelt wurde. Positiv nimmt T. Koesters These von altem Spruchgut als Ausgangspunkt der johanneischen Redekompositionen auf, kritisiert allerdings dessen unzureichende Differenzierung zwischen Traditionen und konkret identifizierbaren Überlieferungen, die Behauptung einer gnostischen Prägung des von Joh rezipierten Spruchgutes sowie, daraus folgend, die Annahme einer antignostischen Intention der johanneischen Rezeption der Spruchüberlieferung.

Der letzte Teil beschreibt die Rezeption der Herrenworte im JohEv unter formalen, theologischen und hermeneutischen Gesichtspunkten. Formal sei die "Dialogisierung" des Spruchgutes das für Joh zentrale Merkmal, das zu fünf Dialogtypen geführt habe (vgl. das Schema S. 566). Die Interpretation der Herrenworte lasse sich christologisch anhand der Darstellung Jesu als Weisheit Gottes und als Menschensohn, theologisch durch die hohe Christologie, bei der die Theozentrik gleichwohl gewahrt bleibe, eschatologisch durch die Betonung der Gegenwart des ewigen Lebens erfassen. Die hermeneutische Perspektive wird schließlich am Begriff der "Erinnerung" orientiert, die sich gerade für den kreativen johanneischen Umgang mit den Herrenworten als produktiv erweise.

T. hat eine wichtige Untersuchung zur Einordnung des JohEv in die urchristliche Überlieferungsgeschichte vorgelegt. Die intensiven, materialreichen Detailstudien zu zahlreichen Texten des JohEv sind überaus ertragreich und zumeist überzeugend. Für die aktuelle Diskussion um das Verhältnis des JohEv zu den Synoptikern, wie um dessen überlieferungs- und theologiegeschichtlichen Standort überhaupt, stellt das Buch einen Markstein dar, an dem Einordnungen des JohEv in die urchristliche Literatur künftig zu messen sein werden.