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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

203 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eller, Walter

Titel/Untertitel:

Aus dem Hören leben. Hymnologische und liturgische Vollzüge als Ästhetik der Wahrnehmung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 340 S. m. Abb. 8. Kart. Euro 38,00. ISBN 3-374-02085-2.

Rezensent:

Michael Heymel

Walter Eller, Dozent für Liturgik und Hymnologie, will in seinem Buch den christlichen Glauben als Gehalt eigener Lebenswelten beschreiben. Damit sind die Liturgie des Gottesdienstes und Traditionen der Musik gemeint, die vom Hymnus der Bibel und vom Kirchenlied herrühren: Lebensäußerungen, die in einer Ästhetik des Wahrnehmens greifbar werden. Durch sie sollen der Grundsatz, dass Theologie aus dem Gottesdienst entsteht und lebt (15), bewährt und die Kultur des Gottesdienstes als Glaubenspraxis gefördert bzw. neu wiedergewonnen (vgl. 29) werden. Mit der Darstellung der Lebensäußerungen des Glaubens, d. h. seiner sowohl künstlerischen wie theologischen Gestaltungen im Gottesdienst, werden einmal die theologischen Fakultäten herausgefordert, nach den Lebenswelten zu fragen, auf die ihre Forschung sich bezieht. Zum anderen möchte E. mit seinem Buch dazu anregen, die theologischen Gründe der Kirchenmusik und Belange ihrer künstlerischen Ausbildung wahrzunehmen. Das ist ein anspruchsvolles Projekt, und man ist beim Lesen gespannt, wie es durchgeführt wird.

Nach einem Gespräch mit dem Kirchenmusiker Christoph Bossert, in dem bereits das Grundanliegen eines ästhetischen Zugangs zur Kultur des Gottesdienstes anklingt, reflektiert E. in der umfangreichen Einleitung (33-90) die "kulturellen Grundlagen des christlichen Gottesdienstes" (16), nämlich biblische Überlieferung, Kirchenlied und Liturgie in ästhetischer Hinsicht. Hierbei will er zunächst "Schnittstellen zwischen Kunst und Theologie" (35) ermitteln. Sodann fragt er angesichts einer Theologie, die sich von gottesdienstlichen Vollzügen losgelöst hat und sich an den Entwicklungen neuzeitlichen Denkens orientiert, nach den Paradigmen theologischer Forschung (37). Drittens reflektiert er eigene Projekte, die dem Dialog zwischen Kirchenlied, Musik und Liturgie gewidmet sind. Im Hören beanspruchen verschiedene ästhetische Phänomene Aufmerksamkeit: die auf den Rahmen der biblischen Überlieferung verweisenden biblischen Lieder sowie Kirchenlieder und ihre Rezeption in musikalischen Gattungen, die Symbolik und Kulturtechnik der Mitteilung von Gottes Wort und Sakrament im Gottesdienst und schließlich die in der Form des Gottesdienstes mitgesetzten künstlerischen Grundkategorien. Hören und Sehen im Zusammenhang gottesdienstlichen Handelns werden als "transitorische Tätigkeiten" (60) begriffen, durch die "eine ästhetische Erfahrung des Wahrnehmens und Begegnens in Gang [kommt]" (61).

