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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

249–252

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

1) B>The Jerusalem Talmud. First Order: Zeraïm. Tractate Berakhot. Edition, Translation, and Commentary by H. W. Guggenheimer.

2) The Jerusalem Talmud. First Order: Zeraïm. Tractates Terumot and Ma'aserot. Edition, Translation, and Commentary by H. W. Guggenheimer.

3) The Jerusalem Talmud. First Order: Zeraïm. Tractates Ma'aser Seni, Hallah, 'Orlah, and Bikkurim. Edition, Translation, and Commentary by H. W. Guggenheimer.

Verlag:

1) Berlin-New York: de Gruyter 2000. X, 699 S. gr.8 = Studia Judaica, 18. Lw. Euro 158,00. ISBN 3-11-016591-0.

2) Berlin-New York: de Gruyter 2002. XII, 584 S. gr.8 = Studia Judaica, 21. Lw. Euro 148,00. ISBN 3-11-017436-7.

3) Berlin-New York: de Gruyter 2003. XII, 672 S. gr.8 = Studia Judaica, 23. Lw. Euro148,00. ISBN 3-11-017763-3.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Die vorliegenden Bände enthalten Anfang und Fortsetzung der von mir bereits in ThLZ 127 [2002], 1172-1174, besprochenen zweisprachigen Übersetzungsreihe des Talmud Yerushalmi. Die dort gemachten allgemeinen Bemerkungen zu Übersetzungstechnik, Auswertung der Parallelüberlieferungen, Textgrundlage, Vokalisation des hebräisch-aramäischen Textes und Wissenschaftlichkeit der Reihe treffen auch für die hier zu rezensierenden Teilbände zu. Da mich der erste Band, der eine ausführliche Einleitung in die "talmudische Literatur" und in den Talmud Yerushalmi enthält, erst nachträglich erreichte, kann auf ihn erst an dieser Stelle ausführlicher eingegangen werden. Dieser Band enthält den vokalisierten und übersetzten Text des ersten Traktates der Ordnung Zera'im ("Saaten"), Berakhot ("Segenssprüche"), der sich hauptsächlich mit der Rezitation des shema' ("Höre Israel"), der 'amida ("Achtzehngebet") sowie der birkat ha-mazon ("Speisesegen") befasst. Der zweite Band enthält die Traktate Terumot ("Abgaben") und Ma'aserot ("Zehnte"), der abschließende Teilband der ersten Ordnung umfasst die Traktate Ma'aser sheni ("zweiter Zehnt"), Halla ("Teighebe"), 'Orla ("Vorhaut [der Bäume]") und Bikkurim ("Erstlinge"). Dieser Band wird ergänzt durch einen Epilog bezüglich der Tosefta-Parallelen in Seder Zera'im und Anmerkungen zu den Editoren des Talmud Yerushalmi. Da sich diese Ausführungen auf die Einleitungsabschnitte im ersten Band der Reihe und die dort entfaltete Sicht der rabbinischen Literatur sowie der Entstehung des palästinischen Talmud beziehen, können die Bände nicht getrennt voneinander begutachtet werden.

