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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

274–276

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Müller-Fieberg, Rita

Titel/Untertitel:

Das "neue Jerusalem" - Vision für alle Herzen und alle Zeiten? Eine Auslegung von Offb 21,1- 22,5 im Kontext alttestamentlich-frühjüdischer Tradition und literarischer Rezeption.

Verlag:

Berlin-Wien: Philo 2003. XII, 473 S. gr.8 = Bonner Biblische Beiträge, 144. Geb. Euro 65,00. ISBN 3-8257-0327-4.

Rezensent:

Hansgünter Reichelt

Die exegetische Beschäftigung mit der Johannesapokalypse hat in jüngerer Zeit eine Vielzahl an Publikationen zu den unterschiedlichsten Themen hervorgebracht. Dennoch stellt das letzte Buch im neutestamentlichen Kanon die Forschung immer noch vor eine Fülle von Aufgaben, die sowohl die Gesamtkonzeption des Buches wie auch eine Reihe von Einzelfragen betreffen. So weist Otto Böcher in der neuesten Auflage seines Forschungsüberblicks zur Johannesapokalypse u. a. auf folgende Fragestellung hin: "Beispielsweise müßte noch stärker die Kontinuität der altjüdischen Apokalyptik samt der aus ihr hervorgegangenen Offenbarung des Johannes mit dem alttestamentlichen Prophetismus gesehen und betont werden; der Zusam- menhang von Apk 20-22 mit Ez 37-48 ist nicht nur ein traditionsgeschichtliches, sondern auch ein theologisch-hermeneutisches Problem." (Böcher, Otto: Die Johannesapokalypse, EdF 41, Darmstadt 1998, 4. Aufl., 167).

Die vorliegende Monographie von Rita Müller-Fieberg ist zu einem wesentlichen Teil diesem Anliegen gewidmet, indem sie die Jerusalemvision in Offb 21,1-22,5 im Kontext alttestamentlich-frühjüdischer Traditionen untersucht. Zugleich weist der poetische Titel dieser im Jahr 2002 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommenen Dissertation auf ein zweites Anliegen der Vfn. hin. Auf dem Hintergrund bisher kaum ins Blickfeld gerückter Verbindungslinien zwischen exegetischer Forschung und literarischer Rezeption der Jerusalemvision möchte die Vfn. die exegetische Fragestellung öffnen und somit den Weg einer interdisziplinären Vorgehensweise beschreiten. Als Theologin und Germanistin bringt sie dafür günstige Voraussetzungen mit.

Den drei Hauptteilen der Untersuchung vorangestellt sind daher zunächst grundsätzliche "Hermeneutisch-methodische Vorüberlegungen". Es folgt der ausführlichste Teil der gesamten Arbeit, die Exegese von Offb 21,1-22,5 (Teil A). Daran schließt sich der zweite große Hauptteil an: "Modelle literarischer Rezeption der Jerusalemvision der Johannesoffenbarung" (Teil B), und im abschließenden dritten Hauptteil mit der Bezeichnung "Brückenschlag" (Teil C) werden die Teile A und B in Beziehung zueinander gesetzt. Als Konsequenz der im Rahmen dieser Auslegung geschehenen Begegnung von biblischer Exegese und literarischer Rezeption werden zum Schluss vier "Hermeneutische Thesen und Postulate" aufgestellt. Ein ausführliches, gegliedertes Literaturverzeichnis sowie ein Stellenregister beschließen die Untersuchung.

Ausgangspunkt in den hermeneutisch-methodischen Vorüberlegungen ist eine Reflexion über die Chancen und Grenzen historisch-kritischer Bibelauslegung sowie die Bedeutung neuer Zugangsweisen zur Interpretation biblischer Texte. Hinsichtlich ihrer Grundausrichtung unterscheidet die Vfn. dabei zwei wesentliche Perspektiven. Einmal steht primär der Text bzw. der Autor des Textes im Blickpunkt, während die zweite Blickrichtung auf die Rezipienten und ihre Perspektive hin orientiert ist. Die vorliegende Untersuchung möchte beiden Ansätzen gleichermaßen gerecht werden. Als Textgrundlage dafür bietet sich Offb 21 f. insofern besonders an, als der Verfasser der Johannesapokalypse selbst als vielfacher Rezipient vorhandener Überlieferungen auftritt. Wie kaum ein anderer neutestamentlicher Autor steht Johannes innerhalb eines kontinuierlichen israelitisch-frühjüdisch-urchristlichen Überlieferungsprozesses. Einen weiteren Grund für die Textbasis der Jerusalemvision bietet die bis heute andauernde äußerst reiche Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Bilder vom "Neuen Jerusalem".

