Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

649–651

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nembach, Ulrich

Titel/Untertitel:

Predigen heute - ein Handbuch.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1996. 258 S. gr.8. Kart. DM 34,-. ISBN 3-17-014011-6.

Rezensent:

Jan Hermelink

Es ist wieder einmal die Krise der Predigt, ja "die Krise der Kirche" (132), mit der eine Predigtlehre ihren innovativen Anspruch begründet: "Die Homiletik ... ist herausgefordert, wenn Kirchen leerer werden und gleichzeitig eine große Nachfrage generell nach Religion und oft auch nach der Bibel besteht. Die zu gebenden Antworten können sich ... nicht auf Korrekturen beschränken. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig" (11). Das Szenario, das der Göttinger Predigtlehrer Ulrich Nembach in diesen ersten Sätzen formuliert, zieht sich leitmotivisch durch sein Buch: "Jeden Sonntag bleiben in unseren Kirchen zahlreiche Plätze leer" (202; vgl. 39.43.66.98.130 f. 137. 198 u. ö). Mögliche Gründe nennt N. eher en passant: die kirchenrechtliche Isolierung wie die theologische Überhöhung des Predigtamtes (36 ff.) oder die religiöse Pluralisierung der Hörerschaft (135 ff.). Vor allem aber resultiere die Krise daraus, daß Predigt, kognitiv und lehrhaft verengt, lediglich als "Mitteilung" verstanden werde, die sich - so liest N. Schleiermacher - auf die ",Bewußtseinszustände’ des christlichen Glaubens" beziehe (65), ohne die aktuellen "Fragen des menschlichen Miteinanders" zu beantworten (11).

Demgegenüber definiert N. die Predigt als "Teilen des biblischen Textes mit den Hörern in deren Leid und Freud durch die Prediger" (137). Sie geht dadurch über ein kognitives, sich tendenziell ihres Gegenstandes bemächtigendes "Verstehen" hinaus (vgl. 174 f.), daß sie die existentiellen Situationen von "Leid und Freud" bei den Hörern, in den Texten und nicht zuletzt bei den Predigern selbst in den Blick nimmt. Auf diese Weise, durch ein vielschichtiges "Geschehen des Teil-Gebens und -Nehmens" (13), soll eine neue "Predigtgemeinschaft der Hörer und Predger" entstehen (135 ff.), die weiter reicht als inhaltliche oder emotionale Übereinstimmung. Dieses auf Überbietung zielende homiletische Paradigma entfaltet N. in drei Teilen.

Einführend sollen "Leid und Freud in der Predigt" angesprochen werden, und zwar anhand eines Grabspruchs von 1904, der Schmerz und Klage einer Witwe angesichts ihres früh verstorbenen Mannes artikuliert, sowie zweier Predigten des Verfassers, die auf diese spezifische Leidenssituation freilich nicht mehr eingehen. Sowohl die ausführlichen Vorarbeiten zur ersten Predigt als auch die Predigten selbst artikulieren "Leid und Freud" weniger in der Situation der Hörenden als angesichts der Schwierigkeit, den vorgegebenen Text zu verstehen.

Der zweite, ausführlichste Teil des Buches (35-134) will unter dem Titel "Leid und Freud mit der Predigt" einführen in die homiletische Problemlage. Zunächst wird Schleiermachers Homiletik, vor allem anhand der Reden "Über die Religion", gewürdigt als Versuch einer hermeneutischen "Bewältigung" der zeitgenössischen politischen wie geistesgeschichtlichen Situation, für die Gegenwart jedoch als unzureichend verworfen (44-70). Daran schließt sich eine knappe Skizze der Geschichte der Homiletik im 20. Jh. an sowie Übersichten über Gegenwartsprobleme und attributive "Teillösungen" (100-115: "biblisch predigen", "mit Bildern predigen" "dialogisch predigen" etc.), die freilich wenig mehr bieten als knapp kommentierte und zudem recht unvollständige Zusammenstellungen einschlägiger Literatur. Den Schluß bildet eine schlichte Liste umfassenderer Predigtdefinitionen, von Paulus bis Wilhelm Gräb (1988), auf deren inhaltliche Würdigung oder Auswertung N. weitgehend verzichtet.

