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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

276–280

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Niederwimmer, Kurt

Titel/Untertitel:

Theologie des Neuen Testaments. Ein Grundriß.

Verlag:

Wien: Evangelischer Presseverband 2003. IV, 509 S. 4. Kart. Euro 29,80 (A). ISBN 3-85073-013-1.

Rezensent:

Stefan Alkier

Niederwimmers Theologie des Neuen Testaments versteht sich als eine "neutestamentliche Dogmengeschichte" (367), die entwicklungsgeschichtlich den Weg von der "Konstitution" des christlichen Glaubens (17) über dessen "Explikation" in den Briefen des Paulus, den johanneischen Schriften und im Hebräerbrief (172) hin zu seiner "Stabilisation" in der "Ausbildung der Grosskirche" (366) aufzeigen möchte. Jede Phase wird in einem "Buch" verhandelt. Dem Gesamtkonzept liegt das identitätsontologische Konstruktionsprinzip der substanzhaften Identität zwischen den durch die Verkündigung Jesu und den Osterereignissen gesetzten Anfängen (Plural!) und dem Ziel der Entwicklung, der römisch-katholischen Kirche, zu Grunde.

Den drei Büchern sind auf den Seiten 8 bis 16 Prolegomena vorangestellt, die "(mit geringen Veränderungen) bereits in der Erich Heintel-Festschrift, Philosophia perennis II [...], 1993, 308ff = Quest. Theol. 226ff erschienen" (Vorwort) waren.

Darin benennt N. als Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments, "eine systematisch geordnete Gesamtdarstellung der Lehraussagen des Neuen Testaments zu bieten" (8). Er hebt die Vielfältigkeit der neutestamentlichen Schriften hervor und weist auch auf "Differenzen im Reflexionsstand der verschiedenen neutestamentlichen Texte" (11) hin, die jedem "Biblizismus" (10) Hohn sprechen und ein gut kalkuliertes Maß an Konstruktivität bei der Abfassung einer Theologie des Neuen Testaments erforderlich machen: "Die Einheit in der Vielfalt sprachlicher Vermittlung wird erst von uns aufzuweisen sein. Sie zu erkennen, ist ein Produkt der Anstrengung der interpretierenden Vernunft" (10, kursiv i. O.). "Es kann also bei einer Theologie des Neuen Testaments nicht darum gehen, einfach die Positivität des Überlieferten wiederzugeben ..., sondern es muß darum gehen, das Ganze als einen historisch bedingten Verstehens-Prozeß zu erkennen, den wir selbst von unserem eigenen Vermittlungsstand her zu begreifen haben. Oder anders ausgedrückt: Die Theologie des Neuen Testaments hat nicht lediglich deskriptiv, sondern konstruktiv vorzugehen." (13) Dieses Programm setzt N. konsequent um. Er stellt die Entwicklung von seiner eigenen katholisierenden Glaubensüberzeugung aus dar und konstruiert eine einheitliche, bruchlose Entwicklungslinie von Jesus zur römisch-katholischen Kirche.

