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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

647–649

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kohlschein, Franz, u. Peter Wünsche [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Liturgiewissenschaft - Studien zur Wissenschaftsgeschichte.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1996, XXXV, 396 S. gr.8 = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 78. kart. DM 108,-. ISBN 3-402-04057-7.

Rezensent:

Karl-Heinrich Bieritz

Wissenschaften, die in die Jahre kommen, wenden sich ihrer eigenen Geschichte zu. Sie erheben ihr Werden und Wachsen zu einem speziellen Forschungsgegenstand. Liturgik, als theologische Disziplin nunmehr reichlich zweihundert Jahre alt, macht da keine Ausnahme. Sie ist - daran lassen die hier anläßlich eines liturgiewissenschaftlichen Kolloquiums vom 19.-21. Oktober 1993 in Bamberg zusammengetragenen Beiträge keinen Zweifel - ein Kind der Aufklärung. Sie hat, jedenfalls im deutschsprachigen katholischen Raum, ihren Ursprung "in der Reform des Theologiestudiums unter dem Einfluß des Josephinismus" (5). Das Licht der akademischen Welt erblickt sie als Teildisziplin der Pastoraltheologie, von deren Vormundschaft sie sich in einem langwierigen Prozeß befreien muß. Mündig gesprochen wird sie im Grunde erst durch das II. Vatikanische Konzil, das die Liturgiewissenschaft, nunmehr durch eigene Lehrstühle vertreten, fest im Fächerkanon katholischer Theologie etabliert. Ein vergleichbarer Akt steht auf evangelischer Seite noch aus. Er ist wohl auch - betrachtet man die gegenwärtig überaus kritische Situation von Theologie und Kirche - mittelfristig weder zu erwarten noch wirklich zu wünschen.

Ein "Werkstattbericht ,Zur Geschichte der katholischen Liturgiewissenschaft im deutschsprachigen Bereich’" aus der Feder von Franz Kohlschein eröffnet den Band (1-72). Das ist- zusammen mit dem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis (XI-XXXV) - eine Geschichte der Disziplin in nuce, die von den Anfängen im 18. Jh. die Linien bis in die Gegenwart auszieht, die führenden Vertreter des Fachs und ihre wichtigsten Publikationen darstellt und schließlich den wissenschaftstheoretischen Horizont benennt, unter dem gegenwärtige und künftige Aufgaben in Angriff genommen werden müssen. Daß dies nur in ökumenischer Perspektive geschehen kann, ist dem Vf. deutlich. Evangelische Liturgik kommt dabei jedoch nur sehr summarisch in den Blick (64 f.).

Daß der "Werkstattbericht" lange Reihen von Desideraten auflistet, liegt in der Natur der Sache. Es verweist auf die Fülle der Forschungsfelder, die hier noch auf ihre Bearbeitung harren. Einige Lücken werden im vorliegenden Band geschlossen. Künftige Forschung wird sich an den hier präsentierten Arbeiten orientieren müssen.

Hermann Reifenberg referiert über "Liturgiewissenschaft als eigenes Fachgebiet der Theologie an der Universität Mainz" (73-87). Hier wird 1782-84 nach Wiener Vorbild eine Studienreform durchgeführt und ein Lehrstuhl für Pastoral und Liturgik eingerichtet. 1785 wird hier die erste liturgiewissenschaftliche Dissertation eingereicht, die sich mit Mainzer Ritualien seit dem 15. Jh. befaßt. Der zweite Lehrstuhlinhaber, Johann Stephan (Gregor) Köhler (1733-1809; berufen 1786) veröffentlicht 1788 unter dem Titel "Principia Theologiae Liturgicae" "das wohl älteste Lehrbuch der Liturgik".

Über "Ansätze zur Bestimmung von Liturgie und Liturgik bei Johann Michael Sailer (1751-1832)" schreibt Manfred Probst (88-97). Der spätere Regensburger Bischof gehört "zu den wichtigen Begründern und Anregern der Liturgiewissenschaft im deutschen Sprachbereich" (97). Mit seinem Schüler Franz Xaver Schmidt (1800-1871), von dem das erste katholische Lehrbuch der Liturgik in deutscher Sprache stammt (1832/33), befaßt sich Peter Wünsche (188-233). Er hebt Schmidts Bemühungen um eine theologische wie anthropologische Grundlegung der Liturgik und um eine vertiefte Reflexion ihrer Methodik hervor.

