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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

254–256

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Zumbroich, Walburga

Titel/Untertitel:

Mythos und Chaos. Die Frage nach dem Leiden und nach dem Bösen im frührabbinischen Midrasch.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 174 S. gr.8 = Judentum und Christentum, 12. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-17-018138-6.

Rezensent:

Gabrielle Oberhänsli-Widmer

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Dissertation, die im Fachbereich Rabbinische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg vorgelegt worden ist. Darin untersucht die Vfn. mythische Chaosmotive kosmogonischer, eschatologischer und anthropologischer Art: Größen wie Urmeer und Abgrund, legendäre Urtiere wie Behemot und Leviathan, ebenso wie den Jezer ha-ra', den in Talmud und Midrasch mythisch ausgestalteten bösen Trieb des Menschen. Als Untersuchungskorpus dient dabei eine Anzahl kleinerer Texteinheiten, welche vorwiegend spätantiken Midrasch-Sammlungen entnommen sind, allen voran dem rabbinischen Genesis-Kommentar Midrasch Bereschit Rabba.

Ein erstes Verdienst der sorgfältigen Studie besteht darin, dass die Vfn. den Blick auf die mythische Beschaffenheit talmudisch-rabbinischen Schrifttums lenkt, haben doch die Bemühungen der mittelalterlichen jüdischen Weisen bis hin zu den Vertretern der Wissenschaft des Judentums stets die rationalen Charakteristika jüdischer Religion betont, wodurch das Literarisch-Kreative rabbinischen Schaffens nicht die ihm zukommende Würdigung fand. Mit der Analyse der Chaosfiguren kann die Vfn. indes schlüssig zeigen, wie der Midrasch der talmudischen Epoche einerseits noch überraschend viele Chaosmotive altorientalischer Mythen kennt und andererseits verschiedene Mythen der späteren Kabbala, der hochmittelalterlichen jüdischen Mystik, bereits ansatzweise antizipiert.

Dass diese These sich als schlüssig erweist, ist dem besonderen methodischen Ansatz zu verdanken, welcher die midraschischen Texteinheiten auf dreifache Weise beleuchtet: Als erstes werden die Midraschim intertextuell, im Dialog über die Midrasch-Sammlungen hinaus, dargestellt; auf diese innerrabbinische Ebene legt sich dann die Schicht biblischer Zitate, die hier jedoch gerade nicht einfach als isolierte Einheiten mit der Funktion von simplen Schriftbeweisen behandelt werden, sondern als Indikatoren eines betreffenden alttestamentlichen Kontextes, der im Midrasch als Ganzes mitschwingt; und schließlich werden diese biblisch-midraschischen Gebilde auf ihre religionsphänomenologischen Aspekte hin überprüft, wobei neben allgemein religionswissenschaftlichen Erkenntnissen vor allem die altorientalischen Parallelen in Erscheinung treten.

So kann die Vfn. beispielsweise höchst virtuos die Linie vom ugaritischen Lothan zum biblischen und rabbinischen Leviathan aufzeichnen: Lothan gehört motivgeschichtlich zum Baal-Jam-Zyklus als monsterhaftes Wesen im Gefolge der lebensfeindlichen Meeresgottheit Jam. Auf Grund ihres monotheistischen Programms entmythisiert die Hebräische Bibel die mythischen Figuren ihrer Nachbarkulturen, so dass das Urtier Leviathan im alttestamentlichen Kult als von Gott geschaffenes Tier, ja als Spielzeug Gottes zu einem gänzlich harmlosen Wesen verkommt (Ps 104,26). Einer solch optimistischen Haltung entsprechend, gemäß der Gott - wie im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht - allmächtig über alles Chaotische herrscht, treten nun aber die Rabbinen entgegen, denn ihrer Erfahrung entsprechend brechen die lebensfeindlichen chaotischen Mächte immer wieder ungehemmt zerstörerisch in die Welt ein. Mit ihrem Ansatz können die talmudischen Weisen durchaus auch auf biblisches Gedankengut zurückgreifen, auf Gedankengut, das die göttliche Schöpfung jedoch wesentlich pessimistischer beurteilt, wie etwa Hiob 40, wo der Leviathan in Entsprechung zu altorientalischem Denken das Lebensbedrohende an sich symbolisiert. Midrasch und Talmud erachten den Leviathan, das Sinnbild bösen Wirkens, als dermaßen gefährlich, dass sie das Szenario der Urzeit von Grund auf neu schreiben: Gott sah sich bei der Schöpfung gezwungen, das Leviathan-Männchen zu kastrieren, das Leviathan-Weibchen sogar zu töten und einzupökeln, hätte dieses fatale Paar doch ansonsten die Welt völlig zerstört. Erst in eschatologischer Endzeit wird der Leviathan überwunden sein, denn dann werden sich die Gerechten in der aus Leviathanshaut gebildeten Sukka bergen (Pesiqta de Rav Kahana, Anhang 2), und die Frommen werden beim göttlichen Mahl das über die Weltepochen hin eingepökelte Fleisch des Leviathan verzehren (Baba Batra 74a) - ganz klar klingen hier Reminiszenzen an das Totemmahl an. Mithin remythisieren die Rabbinen das Material, um dessen Depotentialisierung die Hebräische Bibel so bemüht war. Das Aufdecken dieser Entwicklung ist denn auch ein weiteres Verdienst der Studie: Die rabbinische Remythisierung altorientalischer Topoi, die alttestamentlich gerade entmythisiert worden waren.

Die Thematik der destruktiven Chaosmächte mündet fast zwangsläufig in die Theodizee-Frage. Die Analyse rabbinischer Gleichnisse und Metaphern beantwortet die Verantwortlichkeit Gottes gegenüber dem Bösen in der Welt mit Ansätzen, die in ihrer Bildlichkeit meist erst der Kabbala zugeordnet werden: Da ist zunächst das Leiden der Gerechten als Mittel, um die Welt vor der ständig drohenden Zerstörung zu schützen; namentlich sind da aber die dunklen Seiten Gottes, das Böse als innergöttliches Geschehen; ein Schöpfer von dramatischer innerer Dynamik, der nicht unbedingt Herr seiner selbst ist; oder schließlich die Selbstdistanzierung Gottes von seinem vernichtenden Handeln, ein erst im Eschaton völlig bewältigtes Schöpfungswerk.

Neben den beachtlichen Resultaten der vorliegenden Dissertation ist ebenso die ansprechende Form zu erwähnen. Mit deutlichem Gestaltungswillen führt die Vfn. den Leser durch den Text, indem sie ihre Gedankengänge mit einem Geflecht von Einführungen, Zwischenbilanzen und Resümees transparent werden lässt. Umso mehr vermisst die Leserin am Schluss jedoch eine zusammenfassende Betrachtung.

Dieser kleine Mangel wird jedoch durch die Qualität, Sorgfalt und Ergiebigkeit der Arbeit aufgewogen. In diesem Sinn sei abschließend noch ein wesentliches Verdienst zu nennen: Mit ihren tiefgreifenden Interpretationen rabbinischer Literatur entlarvt die Vfn. die scheinbar naiven Bilder des Midrasch als gedanklich höchst komplexe Gebilde, und sie zeigt überzeugend, wie altorientalische Vorstellungen im antiken Judentum jahrhundertelang zurückgebunden wurden, um in talmudischer Zeit wieder zu ihrer vollen Vitalität zurückzufinden.