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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

396 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Mayer, G. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Rabbinische Texte. II. Reihe: Tannaitische Midraschim. Übersetzung und Erklärung. Bd. III: Der Midrasch Sifre zu Numeri. Übers. u. erkl. von D. Börner-Klein. Teil I: Übersetzung. Teil II: zur Redaktionsgeschichte.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. XIV, 796 S. gr.8. Lw. DM 440,-. ISBN 3-17-013634-8.

Rezensent:

Clemens Thoma

Dagmar Börner-Klein’s Übersetzung, Strukturierung und historisch-literarische Einordnung des tannaitischen Midraschs zum vierten Buch Moses (Sifre Bemidbar, Sifre Numeri; Abk.: SNu oder SifBem) löst die (inzwischen vergriffene) Übersetzung und Kommentierung dieses Midraschwerkes von Karl Georg Kuhn (Der tannaitische Midrasch zu Numeri, Stuttgart 1959) ab. Die von der Philosophischen Fakultät der Universität Köln angenommene Habilitationsschrift ist eine akribische und weitschauende Leistung, die die rabbinisch-judaistische Forschung und die Exegese biblischer und nebenbiblischer Texte samt deren Wirkungsgeschichte positiv beeinflussen wird.

Im ersten Hauptteil (385 Seiten) wird eine formkritisch gegliederte Übersetzung des Numeri-Midraschwerkes geboten, wobei die textinterne Struktur des Textes optisch sichtbar wird (Numeri-Verse in fetter Kursivschrift, Diskussionen der Rabbinen in eingerückter Position, Angaben der Seiten- und Paragraphenzahl der hebr. Ausgabe von SNu bei H. S. Horovitz, Gliederungen in Sinnzeilen etc.). Im zweiten Hauptteil "Zur Redaktionsgeschichte" werden die formkritisch bereits im ersten Teil strukturierten und parallelisierten Texte nochmals zitiert und mit Parallelen aus andern Midraschwerken, sowie mit der Tosefta und den beiden Talmuden konfrontiert. Nach ziemlich einheitlicher Forschermeinung ist die Grundschrift von SNu etwa in der zweiten Hälfte des 3. Jh.s entstanden.

Die wichtigste Vorzüglichkeit der Übersetzung, Kommentierung und Konfrontierung mit Parallelstellen von SNu durch B.-K. ist die detaillierte Exaktheit. Sie nahm hierfür auch die Übersetzung von K. G. Kuhn kritisch in Dienst. In allen kritischen Übersetzungsfällen muß ich ihr gegenüber Kuhn recht geben, sowohl was die Richtigkeit als auch was den Sprachfluß und die Verdeutlichung betrifft.

B.-K. ist u. a. auch bei Umberto Eco in die Schule gegangen (vgl. 391 f. 776 f.). Kuhn (25) gibt z. B. den Midrasch zu Num 5,15 so wieder: ",Ein Eifersuchts-Speiseopfer’. Zweifache Eifersucht: Wie der Ehemann eifersüchtig ist, so ist auch der Ehebrecher eifersüchtig. Wie unten Eifersucht ist, so ist auch oben Eifersucht". B.-K. (25) übersetzt so: ",Ein Speiseopfer der Eifersüchtigen’. Es sind zwei Eifersüchtige. Wie eine Eifersucht dem Mann gehört, so gehört eine Eifersucht dem, der (einer Frau) beigewohnt hat. Wie eine Eifersucht oben (bei Gott) ist, so ist eine Eifersucht unten (bei den Menschen)". B.-K. kann auch besser mit der Polyvalenz der biblischen Worte umgehen. Kuhn merkt z. B. bei der midraschischen Kommentierung (152) nicht, daß der Midraschist das Hifil von q-r-b doppeldeutig für die Anwendung benützt. So übersetzt er das hiqrîv ’et qorbano in Num 7,18 (152) nur als ,er brachte dar als seine Opfergabe’. Dadurch wird der folgende Midrasch undeutlich. B.-K. dagegen übersetzt (94): ,er ließ seine Opfergabe herannahen’. So kann sie die folgenden Midrasch-Sätze plausibel machen: Gott habe die israelitischen Marschabteilungen an seinen irdischen Wohnsitz ,herannahen lassen’, damit sie ,ein Opfer darbringen können’ (94).