Die folgenden vier Hauptteile des Buches stellen die "Grundtexte" (16) bzw. "konstitutive[n] Aspekte" (62) des Gottesdienstes in ihrem ästhetischen, im Vollzug allererst wahrzunehmenden Zusammenhang dar. Der erste Teil (91-177) soll zeigen, dass in den biblischen Texten eigentlich "das in Zeichenhandlungen und gleichnishaften Erzählungen zum Ausdruck kommende Lebenszeugnis (Begegnung) ... gehört und wahrgenommen sein will" (88). Die Lieder (Hymnen) werden als "das tragende Potential" (37) und "als unableitbare Initiation und Potenz der Überlieferung des Glaubens" (95.131) verstanden. Im zweiten Teil (179-267) wird das evangelische Kirchenlied in seinen Gattungen und Epochen im Hinblick auf seine Grundhaltung, das biblische Lebenszeugnis zu pflegen, dargestellt. Hierbei geht E., ohne dass die Gründe dafür hinreichend geklärt werden, vom Kirchenlied des 20. Jh.s zurück zur Reformationszeit, um dann Beispiele aus lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärungszeitalter zu behandeln. Der dritte Teil des Buches (269-313) ist der Liturgie als Lebensraum gewidmet. Es wird festgestellt, dass die Gottesdienstkultur heute am Scheideweg stehe, insofern die Theoriebildung der Liturgie des Gottesdienstes mit dem evangelischen Gottesdienstbuch nicht mehr geistesgeschichtlich orientiert sei, sondern auf sozial beschreibbare Angemessenheit abziele. Gottesdienst werde nun zu einem "Ausdrucksgeschehen, das Antworten auf Alltagsfragen der Menschen organisiert und anbietet" (271). Bezeichnend für diesen Umbruch ist der Ausfall der reformatorischen Kategorien Sünde und Gnade ("Basisworte") aus dem Evangelischen Gesangbuch. E. begreift demgegenüber "Liturgie als offenes System" (283 ff.), das nicht in sozialen Funktionen aufgeht. Vielmehr ist es als Praxis symbolischer Handlungen zu verstehen, in der "die neue Welt zugleich zeichenhaft und real" (89) gelebt wird. Im vierten Teil (315-340) wird versucht, die "grundlegenden Möglichkeiten, den Lebensraum Kirche zu denken" (90), als Teil der Gottesdienstkultur zu beschreiben. Am Schluss stehen etwas unvermittelt Interpretationen von Aussagen Schleiermachers und Bonhoeffers zum Thema der Religion. Wie Kirche heute gedacht werden kann, bleibt offen.

E. hat unbestreitbar auf ein gewichtiges Problem hingewiesen: Wie kann man der fundamentalen Bedeutung des Gottesdienstes für die Theologie gewahr werden und eine protestantische Gottesdienstkultur wiedergewinnen, die Wort und Musik in ihrem Zusammenhang wahrnimmt? E. gelingen hierzu interessante und nachdenkenswerte Formulierungen und er eröffnet manche überraschende Einsicht. Einige hymnologische Interpretationen (z. B. zu Klepper 65 ff.187 ff.) und Erläuterungen zur Musik (z. B. zu Bach 68 ff.) gehören für mich zu den überzeugendsten Passagen des Buches. Gleichwohl hinterlässt die Lektüre einen zwiespältigen Eindruck. Gedankensprünge, Andeutungen, die nicht weiter ausgeführt werden, kryptische Sätze (vgl. z. B. 31.38.45.47.52), bibelkundliche Inhaltsangaben (mehrfach im ersten Teil), deren Nutzen für die Darstellung sich nicht erschließt, machen es dem Leser, selbst wenn er E.s Anliegen teilt, unnötig schwer, seinen Ausführungen zu folgen. Phänomene werden manchmal allzu rasch gedeutet, bevor sie gründlich und genau genug beschrieben wurden. Vor allem hätte der Anspruch der Arbeit es erfordert, den Lebensvorgang des Hörens kategorial und phänomenologisch zu erhellen. Dies wird ohne zureichende Begründung abgewehrt (52). Dass E. zur Sache (vgl. 41-60) nur verstreute Assoziationen aus der europäischen Geistesgeschichte beibringt, ohne den biblischen Befund zum Hören auszuwerten, hat zur Folge, dass das Hören als Grundkategorie von Musik und Theologie merkwürdig diffus bleibt. Eine starke Neigung zum systematisch-theologischen Zugriff auf den Gottesdienst und seine geschichtlichen Zusammenhänge bewegt E. dazu, sich in immer neuen Anläufen um totale Erfassung der Grundlagen christlicher Gottesdienstkultur zu bemühen und in seinem Diskurs eine Vielfalt von Elementen dieser Kultur summarisch zu besprechen. Weniger wäre hier mehr gewesen. Da die Ergebnisse der Untersuchung nicht zusammengefasst werden, weiß man am Ende kaum, was sie für die Wahrnehmung des Gottesdienstes erbracht hat. Das ist schade. Man kann E. nur wünschen, dass er sich entschlossen auf Einzelaspekte des vorgelegten Entwurfes konzentriert und an wenigen Beispielen herausarbeitet, was wir wahrnehmen, wenn wir Kirchenlieder singen, und wie Musik und Theologie ästhetisch aufeinander angewiesen sind.