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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

207–209

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Pohl-Patalong, Uta

Titel/Untertitel:

Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 276 S. gr.8. Kart. Euro 39,30. ISBN 3-525-60412-2.

Rezensent:

Herbert Lindner

Strukturfragen üben eine große Faszination auf Kirchenverantwortliche aus. Zumal in Zeiten knappen Geldes verspricht ihre Lösung dauerhafte Verbesserungen. Zu den lebhaft diskutierten Fragen gehört das Verhältnis von Gemeinden und funktionalen Diensten. Die Bonner Habilitationsschrift der Vfn. hat deshalb hohe Aktualität.

In Kapitel 1 wird das Thema einführend in der gegenwärtigen Krisenwahrnehmung und Reformdebatte verortet und ein Mangel an grundlegenden Reflexionen diagnostiziert. Das Parochialprinzip wird als dominante, wenn auch vielfach ergänzte Struktur gezeigt. Im zweiten Kapitel wird das Verhältnis des parochialen und nichtparochialen Prinzips in "konstruktivistischer Perspektive" (34) als "sozialer Konflikt" aufgefasst. Die Angemessenheit und nicht die "Richtigkeit" dient als Begründung für diese Entscheidung. Im Dialog mit neueren Konflikttheorien wird als Ertrag für die Fragestellung vor allem die produktive Kraft von Konflikten herausgestellt.

Das dritte Kapitel entfaltet in einem historischen Durchgang das Verhältnis. So spannt sich der Bogen von der frühen Christenheit bis zur Kirchenreform der 70er Jahre. Gerade die plastische Darstellung hinterlässt jedoch Fragen, ob die Reduktion des Problems auf einen Strukturkonflikt nicht doch wichtige Differenzierungen ausblendet. Leise Zweifel an der Tauglichkeit der Positionsbestimmungen sind angesichts der großen Bandbreite der Differenzkategorie des "Nichtparochialen" nicht zu unterdrücken. Sie werden auch dadurch genährt, dass für die Lösung im fünften Kapitel dieser Gegensatz denkerisch wieder verlassen werden muss.

Im vierten Kapitel wird dessen ungeachtet der Gegensatz entschlossen als Konfliktdiskurs inszeniert. Material ist die praktisch-theologische Diskussion. Die Vorgehensweise ist ein formalisiertes Argumentationsverfahren, bei dem die Vfn. die Rolle der Interpretin übernimmt.

Die Argumente werden nach soziologischen und ekklesiologischen Sachzusammenhängen strukturiert. Die jüngere praktisch-theologische Diskussion ab der Mitte der 80er Jahre wird mit dieser Methode aufbereitet. In der Folge werden die Argumente zum Thema aus parochialer und nichtparochialer Sicht referierend gegenübergestellt. Dieser Durchgang wird anschließend in ein Argumentationsschema aus Argument, Schlussregel und Konklusion gebracht. Was zunächst etwas künstlich erscheint und es wohl auch ist, ermöglicht einen raschen zusammenfassenden Überblick. Als ein Ertrag dieses Verfahrens wird deutlich, dass beide Seiten die gleichen Argumentationstypen verwenden.

Mit dieser Basis wird nun die Detailargumentation verlassen und übergreifende Gesichtspunkte kommen ins Spiel. Ein erstes Ergebnis besteht darin, dass die Positionen in dem Strukturkonflikt durch unterschiedliche Wahrnehmung bzw. Wertung der gesellschaftlichen Entwicklung und unterschiedliche Kirchenbilder bestimmt werden. Die größere Gemeinsamkeit auf der ekklesiologischen Ebene und die größeren Divergenzen auf der soziologischen Ebene führen zu der Feststellung: "Die Strukturfrage scheint damit stärker ein soziologisches als ein theologisches Problem zu sein." (202) Die Rolle der Interpretin verlassend beurteilt die Vfn. nun die Stärken und Schwächen der Argumentationen. Rein numerisch ergibt sich als Ergebnis, dass die nichtparochiale Seite besser punkten kann, aber auch die parochiale über stichhaltige Argumente verfügt (207).

Die Inszenierung als Konflikt hat keinen "Sieger" erbracht, denn beide Seiten haben gute Argumente für sich. Wohl aber sind die unterschiedlichen Argumentationslinien deutlich hervorgetreten. Das Verfahren hat damit seine analytische Kraft gezeigt. Allerdings macht sich an dieser Schnittstelle bemerkbar, dass die in der Konflikttheorie und in der praktisch-theologischen Diskussion angebotenen Konfliktlösungsstrategien von der Vfn. nicht mit gleicher Intensität einbezogen werden. Auch die Herausforderung für "Leitung", die in dieser Konstellation enthalten ist, wird nicht entfaltet.

