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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

217–219

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Altena, Thorsten

Titel/Untertitel:

"Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils". Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884-1918.

Verlag:

Münster-New York-München-Berlin: Waxmann 2003. XII, 531 S. m. Abb. u. CD-ROM. gr.8 = Internationale Hochschulschriften, 395. Kart. Euro 44,90. ISBN 3-8309-1199-8.

Rezensent:

Heinrich Balz

An radikaler Selbstkritik hat es der historischen Missionswissenschaft nicht gemangelt, auch nicht an marxistischer und psychologischer Interpretation, die, zumal für Afrika, alles, was man vordem als Erfolg der Mission verbuchte, nachträglich als "Gewalt" deutete - eben darum, weil es die Afrikaner von ihrer angestammten Religion zu einer anderen verführt hatte. Was fehlte war, wenige Aufsätze ausgenommen, der ruhige Blick der Historikerzunft, um die Mission nach ihrer Bedeutung auch für die Heimat und für die determinierende Kraft der Herkunft auf das hin, was die Missionare in Afrika taten, gründlicher zu begreifen.

Eine umfassende, solide dokumentierte Untersuchung zu dieser Frage liegt in der Münsteraner Dissertation von Thorsten Altena vor. Ihr zentrales Thema ist das kollektive Unhinterfragte, die "Mentalität" von knapp 700 deutschen evangelischen Afrikamissionaren, die dort zwischen 1884 und 1918 arbeiteten. Zur eigentlichen Untersuchung von 400 S. kommt eine beigefügte CD-ROM mit weiteren 600 S. biographischen und statistischen Materials hinzu; ein Arbeitsinstrument, das künftigen Forschern manche aufwendige Reise zu den Archiven der sieben befragten Missionsgesellschaften ersparen kann.

Kapitel 1 (13-71) gibt eine historischen Skizze des Verhältnisses zwischen deutschem Kolonialstaat und protestantischer Mission in Afrika. Auch die älteren Missionsgesellschaften (Rheinische in Südwest-Afrika, Norddeutsche in Togo, Basler) wurden durch den deutschen Kolonialerwerb ab 1884 in tiefe Veränderungen hineingezogen; stärker noch vom Stimmungswandel daheim war der missionarische Anfang in Deutsch Ostafrika bestimmt, wo Berliner und Herrnhuter Missionare zum Maji-Maji-Aufstand keine eindeutige Stellung bezogen. Kapitel 2 (72-190) rekon- struiert den allgemeinen geistigen Hintergrund der deutschen Afrikamissionare: nicht nur ihr biblisches Sendungsbewusstsein und den heimischen Werbungsbetrieb zur materiellen Absicherung der Mission, sondern auch ihr eurozentrisches Verständnis von Kultur, die "Verfremdung der Fremden". Vier kategoriale Afrikabilder findet A. bei ihnen am Werke: ein negativ-intentionales, vom "finsteren Heidentum" bestimmtes, ein positiv-intentionales und ein positiv-relativiertes; schließlich das "volksorganische" Bild, das aber einem willkürlichen Volksbegriff huldigte. Von Rassismus können die Missionare überwiegend freigesprochen werden, nicht aber vom vielgestaltigen, in den Stationsordnungen wie in der "Erziehung der Neger zur Arbeit" sich niederschlagenden Paternalismus.

Kapitel 3 (191-314) behandelt, komplementär zum allgemeinen, den persönlichen Hintergrund der Missionare, welcher sie im "Export überkommener Strukturen" weithin unbewusst bestimmte. Dies Kapitel ist das dichteste, erhellendste der ganzen Untersuchung. Dass Württemberg, Westfalen und Sachsen die meisten Missionare stellten und dass sie überwiegend aus handwerklich-bäuerlichem Milieu stammten, ahnte man schon, findet es aber hier erstmals statistisch genau belegt. Ein Drittel von ihnen kam aus Familien mit mehr als vier Kindern, viele waren Waisen; der Anteil bildungsbürgerlicher Herkunft, welcher die Missionsleitungen prägte, ist bei den Missionaren selber minimal. Die aus den Bewerbungsbiographien erschlossene religiöse Sozialisierung ist bei allen dörflich, von persönlicher Bekehrung und einem dualistischen Bild der Welt getönt. Konfirmation, Jünglingsvereine und Reden von Missionaren kommen bei allen vor der eigenen Entscheidung für die Mission vor. Misstrauen gegen modern städtisches Leben daheim bestimmt das dörflich christliche Ideal für Afrika. Seltsam unterbetont bleibt bei A. das missionarische Motiv der Seelenrettung. Hingegen gibt er, mit maßvoller Hermeutik des Verdachts, einleuchtenden und reichen Aufschluss über die profanen Anteile der Motivation: Lerneifer, Wissbegier, sozialer Aufstieg und Absicherung sowie - wohl nicht ganz so einfach auf die profane Seite zu verbuchen, wie A. will - Bereitschaft zum Abenteuer und Leiden bis hin zum Märtyrertod. Opposition gegen die heimatliche Missionsleitung von Afrika aus war eigentlich vom System her ausgeschlossen, fand aber bei einzelnen starken Charakteren zuweilen statt.

