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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

214–216

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Ziebertz, Hans-Georg, Kalbheim, Boris, u. Ulrich Riegel

Titel/Untertitel:

Religiöse Signaturen heute. Ein religionspädagogischer Beitrag zur empirischen Jugendforschung. Unter Mitarbeit v. A. Prokopf.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus; Freiburg: Herder 2003. 443 S. m. Tab. 8 = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 3. Kart. Euro 44,95. ISBN 3-579-5292-6 (Kaiser/Gütersloher); 3-451-28069-8 (Herder).

Rezensent:

Gerald Kretzschmar

"Frage: Ich möchte dir gerne ein paar Fragen zu deiner Religiosität stellen. Claudia: Fragen zu meiner Religiosität? Wozu denn das? Frage: Wir wollen herausfinden, was Jugendliche glauben und was das für den Religionsunterricht bedeutet. Claudia: Bringt's das? Frage: Können wir etwas verbessern ohne zu wissen, was ihr denkt? Claudia: Meinetwegen, wenn's euch hilft. Ich mein' aber, es is' doch eh' schon alles gesagt."

Das Zitat aus der Einleitung des im Rahmen des Forschungsprogramms "Religionspädagogik in der Pluralität" am Lehrstuhl für Religionspädagogik der Universität Würzburg entstandenen Bandes artikuliert seitens der interviewten Claudia eine Skepsis: Kann eine empirische Untersuchung der Religiosität Jugendlicher wirklich noch Neues, gar für den schulischen Religionsunterricht Relevantes zu Tage fördern? Nach der Lektüre des Bandes kann der skeptischen Frage mit einem eindeutigen "Ja" begegnet werden. Die Ursache für die positive Beantwortung der Frage liegt primär in der Haltung, die dieser empirischen Forschungsarbeit zu Grunde liegt. Sie wird im ersten Teil des Bandes (15-59), der den Ansatz der Untersuchung schildert, zum Ausdruck gebracht. So verzichten die Autoren auf normative und globale Analysekategorien und fühlen sich einer differenzierten Wahrnehmung von Jugend verpflichtet. Daran anknüpfend begreifen sie Jugend nicht als Defizitphänomen, sondern rechnen mit spezifischen Kompetenzen, die es Jugendlichen erlauben, ihr Leben auf eigenständige und individuelle Weise zu leben. Folglich wird bei der Beschreibung gegenwärtiger gesellschaftlicher Strukturen auf pejorative Programmbegriffe wie beispielsweise Indifferenz und Patchwork-Identität verzichtet und der deskriptiven Kategorie der strukturellen Individualisierung der Vorzug gegeben. Gleiches gilt für das Verständnis gegenwärtiger Religion und Religiosität: Sie wird nicht vorschnell aus der Perspektive einfacher Säkularisierungsthesen interpretiert, sondern als plurales Phänomen und, in Anlehnung an Joachim Matthes, als diskursiver Tatbestand begriffen. Beste Voraussetzungen also, um religiöse Signaturen heute empirisch zu erforschen.

Konkret geschieht dies, indem die Religiosität Jugendlicher auf dem Makro-, Meso- und Mikroniveau empirisch betrachtet wird. Dabei lauten die Untersuchungsfragen: Wie nehmen Jugendliche die weltanschaulich plurale Gesellschaft wahr und welche Plausibilität hat für sie die Religion in der Pluralität (Makroniveau)? Welche Einstellung haben Jugendliche gegenüber religiösen Institutionen und welche Akzeptanz haben institutionell vermittelte religiöse Angebote (Mesoniveau)? Welche persönliche religiöse Einstellung haben Jugendliche und welche religiöse Praxis pflegen sie (Mikroniveau)? Schließlich: Gibt es Zusammenhänge zwischen den Einstellungen zur Plausibilität von Religion in der Pluralität, religiösen Institutionen und individuellen religiösen Stilen? Lassen sich daraus typologische Muster entwickeln (Makro-, Meso- und Mikroniveau)?