Im fünften Kapitel schließlich legt die Vfn. ihre "Vision" für die gedankliche Lösung des Konflikts vor, mit dem sie einen "dritten Weg" skizzieren möchte, auf dem "das Gegenüber von Parochialität und Nichtparochialität denkerisch verlassen" (217) wird. Als Leitbegriff wird der "kirchliche Ort" gewählt, um die räumliche Kategorie zu nutzen. Beispiele sind natürlich Kirchen und Gemeindehäuser, aber auch Schulen, Akademien oder Tagungshäuser. Erwogen wird der Gemeindebegriff, wegen dessen parochialer Konnotationen wird diese Option jedoch verworfen. - Kirchliche Orte sollen mehrere "inhaltlich qualifizierte Arbeitsbereiche" aufweisen, aber auch ein organisatorisch klar getrenntes, ehrenamtlich geleitetes "vereinsähnliches kirchliches Leben" (230). Dieses gehört nicht mehr zum Aufgabengebiet von Pfarrerinnen und Pfarrern, sondern organisiert sich selbstreferentiell um die Pole Gemeinschaft und Geselligkeit, ohne unter dem Druck des "Eigentlichen" zu stehen (232). So soll die wohnortnahe Präsenz kirchlichen Lebens gewährleistet und die Weiterexistenz des bunten gegenwärtigen "Gemeindelebens" ermöglicht werden. Das sind sicher zukunftsträchtige Perspektiven für diesen Bereich des bisherigen "Gemeindelebens". Aber dass die in sich problematische Form einer von Milieuverengung bedrohten Vereinskirche für den funktionalen Bereich auf dem Weg zum "kirchlichen Ort" eine sinnvolle oder gar notwendige Ergänzung sein sollte, vermag nicht recht einzuleuchten. Die richtig festgestellte Gemeinschafts- oder Kontaktlücke dieses Bereichs könnte auch anders geschlossen werden.

Der zweite Pol sind die spezialisierten, "qualifizierten Aufgaben". Hier dominieren inhaltliche Aspekte und die öffentliche Wirksamkeit. Unabdingbar notwendig sind die fachliche Qualifikation und das Vorhandensein der notae ecclesiae. Zwei bis drei möglichst unterschiedliche Arbeitsbereiche sollen an einem "kirchlichen Ort" angeboten werden, z. B. Bildung und Obdachlosenarbeit.

Eine deutliche Veränderung ergibt sich im gottesdienstlichen Leben. Es ist als spezifisch auf das Aufgabengebiet bezogenes Angebot Kennzeichen aller kirchlichen Orte. Die Kasualien sind prinzipiell an jedem kirchlichen Ort denkbar. Auch könnten sich Kasualkirchen herausbilden. Die Rechtsfragen sind dadurch zu lösen, dass die Mitgliedschaft in der Landeskirche geführt wird. Eine Informationsstelle erschließt das Angebot für die Gemeindeglieder.

Als Ertrag ist festzuhalten, dass nun endgültig einseitige Positionen unter Verkennung der Bedeutung der jeweils anderen nicht mehr möglich sein dürften. Eine Lösung ist nur von differenzierten Ansätzen zu erwarten. Die Stärke des vorgelegten Konzepts ist die Suche nach der ekklesiologischen Qualifikation und die Aufnahme der Pluralisierung der Gesellschaft. Dem stehen allerdings Nachteile gegenüber. Der Verzicht auf den Gemeindebegriff ist gravierend - und für bisherige Ortsgemeinden wohl unpraktikabel. Auch werden nicht alle funktionalen Dienste wie z. B. gemeindeunterstützende Stellen legitimerweise den Schritt hin zu eigenständigen ekklesiologischen Größen tun wollen. Weiterführend ist der Impuls, auf dem Weg zu einem gleichberechtigten Miteinander verschiedener Gemeindebildungen die kirchliche Identität von funktionalen Diensten durch die Aufnahme der notae ecclesiae und vor allem durch ihr gottesdienstliches Leben klarer erkennbar werden zu lassen. Die weitgehende Lockerung des Parochialzwangs und die damit einhergehende Schwerpunktbildung in nachbarschaftlichen Kontexten ist ein notwendiger korrespondierender Schritt. Die Erkennbarkeit einer sich dergestalt differenzierenden evangelischen Kirche ist allerdings kein geringes Problem. Solche konvergierenden Entwicklungen sind im Augenblick in vielen Regionen im Gange. Die vorliegenden Überlegungen können diese Entwicklungen beschleunigen, befruchten und fundieren.

Und damit ist der nächste Konflikt zu inszenieren - und durch einen Perspektivenwechsel auf die Mitglieder und deren multiple und mehrdimensionale Nutzung kirchlicher Angebote auf den verschiedenen Zeit- und Raumebenen durch eine qualifizierte Leitung zu bearbeiten. Wer für die Strukturierungen kirchlicher Räume verantwortlich ist, wird gut daran tun, die Argumentation und die Ergebnisse sorgfältig zur Kenntnis zu nehmen. Dann wird auch die "Vision" der Vfn. ihre Wirkung haben, obwohl oder gerade weil sie sich verändern wird.