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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

269–271

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Leinhäupl-Wilke, Andreas

Titel/Untertitel:

Rettendes Wissen im Johannesevangelium. Ein Zugang über die narrativen Rahmenteile (Joh 1,19-2,12; 20,1-21,25).

Verlag:

Münster: Aschendorff 2003. XII, 400 S. gr.8 = Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, 45. Kart. Euro 54,00. ISBN 3-402-04793-4.

Rezensent:

Christian Cebulj

Von exegetischen Arbeiten, die sich mit methodischen Neuansätzen zu positionieren versuchen, dürfen die Leser mit Recht neue Vorschläge für die Textinterpretation erwarten. Der hier vorzustellenden Dissertation, die im Sommersemester 2000 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster angenommen wurde (Gutachter: Löning/Ebner), ist ein solcher Interpretationsvorschlag gelungen. Er gewinnt sein spezifisches Profil aus der Verknüpfung erzähltextanalytischer und wissenssoziologischer Elemente.

War die Forschungsgeschichte zum Johannesevangelium lange Zeit durch mehrheitlich diachron ansetzende Interpretationen bestimmt, die vor allem durch literarkritische Operationen versuchten, die komplizierte Entstehungsgeschichte und das besondere theologische Profil des vierten Evangeliums aufzuhellen, so ist (auch) an der vorliegenden Arbeit zu sehen, wie der Trend der Johannesforschung zur synchronen Endtextanalyse geht. Diese stellt weniger die Textentstehung in ihren jeweiligen Entwicklungsstufen in den Mittelpunkt, sondern begreift den Endtext als Element kommunikativen Handelns.

Das Frageinteresse der vorliegenden Arbeit formuliert der Vf. auf der Basis eines äußerst kurzen Forschungsberichts (1-7), der sich auf einige wenige erzähltheoretische Arbeiten zum JohEv beschränkt. Im Dialog mit B. Olsson und R. Culpepper, zwei Protagonisten der erzähltheoretisch orientierten Johannesexegese, benennt der Vf. seinen Ansatz, der als solcher zunächst aufhorchen lässt: "Im Rahmen der angezeigten hermeneutischen Grundoptionen ist ein Verfahren zu entwickeln, das konsequent aus den Strukturen des Textes den Zugriff auf eine Korrelation des Evangeliums mit seiner zeit- und religionsgeschichtlichen Situierung ermöglicht" (2).

Gerade wegen der in der Johannesforschung häufig diskutierten Verbindung von inner- und außertextlicher Wirklichkeit stellt der Vf. damit eine prononcierte These in den Raum, deren Tragfähigkeit sich freilich im Verlauf der Arbeit erweisen muss. Die Suche nach der Nahtstelle zwischen inner- und außertextueller Welt war in der Johannesforschung schon immer eine Art "Gretchenfrage", der sich jeder methodische Neuansatz deshalb zu stellen hat, weil gerade die klassische Literarkritik darin ihre genuine Aufgabe sah.

Etwas unvermittelt versucht der Vf. mit der so formulierten These am Ende des Einleitungsteils die bis dahin aufgezählten Arbeiten in einer Art gemeinsamer Suche nach einem literatursoziologischen Identitätsbegriff zu bündeln. Das macht Sinn, insofern die Arbeit selbst stark mit dem Begriff "Identität" arbeitet: Es werden "Identifikationsketten" geknüpft (53 f.85 f. 136 f.163 f.) und verschiedene Identitätskonzepte herausgearbeitet, die dann im Schlusskapitel in "Identitätsstrukturen der joh. Erzählgemeinschaft" münden (357 f.). Hermeneutisch fehlt jedoch eingangs die eindeutige begriffliche Bestimmung, was genau unter "Identität" verstanden wird. Da der Identitätsbegriff, um eine Formulierung des Soziologen Lothar Krappmann zu verwenden, einem "magischen Universum" gleicht, in dem sich nahezu alle Interpretationen unterbringen lassen, ist es von oberster Priorität, den Identitätsbegriff, mit dem dann gearbeitet wird, zuerst zu definieren. Das bleibt beim Vf. aus. Wenn er Identität aus "Erzählen und Erinnern" herleitet (8-14), so ist das bereits ein weiterführender bibeltheologischer Aspekt, der jedoch nicht auf eine vorherige Begriffsbestimmung von "Identität" aufbauen kann.