Andreas Heinz berichtet über "Die Anfänge der ,Pastoralliturgik’ in Trier im Kontext der dortigen Seminar- und Studienreform" (98-119), die mit dem Namen des dortigen Pastoralliturgikers Peter Conrad und seinem "Leitfaden der deutschen Vorlesungen über die Pastoraltheologie zu Trier" (1789) verbunden sind.

Unter der Überschrift "Nachdenken über den Kultus" (120-142) spürt Benedikt Kranemann liturgischen Themen im "Diöcesanblatt für den Clerus der Fürstbischöflich Breslauer Diöces" (1803-1820) nach. Er vermittelt einen anschaulichen Eindruck von Anliegen und Engagement katholischer Seelsorger im Blick auf Praxis und Theorie liturgischer Feiern zu Beginn des 19. Jh.s. Ebenfalls eine für den Klerus bestimmte Zeitschrift - das "Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz" (1804-1827) - wählt Walter von Arx zum Gegenstand seiner Untersuchung (143-187). Die von Heinrich von Wessenberg eingeführten regelmäßigen Pastoralkonferenzen erweisen sich zusammen mit dem "Archiv" als ein wichtiges Forum für die Diskussion liturgischer Fragen.

Franz Kohlschein - als Mitherausgeber gleich mit zwei gewichtigen Beiträgen in dem Band präsent - referiert über "Johann Baptist Lüft (1801-1870) als Liturgiker" und schildert ihn als einen wichtigen Wegbereiter "auf dem Wege zur Liturgik als Wissenschaft" (234-290), der das Fach zugleich in einen wissenschaftstheoretischen Horizont einordnet: Er setzt sich mit Kant auseinander, rezipiert den Wissenschaftsbegriff Hegels "und entwirft eine Theorie der Liturgie auf der Basis eines anthropologischen, theologischen, genetisch-historischen und praxisbezogenen Ansatzes" (VII).

Albert Gerhards setzt die von Reifenberg für Mainz und von Heinz für Trier begonnene Untersuchung liturgiewissenschaftlicher Aktivitäten an deutschsprachigen katholischen Fakultäten mit Blick auf Bonn fort ("Zur Geschichte der Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät Bonn", 291-304). Auch hier beginnt - noch vor der Neugründung der jetzigen Universität im Jahre 1818 - in der späten Aufklärung die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Liturgie im Rahmen der Pastoraltheologie. Eine bedeutsame Rolle spielt dabei, zwischen Spätaufklärung und Restauration, das Kölner Priesterseminar (294 ff.).

Als einziger evangelischer Autor ist Alfred Ehrensperger mit einem eigenen Beitrag ("Motive und Tendenzen zur Bildung einer Gottesdiensttheorie im deutschsprachigen späten Aufklärungsprotestantismus", 305-369) in dem Band vertreten. Der Vf., der damit an seine früheren Arbeiten zur Aufklärungsliturgik anknüpfen kann, konstatiert einen eklatanten Rückstand liturgiegeschichtlicher Erforschung der Aufklärungszeit auf evangelischer Seite und verweist auf Zusammenhänge zwischen aktuellen Forderungen nach einer Integration systematisch-theologischer, historischer, seelsorgerlicher wie praktischer Fragestellungen und Lösungsansätzen der Aufklärungsliturgik.

Folgt man den in diesem Band zusammengetragenen Darstellungen, so zeugt die Entwicklung von Liturgik bzw. Liturgiewissenschaft - die Begriffe werden weitgehend synonym gebraucht - nicht nur von einem wachsenden Bewußtsein für die Bedeutung des Gottesdienstes in Theologie und Kirche. Sie ist auch Ausdruck einer "in der Aufklärung sich abzeichnenden und in der Mitte des 20. Jahrhunderts sich zuspitzenden Krise" (69 f.), durch die am Ende nicht nur der christliche Gottesdienst in seiner soziokulturellen Plausibilität, sondern die "Liturgiefähigkeit" des (post-)modernen Zeitgenossen schlechthin in Frage gestellt wird. Trifft das zu, dann hat Liturgik - solchermaßen als ,Krisenwissenschaft’ ausgezeichnet -, gute Chancen, auch die nächsten zweihundert Jahre Christentums- und Theologiegeschichte zu überstehen.