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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

256–258

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Berges, Ulrich

Titel/Untertitel:

Klagelieder. Übers. u. ausgelegt v. U. Berges.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2002. 312 S. m. Abb. gr.8 = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Lw. Euro 60,00. ISBN 3-451-26840-X.

Rezensent:

Otto Kaiser

Ulrich Berges gehört zu der Nachkriegsgeneration, die sich einen Eindruck vom Elend der Welt in anderen Erdteilen verschafft und dabei gelernt hat, es nicht gegen Gott aufzurechnen, sondern vor Gott zur Sprache zu bringen. Damit aber ist er bereits bei der Sache; denn das ist das Eigentümliche der von ihm in diesem Kommentar ausgelegten Komposition von fünf Klageliedern, dass sie Leid, Schmach und Schuld der Jerusalemer im Rückblick auf den katastrophalen Untergang ihrer Stadt und ihres Reiches im Jahre 587 vor Gott bringen. Der Ausleger hat vor allem zu beachten, wie das formal und inhaltlich geschehen ist; er muss aber auch versuchen, die Entstehungszeit der einzelnen Lieder und der Komposition als eines schließlichen Ganzen zu bestimmen. So hat er zu erkunden, ob und welche Vorbilder aus der Umwelt die Anregung zu diesen Kunstliedern geboten haben; denn dass es sich um solche handelt, geht vor allem aus der Eigenart der ersten vier als alphabetischer Akrosticha (einer Kunstform, die der Dichter des dritten Liedes gleich dreifach anwendet) und des fünften als einer alphabetisierenden Dichtung hervor. Der Eigenart der Reihe entsprechend legt B. in seinem Kommentar den Nachdruck auf die form- und traditionsgeschichtliche, poetologische und theologische Auslegung, ohne deshalb an den Datierungsfragen vorüberzugehen, die er jeweils am Anfang der Auslegung der einzelnen Lieder behandelt. Nach einer stattlichen Bibliographie, welche die Breite der Rezeption seiner Vorgänger bezeugt (13-28), wird das Werk durch eine ausführliche Einleitung (30-82) eröffnet, an die sich die in ihrem Umfang kaum übertroffene Auslegung der Lieder anschließt (84-303). Ein biblische Texte außerhalb der Threni berücksichtigendes Bibelstellenregister (304-312) rundet das Werk ab. Die dem Band beigegebenen sechs Abbildungen in der Form von Strichzeichnungen suchen dem heutigen Leser einen visuellen Eindruck von der einschlägigen Bilderwelt des Alten Orients zu vermitteln.

Das Neue des Kommentars liegt formgeschichtlich zumindest im deutschen Sprachraum darin, dass B. die seinerzeit von Hans-Joachim Kraus aufgestellte Hypothese, dass die Lieder von der sumerischen Klage um das zerstörte Heiligtum abhängig sind, auf eine traditionsgeschichtlich grundsätzlich plausiblere Weise zu erneuern versucht. Gegen sie ist in der nachfolgenden Forschung z. B. von Artur Weiser und dem Rezensenten in ihren Kommentaren in ATD 16/2 1958 bzw. 1981 erstens eingewandt worden, dass die Klage um das zerstörte Heiligtum weder im ersten, zweiten und fünften Lied einen eindeutigen Mittelpunkt darstellt, während sie im dritten und vierten überhaupt fehlt; und dass sich zweitens die Hauptthemen der Klage von Ur, der Auszug der Götter aus den babylonischen Städten und die Klage der Göttin Ningal über ihren zerstörten Tempel mit dem Bericht über ihre vergeblichen Versuche, die schicksalsmächtigen Götter An, Enlil, Enki und die Muttergöttin Niuchursaga umzustimmen und dadurch das Unglück abzuwenden, in den biblischen Liedern keine Parallelen besitzen und ihnen drittens auch die für die sumerische Dichtung charakteristische Form der Litanei mit ihren immer erneuten Wiederholungen fehlt.

B. weist demgegenüber auf die sog. Balag- oder "Harfenlied"-Klagen hin, die in altbabylonischer Zeit einsetzten, ihre Blütezeit in der Kassitenzeit (1600-1100 v. Chr.) besaßen und mit Modifikationen über die neuassyrische bis in die seleukidische Zeit hinein überliefert wurden. "Auch wenn ein Konsens noch nicht erreicht ist, so zeichnet sich doch ab, dass man die Klgl als eine eigenständige judäische Form der mesopotamischen Stadtuntergangsklage anzusehen hat. Charakteristische Züge, wie die Tatsache, dass die Rolle der klagenden und weinenden Gottheit auf Zion selbst übertragen wurde oder das Fehlen einer ausgeprägten Hoffnung auf die Restauration und auf die Rückkehr der Gottheit, gehen auf das Konto dieser kreativen Eigengestaltung" (46- 64, Zitat 51-52). Um eine konkrete Brücke von den mesopotamischen Klagen zu den biblischen Liedern zu schlagen, verweist B. einerseits auf die lange Zeit des entsprechenden Kulturkontakts unter den neuassyrischen und neubabylonischen Herr- schern und andererseits auf die Wahrscheinlichkeit, dass bereits die dem Jahre 597 bzw. 587 vorausgehenden und teilweise den Jerusalemer Tempel in Mitleidenschaft ziehenden Katastrophen dichterisch verarbeitet worden seien.