Trotz dieser definitorischen Schwächen am Anfang entfaltet der Vf. dann eine sehr gelungene Interpretation der so genannten Rahmenteile des JohEv, also der Großen Exposition (Joh 1,19-2,12) und der Ostergeschichten (Joh 20,1-21,25). Die Entscheidung des Vf.s, gerade diese beiden Textgruppen als Untersuchungsgegenstand auszuwählen, wird leider nicht weiter begründet. Später wird sie sich wegen ihres selektiven Blicks auf das Ganze des JohEv als nicht ganz geglückt erweisen. Sehr überzeugend entfaltet der Vf. demgegenüber das interpretatorische Motiv des "Wissens" am Beispiel ausgewählter Texte aus den Rahmenteilen. Hierin liegt sprachlich wie konzeptionell die eigentliche Stärke der Arbeit. Für den Rezensenten war es über weite Strecken geradezu spannend mitzuverfolgen, wie die Rahmenteile des JohEv als "Wissensgeschichte" entfaltet werden und wie sich vor dem geistigen Auge des Lesers die johanneische Erzählgemeinschaft als "Wissensfamilie" entwickelt. Durch die Vermittlung der erzählten Figuren und deren identifikatorische Wirkung macht sich die "Wissensfamilie" um das JohEv das "rettende Wissen" über Jesus zu Eigen. Durch die gelungene wissenssoziologische Perspektive, aus der heraus der Vf. einzelne johanneische Texte liest, gelingt ihm nicht nur ein spezifischer Blick auf das JohEv im Ganzen, sondern auch auf einzelne Aspekte der johanneischen Christologie wie etwa den Vergleich Jesu mit Mose und den Propheten, seine Titulatur als König und als Menschensohn (163).

So überzeugend der Vf. auch am Beispiel der Rahmenteile (Joh 1,19-2,12; 20,1-21,25) zeigen kann, wie sehr das "rettende Wissen" über Jesus seine identitätsstiftende Wirkung für die johanneische Erzählgemeinschaft entfaltet, so einseitig bleibt das Konzept am Ende wegen seiner Beschränkung auf die Große Exposition und die Ostergeschichten. Auf diese Weise bleibt ausgeblendet, dass der johanneische Kreis als Erzählgemeinschaft eine Doppelidentität besitzt, die sich aus Anknüpfung und Widerspruch gegenüber der jüdischen Wurzel speist. Gerade weil seine Identität sich auf "Erzählen und Erinnern" stützt, fußt sie einerseits auf dem jüdischen Mutterboden. Andererseits gehört zum kulturellen Gedächtnis der johanneischen Christen eben auch das Trauma der Trennung durch den Ausschluss aus der Synagoge (Joh 9,22; 12,42; 16,2). Nach dem Synagogenausschluss stützt der johanneische Kreis deshalb seine Identität auf die doppelte Basis von Anknüpfung und gleichzeitig Widerspruch in Bezug auf seine jüdische Wurzel. Der Nachweis einer fortschreitenden Wissensgeschichte in Anknüpfung an weisheitlich-apokalyptisch geprägtes jüdisches Wissen ist dem Vf. in der vorliegenden Arbeit hervorragend gelungen. Der Aspekt des Widerspruchs und der konfliktgeladenen Trennung aber, der ebenso zum "rettenden Wissen" im JohEv zählt, bleibt wegen der Konzentration auf die Rahmenteile notwendigerweise ausgeblendet. Mit Sicherheit wäre das in sich überzeugende wissenssoziologisch orientierte Identitätskonzept des Vf.s ohne die Konzentration auf die Rahmenteile noch überzeugender ausgefallen.