Zunächst einige Anmerkungen zu der traditionell gehaltenen Einführung in die "talmudische Literatur": S. 3 bezieht sich der Vf. auf eine aramäische Mishna im Traktat Eduyot 8,4, die nach Guggenheimer eine erste "proclamation" fixierter Regeln aus der Zeit "der hasmonäischen Revolte" darstelle. Diese Mishna wird zwar im Namen des aus Mishna Avot 1,4 bekannten Yose ben Yo'ezer ish Tzereda überliefert, und Eduyot kann als einer der Traktate gelten, die viel altes Material enthalten. Doch kann man eine Datierung des dort Überlieferten wohl nicht allein auf Grund der Nennung eines Namens vornehmen, und auch die Abfassungssprache dieses Satzes, Aramäisch, kann nicht als ein zuverlässiges Indiz für sein Alter gelten. Vor allem an biographischen Notizen in den Talmudim, an Seder Tannaim we-Amoraim, einer in sehr unterschiedlichen Fassungen erhaltenen nach-talmudischen Schrift, und an Iggeret Rav Sherira Gaon, einer als Quelle für die Literaturgeschichte der rabbinischen Literatur ungeeigneten Quelle, ausgerichtet ist die Skizze der weiteren Entwicklung der rabbinischen Bewegung. Aufgeführt und für weitgehend zuverlässig gehalten werden dabei z. B. die traditionellen Zuschreibungen der Autorschaft einiger Hauptwerke der rabbinischen Literatur, wie Sifra, Sifre, Seder 'Olam, Tosefta und Mekhiltot. Pseudepigraphie als literarisches Phänomen der Antike scheint für den Vf. erst im Hinblick auf mystische Texte "in later Amoraic sources" eine Rolle zu spielen, doch "the development of Amoraic mysticism have not yet been sufficently studied" (8). Nicht mehr zu halten ist die oft wiederholte These, Piyyutim, liturgische Dichtungen, seien eingeführt worden, weil Kaiser Justinian das öffentliche Studium der Tora in Palästina verboten hätte. Die Gründe für die Entstehung der umfangreichen Piyyut-Literatur im byzantinischen Palästina sind zweifellos vielschichtiger, als dies von Guggenheimer dargestellt wird (vgl. dazu zuletzt etwa M. Sokoloff/J. Yahalom [Eds.], Jewish Palestinian Aramaic Poetry from Late Antiquity, Jerusalem 1999 [hebr.]). Unpräzise und zu allgemein gehalten sind auch Bemerkungen wie diejenige, dass es sich bei den Midrash-Werken Bereshit Rabba und Tanhuma um die "oldest Midrashim" (12) handle. Mittlerweile als nicht belegbar gilt ferner die u. a. von S. Lieberman (1931) entwickelte und vom Vf. übernommene These, die Bavot-Traktate der Ordnung Neziqin seien in Caesarea entstanden (vgl. dazu bereits G. A. Wewers, Probleme der Bavot-Traktate, Tübingen 1984, 294 ff.). Abweichend von bekannten Forschungspositionen denkt der Vf. dabei übrigens nicht an Caesarea maritima, sondern an Caesarea Philippi (Banias) als den Ort der Redaktion, ohne dies näher zu begründen. Auch seine Meinung bezüglich des Zeitpunkts des Wirkens der "final editors" (15) des uns vorliegenden Yerushalmi-Textes, den er zwischen 325-350 n. Chr. ansetzt, ist zu hinterfragen. In der Forschung setzt sich inzwischen die Einsicht durch, dass eher mit einem länger andauernden Prozess von "Redaktionen" gerechnet werden muss, nicht etwa mit "der" Endredaktion (siehe dazu etwa C. Hezser, Classical Rabbinic Literature, in: M. Goodman [Ed.], The Oxford Handbook of Jewish Studies, Oxford 2002, 131 ff.). Ebenfalls fragwürdig erscheint die These, der Yerushalmi enthalte im Unterschied zu dem über einen längeren Zeitraum entstandenen Bavli kaum dialektische Analysen, weil die in diesem Talmud erwähnten Amoräer unter dem besonderen Druck durch die christliche Kirche gestanden und sie daher keine Zeit gehabt hätten, neue Methoden wie die dialektische anzunehmen (16). Bemerkenswert hingegen sind die Beobachtungen zum Einfluss des Yerushalmi auf die Gemara des Babylonischen Talmud, die wie auch zahlreiche Einzelkommentierungen ein Bewusstsein dafür erkennen lassen, dass in der traditionellen Kommentarliteratur schwierige Yerushalmi-Stellen oftmals auf Grund des Bavli emendiert und erklärt wurden. In seiner allgemeinen Einleitung in den Talmud Yerushalmi erwähnt der Vf. dann allerdings wieder die umstrittene These von Y. Sussman (u. a.) bezüglich der Herkunft einiger Einbandfragmente aus deutschen Bibliotheken, nach der es sich bei diesen wichtigen Textzeugen nicht etwa um Teile eines Yerushalmi-Manuskripts handle, sondern um Reste eines so genannten Sefer Yerushalmi (vgl. dazu H.-J. Becker, The Yerushalmi-Fragments in Munich, Darmstadt and Trier and their Relationship to the Vatican Manuscript Ebr. 133, JSQ 2 [1995], 329- 335).