Auch wenn man ihm darin zustimmt, dass es schon in vorexilischen Notzeiten Volksklagelieder gegeben haben muss (die vermutlich wegen ihrer Fallgebundenheit die exilisch-frühnachexilische große Selektion der vorexilischen Überlieferung nicht überlebt haben), hätte der Rezensent Hemmungen, die Einflüsse der Totenklage auf den prophetischen Weheruf als weitere Stützen für diese Hypothese in Anspruch zu nehmen, zumal die dafür aufgerufenen Belege teilweise erst redaktioneller Art sind (51-52).

Die Beantwortung der Frage, ob man in der Tat mit einem den Nachbarn Israels gemeinsamen und nach 722 von den Propheten aktualisierten Code rechnen darf, der das Muster für die theologische Verarbeitung der Katastrophe von 587 bereitgestellt hat, hängt nämlich weitgehend von der redaktionskritischen Beurteilung der Prophetentexte ab. Diese fällt offensichtlich bei den Gewährsleuten von B. und denen des Rezensenten unterschiedlich aus. Man sollte jedoch die von B. aufgestellte Hypothese, dass die Threni in vorexilischen Klagen ihre Vorgängerinnen besitzen, trotzdem nicht einfach von der Hand weisen, sondern noch einmal mit aller Sorgfalt in all ihren Aspekten untersuchen.

Die unterschiedliche Datierung der traditions- und sprachgeschichtlichen Vergleichstexte führt denn auch bei B. zu anderen Datierungen der Lieder als beim Rezensenten (ATD 16/2, 1981, 300-302, und modifiziert 1992, 103-106). Nach B. wäre das zweite als das jedenfalls älteste Lied bald nach 587 (133), das von ihm abhängige erste vor der Mitte des 6. Jh.s (94), das dritte Mitte des 5. Jh.s (186), das vierte gegen Ende des 6. Jh. (239) und das fünfte zur gleichen Zeit (276) entstanden. Der Rezensent hält dagegen grundsätzlich an seinen Vorschlägen von 1992 fest, wobei er heute das zweite als das älteste Lied entschiedener nach der Mitte des 6. Jh.s und das dritte als das anerkannt jüngste vorsichtiger in die späte Perserzeit datiert. Auf die bereits von Karl Budde (KHC) 1898 angemerkte und vom Rezensenten unterstützte Möglichkeit, dass dem fünften Lied eine ältere Dichtung zu Grunde liegt, die bei ihrer Einfügung in die vorliegende Sammlung bearbeitet und dabei zur Anpassung an ihren neuen Kontext "alphabetisierend" auf 22 Bikola gebracht wurde, sei auch hier noch einmal hingewiesen.

Einig sind sich Autor und Rezensent jedenfalls darin, dass die alphabetischen Lieder (Klgl 1-4) formvollendete Kunstdichtungen darstellen, die zur Zeit ihrer Entstehung nur von einem kleinen Kreis entsprechend gewürdigt werden konnten (75- 76). Daraus ergibt sich denn auch der von B. nicht ausdrücklich gezogene Schluss, dass die Lieder erst sekundär im Kult Verwendung gefunden haben und von Hause aus nicht für eine Klagefeier gedichtet worden sind. Zudem appellieren sie mit ihrer Kunstform an das Auge und nicht an das Ohr. Einig sind sich beide weiterhin mit Renate Brandscheidt (ThTSt 41, 1983) auch darin, dass die Komposition als ein Ganzes angesichts der selbständigen Entstehung ihrer Teile keine einheitliche Theologie enthält, sondern ganz unterschiedliche Stadien der theologischen Verarbeitung der judäischen Katastrophe spiegelt. B. zieht daraus auch den weitergehenden poetologischen Schluss, dass die Lieder keine einheitliche Strophik enthalten. Im sachlichen Anschluss an T. J. Renkema rechnet er damit, dass sich die Lieder (außer dem dritten) in Sektionen, Stanzen und Substanzen gliedern lassen, deren Abgrenzungen sich mittels Inklusionen, Wortfeldgruppierungen oder Sprecherwechsel zu erkennen geben (81).

Beachtenswert ist auch sein Hinweis auf die einschlägige Untersuchung von de Hoop, dass das 3+2er Metrum für die Qina oder Totenklage als solche nicht spezifisch ist und die Sammlung nur 53,4 % entsprechend geformter Bikola enthält (Klgl 1: 34,4 %; 2: 62,7 %; 3: 71,2 %; 4: 54,5 % und 5: 36,4 %) (79). Schließlich sei angemerkt, dass B. bei der Auslegung von 3,52-66 wieder zu dem traditionellen Verständnis zurückgekehrt ist, dass es sich in den V. 52-62 um ein Danklied handelt, das in 63 in die abschließende Bittklage umschlägt. Dabei bildete die Erinnerung an die erfahrene Rettung die Stütze für die nachfolgende Schlussbitte (220). Man könnte also auch sagen: Sie nimmt die Funktion des Vertrauensbekenntnisses wahr. Kaiser (1992) war dagegen im Anschluss an Provan (VT 41 [1991], 164-175) aus formgeschichtlichen Gründen zu dem Ergebnis gekommen, dass die Perfecta in den V. 52-62 prekativ zu verstehen seien, ohne dass ihre ungewöhnliche Anhäufung gegen diese Interpretation der Formen sprechen müsse.

Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um das Urteil des Rezensenten zu begründen, dass B. die Literatur zu diesen Liedern mit seinem Kommentar bereichert und die Diskussion mit seinen Hypothesen und poetologischen Beobachtungen belebt hat. Zumal die Freunde der biblischen Poetik kommen bei seiner Lektüre stärker als bei seinen Vorgängern auf ihre Kosten.