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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

643–646

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Jörns, Klaus-Peter

Titel/Untertitel:

Die neuen Gesichter Gottes. Die Umfrage "Was die Menschen heute wirklich glauben" im Überblick.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997. XI, 261 S. m. Graphiken 8. Kart. DM 34,-. ISBN 3-7887-1522-7.

Rezensent:

Andreas Feige

Der Autor - ein Praktischer Theologe - verspricht im Titel und Klappentext, er werde berichten können, wie "die neuen Gesichter Gottes" aussehen und "was die Menschen heute wirklich glauben". Der Leser könne lernen, wie tief und wo diese "tiefen Gräben" zwischen der "offiziellen Glaubenslehre", wie sie "Dogmen und Katechismen spiegeln, und dem Glauben vieler Menschen" verlaufen. Das macht insbesondere auch Religionssoziologen neugierig, die sich ja ebenfalls um eine realitätsangemessene Wirklichkeitswahrnehmung zum ,Thema Religion’ bemühen. Deshalb wissen sie auch um die material ebenso wie erkenntnistheoretisch hochgradige Komplexität des Sachverhalts und damit der Aufgabenstellung. Das Interesse steigt noch, wenn sie bemerken, daß in der theoretischen Begründung für das Forschungsdesign bzw. das Fragebogeninstrument auf den Soziologen Thomas Luckmann Bezug genommen wird. Wie steht es um die Einlösung dieser Versprechen in der Wahrnehmung eines empirisch arbeitenden Soziologen?

Zunächst die zustimmenden Feststellungen:

(1) Die Unterscheidung von Jörns in ein ,glauben, daß ...’ als religiös unspezifischem Meinen/Denken und ,glauben an ...’ ein Transzendentes/einen persönlichen Gott leuchtet dem Rez. ein

(2) Das gilt ebenfalls für die Feststellung, daß ,glauben an bzw. daߒ "zu allen Zeiten ... mit den Lebensbeziehungen der Menschen zu tun (hat), und zwar ohne die Sinnfrage ausdrücklich zu thematisieren". Diese Einsicht gehört freilich, anders als Jörns meint, durchaus zum wissenssoziologischen Grundwissen. (3) Die auf Viktor v. Weizsäckers Gestaltkreis zurückgreifende und vom Autor dann recht steil als "Theorie von der Quaternität der Lebensbeziehungen" beschriebene Vierteilung elementarer Lebensbeziehungen (personale Lebensbeziehungen; Beziehungen zur Erde, zu Werten und Ordnungen und zur Transzendenz- ,Gott’ -) ist ein zumindest plausibles heuristisches Modell für den Versuch, das Religiöse theologisch wie soziologisch in der Lebenswelt der Menschen aufzuspüren. Soziologisch muß dies freilich unbeschadet (!) der Frage geschehen, ob es sich bei diesem Religiösen um etwas ,projiziertes’ oder ,geoffenbartes Wahres’ handelt. Nach diesen Zustimmungen bleibt für den Rez. das ,Aber’ leider unvermeidlich.

(1) Auch wenn sich die stichprobenstatistische Repräsentativitätsfrage für den Rezensenten nur nachrangig stellt, sind Erhebungsmethode und ,Architektur’ mancher Teilstichproben doch so beschaffen, daß man besser auf ihre Differenzierung bei der Auswertung verzichtet hätte - nur der empirisch-professionelle Leser liest die notwendigen Einschränkungen laufend mit.

(2) Luckmanns Unterscheidungen zwischen Alltags-Transzendenz und "Heiligem Kosmos" (als der wissenssoziologischen Chiffre von Religion) umgreifen durchaus das, worauf auch Jörns abhebt, nämlich das eigene Leben (,gut’) zu leben. Der Luckmannsche Zugang ist ein allgemeiner, so daß er auch christliche Überlieferungszusammenhänge und deren Erzählfiguren als Formgestalt des Heiligen Kosmos begreifen kann. Das wissenssoziologische Konzept von Luckmann ebnet gerade nicht, wie Jörns mißversteht, die Möglichkeit ein, konzeptuell eine "persönliche" Gottesbeziehung zu denken. Allerdings läßt er sich als Soziologe nicht dazu nötigen, dies allein mit ,offenbarungs-theologischer correctness’ zu tun. Die Abgrenzung zu Luckmann ist nicht überzeugend; so benutzt, eignet er sich nicht zur Profilierung eines eigenen theologischen Ansatzes.