Der dritte Abschnitt (135-210) entfaltet seine eigene Problemlösung. Zunächst wird die mögliche "Predigtgemeinschaft der Hörer und Prediger" im Wechselverhältnis von Sprechen und Hören skizziert - hier kommen K.-W. Dahms Modelle des selektiven Hörens zu Ehren (148 ff.) sowie Aspekte von Luthers Predigtverständnis (153 ff.; vgl. auch 124 f.178 ff. u. ö.). Sodann stellt N. verschiedene, nur lose zusammenhängende Überlegungen zum "Teilen des Textes" zwischen "Exegese" und "Systematik" an; auch hier spielen neuere Ansätze, etwa die in G. Theißens Homiletik (1994) entfaltete rezeptionsästhetische Hermeneutik, keine Rolle. Besonderes Gewicht legt N. auf die Form der Erzählung, die gegenüber der vorherrschend dogmatisch-lehrhaften Predigtweise zurückzugewinnen, freilich auch zu differenzieren sei (181-206).

Die Lektüre hinterläßt insgesamt und im Einzelnen einen verwirrenden Eindruck. N.s These, daß Predigt mehr sein müsse als eine auf Verstehen zielende Mitteilung von Informationen, läßt ihn auch in der homiletischen Theorie eher auf Assoziation als auf Argumentation vertrauen. Die mannigfachen Verbindungen, die im Interesse möglichst vielschichtigen "Teilens" hergestellt werden, zwischen Predigterfahrung und -lehre, zwischen konkreten, nur knapp genannten Situationen und grundsätzlichen Erwägungen, diese Konnexe erscheinen häufig unvermittelt und zufällig. Immer wieder führt N. zweifellos interessante Themen ein, etwa die Massenmedien (94 ff.160 f.), die Postmoderne (Anm. 120), den Tourismus (136), kommt jedoch über knappe Skizzen kaum hinaus.

Zu den originellen Thesen N.s gehört der Versuch, die erhöhte Kanzel als Resultat des durchgehenden Wunsches der Laien nach Sicht- und Hör-"Gemeinschaft" mit dem Prediger zu deuten und gerade nicht als Ausdruck seiner Trennung von der Gemeinde (vgl. 143 und den Anhang 226-241).

N. begründet sein aphoristisches Vorgehen eingangs mit der Absicht, die Lesenden unmittelbar in die Entwicklung der Predigttheorie einzubeziehen: "Sie sind nicht mehr nur Rezipienten vorgegebener Lösungen, sondern können sich selbst zu diesen vorarbeiten" (13). In diesem Bemühen kommt man sich allerdings nicht selten vor wie in einem homiletischen Labyrinth: Der Weg zu den "Lösungen" verliert sich in verschlungenen Einzelheiten oder endet mit plötzlichen Argumentationsabbrüchen (vgl. 24.70 ff.200 ff.). Zwar eröffnen sich bei der Lektüre überraschende Ausblicke (vgl. Anm. 5.20.34.215.220 u.a.); die immer neuen Systematisierungsanläufe überlagern sich jedoch vor allem im zweiten Teil derartig, daß mehrmals die gleichen, kaum variierten Themen begegnen (z. B. die Person des Predigers: 87 f.100 ff. 109 f.; oder die Predigthilfen: 76 ff. 115 ff.166 f.). Andere homiletische Fragen fehlen dagegen ganz, etwa der dogmatische Begriff der Predigt, ihr Verhältnis zum Gottesdienst oder die Reflexion homiletischer Kompetenzen und ihrer Aneignung.

Bedauerlich ist eine gewisse formale Nachlässigkeit, die in zahlreichen Setzfehlern (z. B. 24, Z. 3 ff.; 101, Z. 2; 142, Anm. 354; 256, Z. 13 f.) sowie in einigen falschen Angaben (z. B. 116: die EPM sind längst eingestellt; 162, Anm. 427; 258: Y. Spiegel statt H. Albrecht) zum Ausdruck kommt. Bei einem "Handbuch" hätte man sich zudem Sach- und Personenregister gewünscht. - Daß der "kompendiumartige Überblick" (14), den der Untertitel "Handbuch" ebenfalls verheißt, nicht recht zustande kommt, das liegt allerdings nicht zuletzt daran, daß N. die argumentative Explikation seiner Leitbegriffe, ihre inhaltliche Entfaltung oder kategoriale Präzisierung geradezu programmatisch verweigert. Abgesehen von dem gelegentlichen Rekurs auf den eingangs genannten Grabspruch verläßt sich N. auch hier ganz auf die Arbeit der Rezipienten: "Der Vorgang des Auslegens ist Theologen wohl vertraut von ihrem Umgang mit biblischen und anderen Texten. Darum braucht die Auslegung von Leid und Freud nicht besonders untersucht zu werden" (163).

N.s Homiletik der Krise stellt die Leser/innen damit vor alte und gewiß auch vor einige neue homiletische Fragestellungen. Zu deren Beantwortung vermag sie freilich einen "paradigmatisch" innovativen Beitrag nicht zu liefern.