Für die Gesamtanlage seiner Theologie des Neuen Testaments ist sein Theologiebegriff von entscheidender Bedeutung. Er kritisiert die Rede "von einer Theologie Jesu oder einer Theologie der Apokalypse usw." als "Ungenauigkeit" (13) und fordert, "zwischen Theologie im weiteren und Theologie im engeren Sinn zu unterscheiden. Theologie im engeren und eigentlichen Sinn liegt m. E. nur dort vor, wo klare und distinkte Begriffe gebildet werden und wo (sei es auch nur im Ansatz) die Aussagen des Glaubens in einen explizit gedanklichen Zusammenhang gebracht werden, d. h. also dort, wo ein Systemansatz vorliegt." (13) In diesem Sinne bieten nach N. nur Paulus, Johannes und der Hebräerbrief Theologie. Das hat zur Folge, dass im ersten Kapitel die synoptischen Evangelien als Steinbrüche benutzt werden für N.s Konstruktion insbesondere der "Verkündigung Jesu" (18) sowie der Osterereignisse und ihrer christologischen Folgen. Eine Theologie der Synoptiker hingegen findet man konsequenterweise nicht. N. teilt die Bultmannsche Ignoranz von Theologien in Erzählform - allerdings mit dem forschungsgeschichtlichen Unterschied, dass in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Arbeit in die Narratologie biblischer Literatur investiert wurde, wovon N.s Konzept und auch dessen Literaturliste beredt schweigt. - Schließlich wendet sich N. noch gegen die Suche eines "Kanons im Kanon" (15). Als Alternative schlägt er die Annahme einer "Sinn-Einheit" der neutestamentlichen Schriften vor, die er in drei "Mysterien" gegeben sieht: "das Mysterium der Incarnation, das Mysterium der Trinität und das Geheimnis der Präsenz des Heiligen Geistes, also das Mysterium der Kirche" (16, kursiv i. O.).

Aus diesem Konzept ergibt sich dann auch stringent der Aufbau der drei Bücher seiner Theologie des Neuen Testaments. Das erste Buch widmet sich der dreifachen Begründung des christlichen Glaubens, den er als "menschliche Antwort auf die Offenbarung des Seins-Geheimnisses in Jesus von Nazareth" versteht: "Der Glaube ist ... auf eine dreifache Weise begründet worden: durch das Wirken des irdischen Jesus ..., durch das Pascha-Geschehen (Passion und Auferstehung) und schließlich durch die Erfahrung des Heiligen Geistes" (17). Das zweite Buch stellt die Theologie des Paulus, die des Johannes und die des Hebräerbriefes als reflektierte systematische und begriffliche Explikation der dreifachen Begründung des christlichen Glaubens dar. Das dritte Buch ist der "Ausbildung der Großkirche" gewidmet, die er als "Stabilisation" (366) der dreifachen Begründung des christlichen Glaubens und seiner Explikation und als eigentliches "Ziel der Entwicklung" (15) begreift.

Das erste Buch umfasst drei Kapitel: 1. "Die Verkündigung Jesu", 2. "Ostererfahrung und Christuskult", 3. "Die Erfahrung des Geistes". Zum historischen "Kern der Überlieferung" der Verkündigung Jesu rechnet N. "Die Proklamation der Gottesherrschaft", die "Proklamation des göttlichen Rechts" und den "Konflikt mit bestimmten (in erster Linie vermutlich priesterlichen) Gruppen in Israel" (19).

N. bemüht sich, "Jesus nicht von jüdischen Traditionen aus zu begreifen" (vgl. 20.37), sondern in ihm einen absoluten Ursprung zu sehen. "Jesus war auch mit der pharisäischen Chabura nicht verbunden." (23) Lediglich den Zusammenhang mit Johannes dem Täufer kann er einräumen: "Johannes steht an der Grenze. Mit Jesus beginnt das Neue Sein" (27). Dass N. die internationale Jesusforschung der letzten 30 Jahre kaum für seine Konstruktion der Verkündigung Jesu nutzbar gemacht hat, führt zu einem problematischen Kontrastmodell, das der exegetischen Vergangenheit angehören sollte: "Hier enthüllt sich ein (in bestimmter Hinsicht) neues Bild von Gott und ein neues Bild vom Menschen. Ein neues Bild von Gott, der nicht nach dem Maßstab der messenden Gerechtigkeit misst, sondern der die Person liebt; und ein neues Bild vom Menschen, der sich nicht mehr durch die Erfüllungen von Normen vor Gott zu sichern sucht, sondern sich ihm unbedingt (eschatologisch!) ausliefert" (53). Die neuere Jesusforschung hat demgegenüber Jesus gerade unhintergehbar aus seiner jüdischen Tradition heraus zu verstehen gelehrt. N.s Kontrasttheologie scheut sich schließlich nicht davor, das Judentum zur Zeit Jesu zu diffamieren, deren Autoritäten er als Hüter "einer sich selbst missverstehenden Tradition" (55) verunglimpft und sie für den Tod Jesu verantwortlich macht: "Jesus ist das Opfer eines falsch verstandenen Rechts geworden, das Opfer verblendeter und in sich verstrickter Autoritäten, die den Einbruch des Unbedingten nicht ertragen haben." (56)