Um diese Fragen zu beantworten, wurden eine quantitative und eine qualitative Studie durchgeführt. Die quantitative Studie ist international angelegt und fand in den Niederlanden, in Deutschland, in Österreich und in Großbritannien statt. Insgesamt wurden 1987 Personen im durchschnittlichen Alter von 16,2 Jahren befragt. Die Befragten gehören überwiegend der römisch-katholischen Kirche an. Aber auch Protestanten und Anglikaner sowie Jugendliche, die anderen christlichen Kirchen angehören oder keine Religionszugehörigkeit haben, wurden befragt. Die Auswertungen des Bandes greifen aus der Befragtengesamtheit die deutsche Teilstichprobe heraus, die aus 729 Gymnasiasten der 9. Klasse aus Unterfranken besteht. Die Teilstichproben anderer Länder werden gelegentlich zu Vergleichszwecken mit herangezogen. Die qualitative Stichprobe umfasst ausschließlich deutsche Schülerinnen und Schüler der 10. und 11. Jahrgangsstufe aus mehreren Gymnasien in Unterfranken. Hier wurden insgesamt 28 Jugendliche mit der Methode des problemzentrierten Interviews nach Mayring befragt.

Nun einige Befunde, zunächst zum Makroniveau (61-119): Die Mehrzahl der Jugendlichen sieht Kirche und Religion einerseits und Moderne andererseits keineswegs als unvereinbare Größen. Vielmehr befindet sich das Verhältnis von Kirche und Religion zur Moderne in einer Phase der Veränderung, ohne dass ein Endstadium bereits erreicht oder abzusehen ist. Grundsätzlich befürwortet eine Mehrzahl der Jugendlichen Pluralität im sozialkulturellen Bereich. Pluralität, auch in religiöser Hinsicht, ist für Jugendliche kein Problem, sondern Normalität.

Zum Mesoniveau (121-230): Die Jugendlichen sehen keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Glaube und Kirche. Der Glaube des und der Einzelnen besteht unabhängig von den Normen der Institution Kirche und muss aus Sicht der Jugendlichen von jedem Menschen selbst entwickelt werden. Religiöse Rituale im Rahmen kirchlicher Amtshandlungen werden von den Jugendlichen stark befürwortet. Ebenfalls befürwortet - im Sinne eines allgemeinen Interesses - wird der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen.

Zum Mikroniveau (231-380): Die Untersuchungsergebnisse zeigen hier eine gewisse Gelassenheit gegenüber der Bedeutung von Religion im eigenen Leben. Sie ist als Teil des eigenen sozialen Umfelds akzeptiert und fordert weder zu großer Ablehnung noch zu großer Identifikation heraus. Entscheidend ist hier der Blick auf die Einzelfälle, der religiöse Individualisierung als Grunddatum der Religiosität Jugendlicher erkennen lässt. Hinsichtlich der Wertorientierung Jugendlicher belegen die Daten keinen Werteverfall, sondern ein spezifisches Profil: Lebensgenuss, individuelle Freiheit und Unabhängigkeit, ein Leben in Harmonie mit sich selbst sowie das Erleben von Sexualität sind dabei zu nennen. In Bezug auf Vorstellungen von Gott und dem Göttlichen kann festgestellt werden, dass Jugendliche Aussagen befürworten, in denen Gott entweder in abstrakten Begriffen oder als immanent erfahrbare Kraft thematisiert wird.