Im zweiten Hauptteil ihrer Arbeit geht es B.-K. darum, die sprachlich und strukturell einheitliche Grundstruktur von SNu, die Herkunft einzelner Sprachteile und die redaktionellen Zufügungen herauszuarbeiten. Sie kommt zum Ergebnis, daß SNu "einen klaren Aufbau und eine gezielte Präsentation" vorzuweisen hat. Nach deren Freilegung kann "auf eine redaktionelle Überarbeitung des Kommentarmaterials" geschlossen werden (390). Die sich in den beiden Mekhiltas (von Rabbi Iischmael und Schimon ben Jochai), in Sifra, Sifre Zuta, Sifre Deuteronomium, Midrasch Tannaim, Mischna, Tosefta und den Talmuden findenden Parallelüberlieferungen deuten Wanderungen und Veränderungen von Traditionen an. Man kann mit ihrer Hilfe teilweise eruieren, ob ein Traditionsmuster bei SNu ursprünglich beheimatet ist, ob es in einer andern rabbinischen Schrift in älterer Form existiert, oder ob eine gemeinsame, heute verschwundene Quelle für mehrere Versionen anzunehmen ist.

Wer sich an SNu heranwagen will, beginnt am besten beim zweiten Hauptteil der B.-K.schen Untersuchung (389-777). Über 4000 (!) Sinnzeilen aus der Übersetzung des ersten Teiles werden da nochmals explizit wiedergegeben und ausführlich mit den Parallelen besprochen. Außerdem stellt B.-K. in mehr als hundert Tabellen die Konsens- und Differenzpunkte der Sprachformen und Traditionen dar. Dabei verliert sie die Ansichten wichtiger Sekundärautoren nicht aus den Augen. Sie erkundigt sich immer wieder nach der Meinung der bisherigen Erforscher des rabbinischen Midraschs A. G. Wright, G. Porton, L. Zunz, D. Hoffmann, Ch. Albeck, L. Finkelstein u. a. So kommt sie zum Ergebnis, daß sich in SNu "mindestens sechs umfangreiche Bearbeitungsstufen" finden. Außerdem finden sich mehrere literarische Gattungen an oft unerwarteten Stellen in SNu: z. B. 36 Gleichnisse. Mehrmals (z. B. 772) vergleicht B.-K. die Bearbeitungsstufen samt den inkludierten literarischen Formen mit einer Zwiebel, "die aus verschiedenen Schalen besteht, die sich durch Größe und Aussehen unterscheiden, aber zusammen etwas Ganzes, eben die Zwiebel, bilden".

"Die Aufgabe der Midraschforschung besteht ... darin, die verschiedenen Bearbeitungsschichten, deren exegetische Konzeption und ihre Bedeutung für das Gesamtwerk des Midrasch zu beschreiben" (777). Diesem letzten Satz im Werk von B.-K. ist zuzustimmen. Vor aller sekundären Deutungsarbeit geht es um begriffs-, form- und redaktionsgeschichtliche Klarstellungen. Diese Arbeit hat B.-K. vorbildlich geleistet. Nun aber melden sich weitere Notwendigkeiten: Als frühes hauptsächlich halakhisches Midraschwerk stellt SNu zunächst einen wichtigen Einstieg für die Erforschung der Geschichte der Halakha dar. Auffallend ist ferner die relativ schmale Aktualisierung der biblischen Halakha und biblischer Glaubensvorstellungen für die Zeit nach der Tempelzerstörung (70 n.). Zwar kommen en passant das "bêt ham-Midrasch" (109 f.155) und der "chasan" (74: Synagogenvorsteher?) vor. Auch die Anwesenheit der Schekhina mitten unter dem Volk Israel bildet eine wichtige Rahmenaussage in SNu (87.133 f.137 f.141.160 etc.). Ihre Heimatlosigkeit nach der Tempelzerstörung wird aber nirgends thematisiert. Auch Aussagen über Proselytenrechte (8.132 f.190 f.), Judenfeinde (139 f.) und Häretiker (35 etc.) bleiben stets im Zusammenhang mit Tora und Tempel. Für Aktualisierungen öffnen sich die Tore nur indirekt. Mit klarem Blick und konstanter Ausdauer hat B.-K. ein übersetzerisches und interpretierendes Werk geschaffen, das kommenden Studierenden von grossem und verläßlichem Nutzen sein wird.