Im zweiten Kapitel des ersten Buches tritt N. vehement dafür ein, "dass Jesus wirklich und wahrhaftig auferstanden ist", ohne zu erörtern, was er mit "wirklich" und "wahrhaftig" eigentlich meint (68). Ferner verhandelt er die "Entwicklung des Christuskults" anhand der "Hoheitstitel Jesu" (71). Den Titel Kyrios sieht er dabei als das Bindeglied aller "Gruppen der frühen Christenheit" (109). Jesu Tod versteht er als "Opfertod", dessen Zweck die "stellvertretende Sühne ist" (121). Die Soteriologie begreift N. im Horizont der Apokalyptik. Jesus erscheint dabei "als apokalyptischer Richter und Retter" (124). Anteil am Erlösungswerk erhält man N. zufolge durch die Sakramente, primär durch die Taufe, aber auch durch die Eucharistie (141). Es ist schließlich eine Systemnotwendigkeit seines Ansatzes, dass N. aber nicht nur diese beiden Sakramente im Neuen Testament begründet sieht, sondern alle sieben Sakramente der katholischen Dogmatik (141.169 ff.). Das dritte Kapitel des zweiten Buches widmet sich der "Erfahrung des Geistes", die N. primär in der Schaffung der Kirche (147) gegeben sieht.

Im zweiten Buch stellt er sein Verständnis der Theologien des Paulus, des Johannes und des Hebräerbriefes dar, die er harmonisierend als Entfaltung derselben "Mitte (das neue Sein)" (173) begreift. Dabei polemisiert er heftig gegen die protestantische Theologie der Rechtfertigung (217.229.241) und setzt als zentrales "Thema der paulinischen Theologie" dagegen: "Die Frage des Gesetzes und was mit ihr zusammenhängt, als die Frage der eschatologischen Erneuerung der sittlichen Existenz" (184). Mit der These einer ontischen (sic!) Verwandlung der Glaubenden wendet er sich entschieden gegen Luthers "simul iustus et peccator" (217): "Gottes Rechtsspruch macht den Menschen ontisch gerecht. War er vorher ein Sünder, so ist er es jetzt nicht mehr (! Röm 5,8f)" (229, kursiv i. O.). Wie schon bezüglich der Jesusdarstellung ist auch hier zu vermerken, dass N. die internationale Paulusexegese kaum bzw. nur höchst eklektisch verarbeitet hat. Insgesamt fällt auf, dass der überwiegende Teil der exegetischen Literatur, die er in seine Theologie des Neuen Testaments eingearbeitet hat, aus den 60er Jahren des 20. Jh.s stammt. Nur weniges aus den letzten 20 Jahren hat N. für wert erachtet, in seine Überlegungen einfließen zu lassen. Insgesamt gerät Paulus in der Darstellung N.s zu einem Protagonisten des Frühkatholizismus (256).

Letzteres gilt freilich ebenso für Johannes und den Hebräerbrief. Das Johannesevangelium wertet er seinem Ansatz gemäß katholisch-dogmatisch aus. Mit Blick auf die Trinitätstheologie findet es N.s höchste Wertschätzung: "In der Rede von Jesus als dem gottgleichen Offenbarer des Vaters formuliert das Johannesevangelium implizite Trinitätslehre, die die kirchliche Tradition hernach zu explizieren hat ... An keiner Stelle rührt die Offenbarung mehr an das Geheimnis als ... in 1,14 (Inkarnation) und ... in Stellen wie 10,30, 12,44f; 14,8f (implizite Trinität). Hier stehen wir vor dem Herzen christlichen Glaubens, vor der Mitte der neutestamentlichen Botschaft, vor dem Kanon im Kanon" (288, kursiv i. O.).