Zu beachten ist, dass Übersetzung und Textrekonstruktion in dem jüngsten Band (2003) zum ersten Mal statt auf der editio princeps (Venedig 1523) auf einer Transkription der Handschrift Leiden basieren, und zwar auf derjenigen, die 2001 von der Akademie für die Hebräische Sprache in Jerusalem veröffentlicht worden ist (vgl. Talmud Yerushalmi According to Ms. Or. 4720 [Scal. 3] of the Leiden University Library with Restorations and Corrections, Introduction by Y. Sussman). Diese Textwiedergabe des einzigen vollständigen Manuskripts des Yerushalmi bietet im Unterschied zu der von P. Schäfer und H.-J. Becker herausgegebenen Synopse zum Talmud Yerushalmi, Tübingen 1991-2001 allerdings einen zum Teil nach Parallelen, Kommentaren und (zum Teil unveröffentlichten) Geniza-Fragmenten "korrigierten" Text - sie stellt damit, so hilfreich manche Lesevorschläge sein mögen, eine Mischung aus "reiner" Transkription und "Edition" dar. Obgleich der Vf. also vorgibt, seine Textfassung und kommentierte Übersetzung auf einen nicht-verbesserten Text (vgl. dazu bereits das Vorwort zu "Berakhot", V u. ö.) zu stützen, benutzt er nun eine Emendationen berücksichtigende "Ausgabe" - freilich eine solche, die sich positiv von den "traditionellen" abhebt, wie sie etwa in den verbreiteten, mit Kommentaren versehenen Editionen Krotoszyn (1865/66) und Wilna (1922) vorliegen.

Hinsichtlich der im Anhang an Bikkurim veröffentlichten Statistiken von Namensnennungen ist anzumerken, dass die Häufigkeit von Erwähnungen einzelner Rabbinen kein Indiz dafür sein muss, dass "one or the other academy acted as main collector of the material of the tractate" ("Bikkurim", 664). Die Namen einzelner Rabbinen werden in Diskussionen spezifischer Fragen häufig aus sachlichen Gründen erwähnt und wiederholt (so etwas Rabbi Ze'ira und Rabbi Yose), ohne dass dies eine historisch verwertbare Information beinhalten würde. Auch der Befund für Massekhet Terumot, in dem der Name des palästinischen Amoräers Rabbi Yohanan auffällig häufig vorkommt, ist nicht zwangsläufig als Hinweis darauf zu interpretieren, dass dieser Traktat in seiner Schule produziert worden ist. Gewiss ist dem Vf. darin zuzustimmen, dass die Frage nach den Besonderheiten einzelner Traktate des Talmud Yerushalmi weitere Beachtung verdient. Doch sollte dies unter Berücksichtigung der kontemporären Forschung geschehen, die unter anderem in den redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen von G. A. Wewers (1984) und C. Hezser, Form, Function, and Historical Significance of the Rabbinic Story in Yerushalmi Neziqin (1993) bereits herausgearbeitet hat, dass sich z. B. allein auf Grund von Namensattributionen nicht nachweisen lässt, wo und von wem ein einzelner Traktat redigiert worden ist (man vergleiche dazu etwa auch die in P. Schäfer u. a. [Eds.], The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture I-III, Tübingen 1998-2002, gesammelten Beiträge von Forschern unterschiedlicher Herkunft, von denen keiner erkennen lässt, dass die vom Vf. angedachten Herkunftsbestimmungen noch ernsthaft in Erwägung gezogen werden können).

