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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

225–227

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lüdemann, Joachim

Titel/Untertitel:

August Mylius (1819-1887). Lutherische Missionarsexistenz in Tamilnadu und Andhra Pradesh.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2002. II, 613 S. m. 2 Ktn. 8 = Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, 15. Kart. Euro 40,90. ISBN 3-8258-5798-0.

Rezensent:

Michael Bergunder

Die vorliegende Untersuchung und Göttinger theologische Dissertation ist August Mylius, dem Begründer der Hermannsburger Mission in Indien, gewidmet. Mylius ist eine der interessanteren Missionarspersönlichkeiten des 19. Jh.s. Er war von 1847 bis 1850 als Indien-Missionar der Leipziger Mission vor allem in Tamilnadu, in der Gegend um Tranquebar, tätig. Nachdem er im Streit die Leipziger Mission verlassen hatte, kehrte er nach Deutschland zurück und wirkte von 1851 bis 1864 als Pastor in Hannover. 1864 kehrte er als Pioniermissionar der Hermannsburger Mission nach Indien zurück und "sicherte" für diese Missionsgesellschaft ein Missionsgebiet im südlichen Andhra Pradesh, dem Gebiet um Ventakagiri. Er leitete dort die von ihm begründete Arbeit bis zu seinem Tode 1887.

Joachim Lüdemann, der selbst der Hermannsburger Mission nahe steht, hat nach Auswertung aller ihm zur Verfügung stehenden Quellen aus den entsprechenden Missionsarchiven, insbesondere in Hermannsburg und Leipzig, eine umfangreiche Studie zu Leben und Werk von Mylius vorgelegt. Im Kern fußt die Arbeit auf den fast vollständig erhaltenen Briefen von Mylius, die er aus Indien an die Missionsleitung in Deutschland schrieb. Die Briefe bilden das Rückgrat der nüchternen Darstellung, die sich bemüht, aus diesen Quellen eine unvoreingenommene Mylius-Biographie zu rekonstruieren. Aber das voluminöse 600-seitige Werk geht weit darüber hinaus. Zu allen entscheidenden Sachfragen und Auseinandersetzungen, mit denen es Mylius in Indien zu tun hatte, werden in umfassender Weise weitere Archivalien und zeitgenössische Missionsliteratur herangezogen, so dass zum Teil zugleich eine allgemeine Missionsgeschichte geschrieben wird.

Auf Grund seiner konsequenten und vorurteilsfreien Quellenauswertung kann L. zahlreiche wichtige Details der großen innermissionarischen Auseinandersetzungen in der lutherischen Indienmission des 19. Jh.s, an denen Mylius beteiligt war, ergänzen und korrigieren (z. B. durch seine sehr differenzierte Einschätzung des Missionars Glasells im so genannten "Kleiderstreit" 1849/50 oder durch das Aufzeigen der komplexen Hintergründe für den "Kastenstreit" zwischen Leipzig und Hermannsburg 1872-1877), wie er auch die inneren Spannungen und Zerwürfnisse innerhalb der Hermannsburger Indien-Mission (Dahl-Krise 1872 und die "Mitarbeiterkrise" 1877-1880) in einer bisher nicht gekannten Ausgewogenheit und Multiperspektivität beschreibt. Klassische Hermannsburger Missionslegenden, wie der angebliche Bekehrungswille des Rajas von Venkatagiri, werden anhand der Quellen nachhaltig entmythologisiert.

Der im Mittelpunkt der Untersuchung stehende Mylius wird bei L. zu einer ambivalenten Figur. Zum einen zeigt der Junggeselle Mylius eine asketische und selbstlose Aufopferung für die Sache, die von L. entsprechend gewürdigt wird. Gleichzeitig entpuppt er sich aber auch als schwache, autoritätshörige und autoritäre Leitungspersönlichkeit mit einem gestörten Verhältnis zu Frauen und Familie. An seiner Person kann L. überzeugend die zahlreichen Eigenheiten und inneren Strukturprobleme der Hermannsburger Mission herausarbeiten. Der extreme Konfessionalismus, der sich bei Mylius gegen Katholiken und Reformierte gleichermaßen richtete, führte zur radikalen Selbstisolierung gegenüber anderen Missionsgesellschaften. Sein antidemokratischer, konservativ-patriarchalischer Führungsstil führte zu permanenten Zerwürfnissen unter den Hermannsburger Missionaren, so dass sie oft vor allem mit sich selbst beschäftigt waren. Gleichzeitig verhinderte dies eine wirkliche Perspektive für den Aufbau einer einheimischen Kirche, wie Mylius auch durch fragwürdige finanzielle Unterstützungspraktiken strukturelle ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse bei den neu gewonnenen Gemeindegliedern schuf. Hinzu kommt, dass die Hermannsburger nach L. kaum Kenntnisse über den religiösen und kulturellen Kontext hatten, in dem sie sich bewegten, und "innerlich relativ abgeschlossen von der indischen Umwelt" (589) lebten.

Allerdings fehlen bei L. die Einordnungen und Einschreibungen der Hermannsburger Mission in den weiteren Kontext. L. ist sich dieses Mankos bewusst und er verweist mit Bedauern auf die fehlende Quellenlage, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er damit de facto in seiner Studie eine durch und durch eurozentrische Missionarsperspektive reproduziert und damit die klassische Missionsgeschichtsschreibung fortführt, die es endlich zu Gunsten einer indischen Christentums- und Religionsgeschichte zu überwinden gilt. Auch wird die eigentlich notwendige Anschlussfähigkeit an die gegenwärtigen Strömungen der neueren, Indien betreffenden Kolonialgeschichtsschreibung, die sich z. B. mit den Stichworten Orientalismus-Debatte, Postkolonialismus und Subaltern Studies verbindet und wo die Rolle des Christentums zunehmend Beachtung findet, gar nicht erst versucht. Es scheint überdies, dass es nicht nur die fehlenden Quellen, sondern auch die mangelhaften historischen und philologischen Kenntnisse L.s im Hinblick auf die moderne südindische Religionsgeschichte sind (vgl. z. B. 127 und 300-312), die den eurozentrischen Tunnelblick verstärken. Es hätte sich durchaus angeboten, einige bemerkenswerte Leitspuren, die den Fokus weg von der Missionarsperspektive zur indischen Seite wenden, in den breiteren zeitlichen und räumlichen Kontext einzuordnen, wie etwa den Gebrauch des Telugu bei Mylius (wozu L.s Ausführungen völlig ungenügend sind), die Benutzung von Charles Philipp Brown's Vemana-Ausgabe in der Missionspredigt, die "Kastenschule" in Tirupati, die Mala-Konversionen in Andhra Pradesh.

Diese - m. E. allerdings entscheidenden - Grundsatzfragen schmälern nicht das Verdienst L.s, in stupender Kernerarbeit und sorgfältiger historischer Analyse eine umfassende und in gewissem Sinne erschöpfende Biographie von Mylius vorgelegt zu haben. (Direkte Kritik ist lediglich anzumelden an den vielen inhaltlichen Wiederholungen des etwas zu dick geratenen Buches, wo L. ab und zu selbst die Übersicht über den, zugegebenermaßen, immensen Stoff verloren hat. So ist z. B. die ausführliche Anm. 8 auf S. 405 völlig identisch mit Anm. 1 auf S. 452.)