Kapitel 4 (315-411) geht auswählend und typisierend, aber insgesamt weniger innovativ als das dritte, den Wegen der Missionsarbeit in den verschiedenen deutschen Gebieten nach: Die Missionare machten herkunftsbedingt ihre Fehler, lernten aber schrittweise ihre afrikanischen Gegenüber, die Häuptlinge und Könige, verstehen und wagten sich verspätet auch an das entstehende städtische Leben, wie in Lome in Togo, heran. Die Aufmerksamkeit A.s richtet sich auf die sozialen und politischen Wirklichkeiten Afrikas, während er auf die von den Missionaren früh und ausführlich beschriebene afrikanisch traditionale Religion nur summarisch bzw. "kategorial" zu sprechen kommt.

Über mehrere Dinge lohnt es sich, mit A. ins Gespräch zu kommen. Insgesamt ist die eigentlich wissenschaftliche Arbeit besser als die ihr - nachträglich? - übergeworfene Systematisierung von Selbst- und Fremdverständnis, Vertrautem in der Fremde, für die Fremde, Vertrautem und Fremdem. Beklagt wird, dass die Missionare überhaupt zwischen "Heimat" und "Fremde" einen Unterschied machten; unerörtert bleibt, was sie statt dessen denn hätten denken sollen oder können. Über ihre kategorialen Afrikabilder hinaus entdeckt A. bei den Missionaren Topoi, Stereotypen, Klischees und Projektionen: Gewiss gibt es das alles, im Schreiben der Missionare für die Heimatgemeinde vermutlich noch mehr als in ihrem Wahrnehmen. Doch alledem schlicht das objektive, "real existierende" Afrika gegenüberzustellen, selten und inkonsequent nur mit "uns heute" genauer situiert, das erscheint von einem kritischen, mit Mentalitäten befassten Historiker im Jahre des Kant-Jubiläums doch etwas zu einfach.

Die eigentliche Stärke der Arbeit liegt in dem an P. Jenkins' Untersuchungen anschließenden genauen Blick auf die deutsche Heimatgeschichte, die Vorauserfahrungen und sozialen Zwänge, welche die Missionare dann auch in Afrika nicht losließen. Weiter zu fragen wäre hier, warum in Kamerun etwa die katholischen deutschen Missionare schneller den Weg zu den städtischen Verhältnissen und den Plantagenarbeitern fanden als die protestantischen; warum das Zusammenspiel zwischen handwerklichen Missionaren und bildungs- und großbürgerlichen Missionsleitungen so lange funktionierte und welche Aspekte des heimatlichen Missionsbetriebs von der frühen Missionskritik und -satire, etwa bei Th. Fontane und Th. Mann in den Buddenbrooks, besonders aufgespießt wurden - auch dies gehörte zur Heimatgeschichte der Mission.

In seiner Schlussbetrachtung (412-421) wünscht A. einen Paradigmenwechsel hin zur "gemeinsamen europäisch-afrikanischen Geschichte" herbei. Hier kann man ihn darauf hinweisen, dass ein solcher bei einigen westafrikanischen Religions- und Kirchenhistorikern wie L. Sanneh und K. Bediako mit der methodisch konsequenten Unterscheidung von "transmission" und "reception" der christlichen Botschaft in Afrika schon stattgefunden hat. A.s eigene Epochenabgrenzung mit dem Einschnitt 1918, dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft, ist freilich noch rein europäisch gedacht und in zwei Richtungen zu relativieren: Für die entstandenen afrikanischen christlichen Gemeinden bedeutete dieser Einschnitt kein Ende, sondern die - in anderen europäischen Kolonien erst später einsetzende - erfolgreiche "Mission ohne Missionare" (so J. N. Dah 1991). Für manche wichtigen deutschen Missionare andererseits, deren Biographien A. 1918 abbrechen lässt, wie D. Westermann, B. Gutmann und J. Ittmann, bedeutete der zweite Afrikaaufenthalt nach 1925 ohne deutsche Kolonialmacht im Rücken erst den eigentlichen, vertieften Einstieg in ein neues Stadium des "Fremdverstehens", von dem die allgemeine Afrika-Wissenschaft bis heute profitiert und das bezeugt, dass missionarische Interaktion kein Hemmnis des Afrika-Verstehens war oder sein muss.