(3) Entsprechend kann dem Rez. Jörns’ Unterscheidung zwischen Religion, Religiosität und religiös überhaupt nicht einleuchten. Man kann die Setzung von Jörns ("... wo die einen ein transzendentes Gegenüber glauben, das weder Setzung noch Konstrukt noch Projektion ist, sondern wirkliches Subjekt, und wo die anderen ein subjekthaftes Gegenüber nicht kennen, weil sie unsere Welt als in sich geschlossen ansehen", [23, kursiv von Jörns]) nicht als bereits durch diese Begriffsdifferenzierung begründet ansehen. Die Aussage, man ,glaube an’ ein transzendentes Gegenüber, das eben "wirkliches Subjekt" sei, schützt bekanntlich keineswegs vor dem Verdacht, eben dies sei Projektion: Die Zuordnung von ,Religion’ zu dem einen Typ und ,Religiosität’ zum anderen ist denn auch soziologisch nicht nachvollziehbar. Und sie ist im übrigen nicht schon deswegen ausreichend legitimiert, daß sie damit begründet wird, sie werde von einem "theologischen Ansatz" (24) aus formuliert. Welchem?

(4) Zwar: Wenn man sich denn entschieden hat, die begriffliche Differenzierung in der genannten Weise zu benutzen, dann mag man auch motiviert sein, zu erforschen, ob die Menschen zwischen einem "persönlichen Gott" und einer "transzendenten" Macht unterscheiden, wobei der Soziologe die Frage der Unvermeidlichkeit dieser Unterscheidung nicht zu beurteilen braucht. Aber: Es ist methodologisch eine höchst prekäre Hoffnung, man könne direkt danach fragen und dürfe damit annehmen, jeder einzelne Ja/Nein-Sager werde vor sich und anderen die Triftigkeit dieser Unterscheidung schon jederzeit zu explizieren wissen und deshalb auch in der Lage sein, auf der Ebene einer standardisierten Fragetechnik verläßliche Auskunft geben zu können. Dürften hier nicht Seelsorgegespräche im Berufsfeld praktischer Theologen genügend Anschauung dafür bieten, daß von einer solchen Sprachmächtigkeit gerade nicht auszugehen ist? Die dennoch von Jörns vollzogene positive Reliabilitätsvermutung ist für das Forschungsdesign deswegen von größter Bedeutung, weil das Auswertungskalkül der Untersuchung auf genau diese Unterscheidung ihren zentralen Wert legt: Die - für sich genommen z.T. durchaus informativen - Frageergebnisse werden in zwar zahlreichen, aber stets nur bivariat vorgenommenen, damit untereinander unverbunden und somit statistisch unterbestimmt bleibenden Analysen an der Typ-Unterscheidung (Gott- bzw. Transzendenzgläubigkeit) gespiegelt - also an einer Typisierung, die ihrerseits eben genau kein Ergebnis induktiv-statistischer Analyse, sondern nur das einer rein nominal bleibenden (Selbst-)Zuordnung ist. Das wäre solange ein zwar bescheidenes, aber doch hinnehmbares Ergebnis, solange Jörns nicht meinte, auf genau diese Weise belegen zu können, "daß und wie es sich im Bereich der personalen Lebensbeziehungen, der Beziehungen zur Erde sowie zu den Werten und Ordnungen auswirkt, ob ein Mensch an einen persönlichen Gott ... bzw. an überirdische Wesen ... glaubt" (199): An (zu) vielen Stellen wird in Jörns’ Formulierungen aus einer (grundsätzlich ungerichtet zweiseitigen) Korrelation unter der Hand jeweils eine auch richtungsmäßig eindeutig bestimmte Kausalität. Und durch die Vielzahl der präsentierten Korrelationen scheint ein ganzes soziologisch-empirisches Beweisgebäude zu entstehen. Korrelationen sind aber noch keineswegs per se Kausalitäten.