Hohe Wertschätzung findet auch der Hebräerbrief, als dessen "geistige Heimat" er "das gebildete hellenistische Judentum alexandrinischen Typs" (333) ansieht. "Die gnostisierende Deutung des Hebr ist ein Missverständnis" (337). Die Grundlage des Hebräerbriefs sieht N. "in einem fest formulierten Bekenntnis", "auf das er sich mehrfach bezieht und das er bei seinen Lesern voraussetzt (3,1; 4,14; 10,23; vgl. 13,7ff). Neben dem Bekenntnis steht als zweite Norm die Hl. Schrift, die griechische Bibel Alexandriens, die Septuaginta." (334) Dem Hebr bescheinigt N. das höchste Maß an einem "System-Ansatz", den er als "Theologie in der Form von Schriftdeutung" (339) charakterisiert. "Die Theologie des Hebr lässt sich demgemäß in drei Schritten entfalten: die Lehre von Urbild und Abbild ...; die Lehre vom Priestertum Christi ...; der Glaube als Exodus aus der Welt" (340).

Wie sehr die römisch-katholische Ekklesiologie N.s Theologie des Neuen Testaments als Konstruktion der "neutestamentlichen Dogmengeschichte" (367) dominiert, wird vollends im dritten Buch klar, das die "Ausbildung der Grosskirche" als normative und alleingültige "Stabilisation" der Entwicklung des Christentums darstellt. Der zentrale Konstruktionsbegriff des dritten Buches ist der von der Forschung längst zu Recht als konfessionalistisch ausrangierte Begriff des Frühkatholizismus. N. geht so weit, dass er seinen Frühkatholizismus mit Ostern beginnen lässt (369). Kernstück dieses Buches ist die römisch-katholische Ämterlehre, die er als notwendige und hinreichende theologische Explikation neutestamentlicher Schriften begreift. Dabei gerät sein katholisierendes Traditionsverständnis zum Auswahl- und Wahrheitskriterium neutestamentlicher Textstellen. Das "weitreichende, gesamtkirchliche Petrusamt" stellt er als "sakrale Setzung seitens des Kyrios" (388, kursiv i. O.) dar. Die Schriften des Ignatius, die die Lehre vom ordo triplex für N. normativ abschließen, haben in N.s neutestamentlicher Dogmengeschichte mehr Autorität als die kanonischen Schriften (400 f.): "Will man sich in der Amtsfrage am Neuen Testament orientieren, so kann man sich vernünftigerweise nicht an den rudimentären Vorformen orientieren", die N. zufolge die neutestamentlichen Schriften als eine geringere Reflexionsstufe der Dogmengeschichte aufweisen, "sondern nur am Ziel der Entwicklung" (401) bei Ignatius. N. sprengt durch diese Konzeption im dritten Buch seiner Theologie des Neuen Testaments nicht nur den neutestamentlichen Kanon, sondern ordnet abschließend auch noch die Heiligenverehrung dem Kanon vor: "Ehe die Kirche noch ein eigenes Neues Testament hatte, verehrte sie bereits die Heiligen." (440) "Die Heiligen sind es, die das Feuer der Anfänge lebendig erhalten." (441, kursiv i. O.) Die Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften begreift er als "Heiligsprechungsprozeß" (416). Der Passion Christi stellt er identitätsontologisch die Leiden der Märtyrer zur Seite: "Im Martyrium ist ja die Passio Domini, im Märtyrer der Herr selbst gegenwärtig" (440).

N. straft mit seiner Konstruktion der "neutestamentlichen Dogmengeschichte" alle diejenigen Lügen, die behaupten, Bibelwissenschaftler der Gegenwart seien nicht mehr konfessionalistisch gebunden.