Einige Bemerkungen zu Details: In der Übersetzung des Traktates Berakhot findet sich eine Anmerkung zum Qaddish-Gebet, welches als eine erst in gaonäischer Zeit aufgekommene "Institution" (84) bezeichnet wird. So sehr auffällt, dass sich im Yerushalmi noch kein Hinweis auf das Qaddish findet (und so sehr der Rezensent die hier in Erwägung gezogene Spätdatierung dieses zentralen Gebets für vertretbar hält), verwundert die Bemerkung dennoch, da sie sich nicht auf den sich im Yerushalmi spiegelnden palästinischen Ritus, sondern auf den heute üblichen Gebetsverlauf bezieht. Auch hieran zeigt sich das traditionelle, vornehmlich inner-jüdische Interesse des gesamten Übersetzungsunternehmens, welches dafür allerdings im Vergleich mit den klassischen hebräischen Kommentaren, wie sie etwa für den Traktat Berakhot existieren, sehr knapp gehalten ist. Sätze wie "we know that the sect at Qumran were Sadducees ..." ("Berakhot", 117, Anm. 117 u. ö.) zeigen darüber hinaus, dass neuere, differenziertere Forschungspositionen hinsichtlich der Identifizierung der hinter den Texten aus den Höhlen vom Toten Meer stehenden Personengruppe nicht berücksichtigt werden. Ungenau bzw. missverständlich ist, wenn "Berakhot", 377, Anm. 177, auf eine "Yeshivah of Rebbi Abbahu" hingewiesen wird: Auch wenn man das Wort Yeshiva allgemein als Bezeichnung für jede Art von Versammlung oder auch Lehrbetrieb verwenden kann - und so wird es undifferenziert in älterer oder hebräischer Fachliteratur, mangels synonymer Begriffe, nach wie vor oft getan -, hat sich in der Fachwissenschaft für Yeshiva die Bedeutung im Sinne einer festen Institution herausgebildet, wie sie erst in nach-talmudischer Zeit in Babylonien entstanden ist. Zur merkwürdigen, wohl nicht an einer etwaig vorausgesetzten palästinischen Aussprache orientierten Vokalisierung des Titels "Rebbi" (im hebräischen Text "ribbi"), welche so nur in sefardischen und yemenitischen Manuskripten anderer Schriften belegt ist, vgl. Y. Kutscher, Archive of the New Dictionary of Rabbinical Literature, Bd. I, Ramat-Gan 1972, 41 f. (hebr.); demnach ist für den palästinischen Kontext unbedingt an der Aussprache und Vokalisation "Rabbi" festzuhalten.

Bei aller Kritik an der Gesamtausrichtung und an der nicht an der aktuellen Forschung orientierten Einleitung und Kommentierung bleibt dennoch zu wünschen, dass diese an einsichtigen Einzelbemerkungen nicht arme Bearbeitung dazu beiträgt, den Talmud Yerushalmi als wichtige Quelle für das Verständnis des antiken Judentums besser zu erschließen und dieses gegenüber dem Babylonischen Talmud vernachlässigte Hauptwerk der rabbinischen Literatur auch unter Nichtfachleuten bekannter zu machen. Falls, wie für die Traktate Berakhot, Terumot, Ma'aserot und Ma'aser sheni, bereits die deutschen Bearbeitungen in der von M. Hengel und P. Schäfer u. a. herausgegebenen Reihe vorliegen, sollten diese ergänzend zu Rate gezogen werden. Für einen exemplarischen Vergleich mit den von J. Neusner edier-ten englischen Übersetzungen sei auf die Besprechung von D.Instone-Brewer, in: Review of Biblical Literature 05/2004 (http://www.bookreviews.org) verwiesen.