Im Hauptteil A wird zunächst die synchronisch orientierte Textanalyse der diachronen Betrachtung vorangestellt. Nach einer kurzen "literarkritischen Zwischenbemerkung" folgt auf die ausführliche Textanalyse von Offb 21,1-22,5 eine ebenso ausführliche Darstellung der einzelnen aus dem Alten Testament sowie aus antik-jüdischen Schriften stammenden Motivkomplexe, die Johannes mit Hilfe verschiedener exegetischer und literarischer Techniken in seine Darstellung der Jerusalemvision integriert oder sie neu deutet. Obwohl Johannes sich vielfach im Rahmen alttestamentlicher bzw. antik-jüdischer Vorstellungen bewegt, geschieht durch die Darstellung und Funktion des "Lammes" eine neue christologische Grundlegung der gesamten Schrift.

Als alttestamentliche Leittexte für die Jerusalemvision gelten vor allem Jes 65,17-20 und Ez 40-48. Anzufragen ist jedoch, weshalb die Vfn. in ihrer Zusammenfassung der Motiv-Analyse (225-235) den Seher Johannes zwar als Rezipienten alttestamentlich-frühjüdischer Traditionen darstellt, jedoch lediglich alttestamentliche Texte benennt (die sicherlich im Gesamtbild des Johannes auch den entscheidenden Einfluss ausübten), die vorher vielfach angeführten Belege und Motive aus der frühjüdischen Literatur jedoch nicht noch einmal aufgreift.

In der den Teil A abschließenden "Theologischen Interpretation" stehen systematisch-theologische Überlegungen im Mittelpunkt. Die bisherigen exegetischen Erkenntnisse werden so im Gesamtkontext neutestamentlicher Theologie betrachtet. Besonders anregend sind dabei Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von Jesu Rede vom "Reich Gottes" zur apokalyptischen Weltsicht (insbesondere S. 266-268). Hier besteht auch weiterhin Diskussionsbedarf über die Frage nach dem Stellenwert von futurischer und präsentischer Eschatologie in der Offb.

Der zweite Hauptteil B beansprucht nicht, einen vollständigen Überblick zur literarischen Rezeption der Jerusalemvision zu geben. Stattdessen wird aus der Fülle literarischer Beispiele exemplarisch eine Auswahl bestimmter Rezeptionstypen getroffen. In zwei Themenbereichen ("1. Das neue Jerusalem zwischen Diesseits und Jenseits" und "2. Das neue Jerusalem zwischen Apokalypse und Utopie") geht die Vfn. der Frage nach, welche Motivkomplexe in der Literatur eine besondere Rolle spielten. In der literarischen Rezeption zum ersten Themenbereich lassen sich sowohl eine zu allen Zeiten vorhandene Orientierung auf stark jenseits- bzw. endzeitbezogene Entwürfe des "Neuen Jerusalem" erkennen als auch die Infragestellung des Jenseitscharakters. Darüber hinaus sind es jedoch oftmals fließende Übergänge zwischen "Diesseits" und "Jenseits", die diesen Rezeptionstyp auszeichnen. - Innerhalb der Literatur des zweiten Themenbereiches hingegen lässt sich eine deutliche Tendenz erkennen. Diese besteht in einer starken Dominanz der Negativdarstellung, so dass eine vielfache Reduktion auf die Unheilsbilder der Johannesapokalypse erkennbar wird.

Es ist zweifelsohne ein großes Verdienst der Untersuchung, die äußerst vielfältigen Quellen der Wirkungsgeschichte dieses biblischen Textes zusammengetragen und gesichtet zu haben. Eine weitere Erschließung der reichhaltigen Literatur, nicht nur durch das Literaturverzeichnis, sondern durch ein Register der literarischen Texte bzw. der Schriftsteller, wäre dabei eine wünschenswerte Bereicherung gewesen.

Im dritten Hauptteil C werden die Ergebnisse von Exegese wie von literarischer Rezeption in Beziehung zueinander gebracht. Das reiche Motivrepertoire der Jerusalemvision hat im Laufe einer fast 2000-jährigen Wirkungsgeschichte sowohl formal als auch inhaltlich eine äußerst vielfältige Rezeption erfahren. Unter den Aspekten "Gott im Spannungsfeld von distanzierter Allmacht und liebender Nähe", "Die christliche Hoff- nungsperspektive auf dem Prüfstand" sowie der Betrachtung des "Neuen Jerusalem" als einer "konkretisierten Hoffnung", die vom historischen Ort Jerusalem nicht ohne weiteres zu trennen ist, werden die Erträge beider Betrachtungsweisen, der exegetisch-historischen wie der literarisch-wirkungsgeschichtlichen, gegenübergestellt.

Als Ergebnis dieses interdisziplinären Vorgehens erweist sich eine historisch-kritische wie eine sprachwissenschaftliche Analyse als nach wie vor unerlässlich. Zugleich aber kann durch eine eingehende Untersuchung der literarischen Rezeption eines Textes im Laufe seiner Wirkungsgeschichte der exegetische Blick geweitet und somit ein sich gegenseitig bereichender Dialog eröffnet werden.

Zur Wahrnehmung einer solch mehrdimensionalen Perspektive, die sowohl die lange Traditionsgeschichte als auch die noch weiter reichende Rezeptionsgeschichte eines so wirkmächtigen Textes wie Offb 21,1-22,5 in den Blick nimmt, hat die Vfn. einen wichtigen Beitrag geliefert.