Makro-, Meso- und Mikroniveau in der Zusammenschau (381-413): Im Rahmen einer Typologie versucht die Untersuchung, Interdependenzen zwischen den empirisch analysierten Niveaus herauszustellen. Dabei wird ein kirchlich-christlicher Typ (16,7 %) ermittelt, ein christlich-autonomer Typ (27,4 %), ein konventionell-religiöser Typ (20,6 %), ein autonom-religiöser Typ (20,0 %) und ein nicht-religiöser Typ (15,3 %). Damit ist eine Deutung der Befunde im Rahmen genereller Säkularisierung nicht möglich. Stattdessen bilden die Typologie wie auch die zahlreichen Einzelanalysen auf Makro-, Meso- und Mikroniveau pluriforme Religionsmuster ab, die als moderngesellschaftlicher Ausdruck religiöser Individualisierung begriffen werden können.

Die Untersuchung bietet eine Fülle an empirischem Material, das wertvolle Impulse für die Jugendforschung im Allgemeinen und die religionspädagogische Arbeit sowie die Praktische Theologie im Speziellen bietet. Das verdankt sich nicht zuletzt dem Grundverständnis der Untersuchung, das empirische Forschung als eigenständige Form des Theologie-Treibens versteht. Damit macht sich die Praktische Theologie frei von ideologischen Hypotheken, wie sie etwa in Gestalt einfacher Säkularisierungsthesen und gesellschaftskritischer Verfallsdiagnosen anzutreffen sind. Den Konstitutionsbedingungen der modernen Gesellschaft sowie modernen Lebensformen Rechnung tragen zu können sowie den neuesten Stand praktisch-theologischer Forschung für empirische Religions- und Kirchlichkeitsforschung fruchtbar zu machen, ist der positive Effekt eines solchen Ansatzes. In Bezug auf spezielle religionspädagogische Fragestellungen besteht das Verdienst der Untersuchung darin, dass alle Kapitel, die empirische Ergebnisse präsentieren, jeweils mit einem Abschnitt enden, in dem die empirischen Befunde mit aktuellen religionspädagogischen Fragestellungen und Theorien ins Gespräch gebracht werden.

Noch zwei kritisch-perspektivische Anmerkungen: Neuere religions- und kirchensoziologische Untersuchungen arbeiten immer häufiger sowohl mit einem quantitativen als auch mit einer qualitativen Teiluntersuchung. Um die Befunde beider Untersuchungen füreinander fruchtbar zu machen, wird dabei oft das Verfahren der Triangulation gewählt. Das strebt auch die vorliegende Untersuchung an. Die Umsetzung dagegen ist noch nicht überzeugend. Sie verbleibt in der Regel auf der Ebene der Illustration der zuvor quantitativ erzielten Befunde. Das ist erkenntnis- und aufschlussreich, lässt jedoch einen echten dialogischen Charakter zwischen quantitativem und qualitativem Zugang vermissen.

Eine zweite Perspektive bezieht sich auf die in der Untersuchung vorfindbare Reichweite der Begriffe Pluralismus und Pluralität. In der Regel werden sie auf sozialkulturelle und interreligiöse Strukturen bezogen. Für das Verständnis und die Erforschung religiöser Signaturen in der modernen Gesellschaft dürfte es darüber hinaus nicht unbedeutend sein, mit massiven Pluralisierungsprozessen auch innerhalb von Religionen und kirchlichen Institutionen zu rechnen. Womöglich verdanken sich die pluralen Zugänge zu Religion und Kirche seitens der Menschen nicht zuletzt den pluralen Strukturen, die (christliche) Religion und Kirchen in der modernen Gesellschaft selbst charakterisieren. Die Untersuchung lässt ab und zu aufscheinen, dass ihr dieser Zusammenhang durchaus bewusst ist. Forschungspraktisch findet er jedoch kaum Niederschlag.

Allen, die sich mit gegenwärtiger Religion und Religiosität befassen, sei die Würzburger Studie empfohlen. Neben der Religiosität Jugendlicher zeichnet sie ein breites und beeindruckendes Gemälde der Gegenwartsreligion. Pluralismus nicht als Bedrohung, sondern als theologisch zu würdigenden Normalzustand und für religiöse Bildung als zukunftsöffnende Chance vor Augen zu führen, ist die Leistung dieser Untersuchung.