(5) Nun ist der Rez. keineswegs der Meinung, empirische Erkundungen im Feld des Redens der Menschen von ,Gott’ bzw. Transzendenz (darum soll es sich doch im Kern handeln, oder?) könnten nur auf der Ebene qualitativer Sozialforschungsmethoden, z. B. mittels biographischer Erzählinterviews, bewerkstelligt werden. Nein, auch ein massenstatistisch vorgenommenes, zwangsläufig ,plakatives’ Abfragen, ob man eine "persönliche Gottesvorstellung" habe und welches nomen man ihm zuordne, erscheint ihm gerechtfertigt; allein deswegen, weil es diese Sprachfigur gibt und sie als mit dogmatischem Geltungsanspruch behaftet bekannt und somit die Zustimmungs-/Ablehnungsverteilung interessant ist. Und auch bei dem gewiß nicht anspruchslosen Ziel, "die neuen Gesichter Gottes" erfassen und (darin) feststellen zu können, "was die Menschen heute wirklich glauben", scheint es dem Rez. möglich, mit statistisch-quantitativer Analysetechnik die erhobenen Datenmengen so zu ,lesen’, daß sie als angemessener Näherungswert an jenes Ergebnis betrachtet werden können, das man genauer nur in persönlicher Gesprächsführung erkunden und durch aufwendige sozialwissenschaftliche Hermeneutik analysieren kann. Aber: Ein solcher Näherungsweg über (massen-)statistische ,Modellierungen’ der Umrisse eines hochkomplexen Phänomens bedarf dann auch eines entsprechenden statistisch-analytischen Aufwandes und diesbezüglicher Kenntnisse. Sie standen wohl für diese Auswertung nicht zur Verfügung, zumindest sind sie nicht zum Einsatz gelangt. Und selbst für die von Jörns benutzte ,Einfach-Statistik’ und ihre Umsetzung in verbalisierte Ergebnisse ist im Lichte professioneller empirisch-methodischer Beurteilung eine (hohe) Inadäquanz festzustellen zwischen der vom Autor geübten ,Lesart’ (einschließlich so mancher Stilblüten) und dem mathematisch-statistischen Aussagekalkül, das den Grafiken auch dann immanent ist, wenn es sein Leser Jörns nicht zu bemerken scheint: Der Grund - dies als eines von vielen Beispielen - für den analytischen Perspektivenwechsel in der Interpretation der Grafik 11 (58) sowie deren sprachliche Verdinglichung auf der Basis nicht offengelegter Bezugsmaßstäbe ist - zurückhaltend ausgedrückt - vernünftig nicht nachvollziehbar. Diese und andere ,Lesarten’ sind, zumindest für den soziologischen Leser, Anlaß zu Mißtrauen in die Verläßlichkeit aller zusammenfassenden Aussagen, deren Herleitung er nicht nachgeprüft (oder für sich selber richtiggestellt) hat. Warum sollten theologische Leser weniger mißtrauisch sein?

Zusammenfassend: Es gibt ,Fliehkraftprozesse’ zwischen (christentums-)dogmatischen Aussagen und ihrer Akzeptanz bei den Menschen. Das ist eine auch Theologen hinlänglich bekannte Tatsache. Sie hat Generationen von (vermeintlich ,treuen’) Glaubenden beunruhigt und dem Theologenstand stets eine auskömmliche Berufsbegründung gegeben. Insoweit kann auch 1997 als schon bekannt gelten, daß die Menschen noch nie ,paßgenau’ das geglaubt haben, was Dogmen, Katechismen und die in ihrem ,Ansatz’ mitunter gnadenlos um Konsistenz bemühten Argumente von Theologen formuliert haben. Was die derzeitige Zustimmung zu ausgewählten topoi des Heiligen Kosmos der (christentumsgeprägten) Menschen angeht, ist in dieser Untersuchung an einer Reihe von z. T. interessanten Fragen erhoben worden. Wenn man von der Verarbeitung und Präsentation der Ergebnisse absieht, ist das auch für die professionelle empirische Religionssoziologie nützlich und verdienstvoll. Ob sich in den Ergebnissen manifestiert, "was die Menschen wirklich (!) glauben", kann bezweifelt werden. Es dürfte aber allein wegen dieses Zweifels natürlich nicht schon als widerlegt gelten. Mit theologischer Phantasie mögen sich in dieser Menge von Aspekten vielleicht auch neue Gesichter Gottes zeigen. Und die Ergebnisse geben, wie der Rezensent dem Autor mit Emphase zustimmt, berechtigten Anlaß zu Reflexionen über Ziel, Methode und Gegenstände des Deutungs-Geschäfts praktizierender Theologen. Aber als den Ausdruck einer religions-soziologischen, empirisch wenigstens ausreichend begründeten Analyse, d. h. hier vor allem: Als das Ergebnis einer statistisch-methodisch professionell modellierten (Daten-) Struktur dieser "Gesichter Gottes" sollten diese Ergebnisse besser nicht ,geglaubt’ werden.