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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

190–192

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wiebel, Arnold [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Rudolf Hermann - Erich Seeberg. Briefwechsel 1920-1945.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien 2003. 431 S. m. Abb. 8 = Greifswalder theologische Forschungen, 7. Lw. Euro 68,50. ISBN 3-631-50726-7.

Rezensent:

Martin Seils

"Seltsam, seltsam" hat Hans-Joachim Iwand im Jahre 1939 an Julius Schniewind über Rudolf Hermanns Verhältnis zu Erich Seeberg geschrieben. In der Tat war es eine seltsame Beziehung, die Hermann und Seeberg seit einer gemeinsamen Zeit in Breslau - Hermann als Konviktsinspektor und Privatdozent für Systematische Theologie, Seeberg als außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte - bis zu Seebergs frühem Tod im Februar 1945 verband. Die Wurzeln dieser Beziehung lagen in der geistigen Anerkennung, die Hermann durch Seeberg in Breslau erfuhr, und in der geistigen Bereicherung, die das Gespräch mit Hermann für Seeberg in dieser Zeit bedeutet hat. Sie lagen auch darin, dass beide sich nach der Art der theologisch-kirchlichen Gruppierungen am Anfang des 20. Jh.s als "Modern-Positiv" verstanden. Tiefer aber war wohl dies, dass es zwischen ihnen eine persönliche Sympathie gab, die sich zu lebenslanger Freundschaft gestaltete. "Seltsam" war das alles, weil beide theologisch - zumal in der Luther-Interpretation - sehr verschiedene Wege gingen und kirchenpolitisch nach 1933 zunächst diametral entgegengesetzt optierten. Fast unbegreiflich "seltsam" ist, dass Hermann dies ertrug und Seeberg die Verbindung mit Hermann nicht aufgeben wollte. Wir sehen eine in den Spannungen der Zeit durchgehaltene Freundschaftsbeziehung vor uns, der es gelang, unter diesen Spannungen nicht zu zerbrechen.

Dass dies gesehen und nachvollzogen werden kann, ist dieser Veröffentlichung des - mit Lücken erhalten gebliebenen - Briefwechsels zwischen Hermann und Seeberg von 1920 bis 1945 zu verdanken, die Arnold Wiebel, ein Neffe Hermanns und dessen Nachlassverwalter, in den "Greifswalder theologischen Forschungen" herausgebracht hat, nachdem er vorher bereits eine Biographie Hermanns vorgelegt hatte (Arnold Wiebel: Rudolf Hermann [1887-1962], Biographische Notizen zu seiner Lebensarbeit, Bielefeld 1998). W. gibt eine aus intimer Kenntnis erwachsene Einleitung, die unter dem Zwischenthema "Ein ungleiches Paar" auch den schweren Spannungsmomenten nachgeht, die Hermann und Seeberg zu bewältigen hatten. Der Briefwechsel selber wird sinnvoll gegliedert, wobei die Zeit von 1933 bis 1934 mit "Einig und uneinig" und die Zeit von 1935 bis 1938 mit Hermanns "Nein, Herr Seeberg!" überschrieben sind. Abgeschlossen wird die Edition mit der bewegenden Trauerrede, die Hermann am 3. März 1945 in Ahrenshoop am Sarge Seebergs gehalten hat.

W. hat Bezugnahmen im Briefwechsel mit einer Fülle von nützlichen Hinweisen erschlossen. Er hat außerdem "Biogramme zum Briefwechsel" hinzugefügt, die die genannten Personen nach Biographie und Funktion zu identifizieren helfen. Manchmal ist es bei fortlaufender Lektüre nicht ganz leicht herauszubekommen, ob sich ein Brief auf einen abgedruckten oder einen verloren gegangenen Brief des Partners bezieht. Bei einigen Seitenübergängen sind Wörter oder Abschnitte - offenbar beim Umbruch - verloren gegangen oder doppelt gedruckt worden. Insgesamt stellt die Edition eine bemerkenswerte Leistung dar.

Hermann und Seeberg waren sich von Anfang an einig im Interesse am Erhalt und an der Dignität theologischer Fakultäten in der deutschen Universität. Der Briefwechsel ist durchzogen von fakultätspolitischen Planungen, Urteilen und Aktionen. Für Seeberg, der Hermanns Schüler Iwand 1923 als Konviktsinspektor und späteren Privatdozenten nach Königsberg brachte und Hermanns Berufung nach Greifswald im Jahre 1926 beeinflusste, war dies Lebenselixier. Er wollte Einfluss ausüben und hatte ihn auch. Hermann war - zu einem gewissen Erstaunen des Rezensenten - an dergleichen nicht unbeteiligt. Es lag ihm aber offenbar vorwiegend an der Qualität von Berufungen, wobei ein Schul- und Richtungsinteresse sich jedoch auch hier nicht übersehen lässt.

Aufschlussreich wird der Briefwechsel dann zu den kirchenpolitischen Bewegungen und Stellungnahmen nach 1933. Ganz am Anfang scheint der Ernst der Lage nicht ganz bewusst zu sein, aber das ändert sich schnell. Hermann stellt sich in den entscheidenden Jahren eindeutig zur Bekennenden Kirche und ist Teilnehmer der Barmer Synode von 1934, deren Bekenntnis er bejaht. "Der Arier- ... ist mir der innerlich untragbarste Punkt! Eine antisemitische christl. Kirche halte ich für eine pure und bare Unmöglichkeit" (174). Allerdings hat Hermann weder Barth noch Niemöller seine Bedenken zum Weg der Bekennenden Kirche verschwiegen, die Barth gegenüber vor allem in dessen Misstrauen gegen die theologischen Traditionen des 19. Jh.s lagen und sich Niemöller gegenüber mehr und mehr in Zurückhaltung hinsichtlich freikirchlicher Tendenzen der Bekennenden Kirche äußerten, was Hermann im Jahre 1938 zum Rückzug von der Bekennenden Kirche veranlasste. Seeberg hingegen spielt sehr bald mit dem Gedanken, "innerhalb der NSDAP seine abweichende Meinung auszusprechen" (160 f.), sieht sich in diesen Bezügen zum Handeln gedrungen und möchte auch gerne weiterhin Einfluss ausüben: "Es ist eine voluntative Zeit" (167). Hermann bekommt in den Briefen einen oft auch bedenkenvollen Seeberg zu Gesicht, dessen insgesamt doch wenig gehemmte Verstrickung er vielleicht ahnte, ganz aber wohl nicht hat sehen können.

Eine nicht unerhebliche Rolle spielt im Briefwechsel der gegenseitige theologische Austausch. Hermann hat früh von seinem Breslauer Philosophie-Kollegen Hönigswald mit angeregte religionsphilosophische Arbeiten veröffentlicht, während Seeberg am Anfang Forschungen zur deutschen Mystik betrieb. Beider Schwerpunkt lag jedoch in der Lutherinterpretation. Hier unterschieden sich die Auffassungen beträchtlich. Hermanns an den Texten orientierte Lutherdeutung ging - durch seine Lehrer Kähler und Stange mitbestimmt - von Luthers Rechtfertigungsverständnis aus und suchte von dort aus zentrale Sachgehalte der Theologie Luthers zu erschließen. Seeberg bettete Luther in weite, von der Mystik beeinflusste geschichtsphilosophische Sichten ein, in denen ein "irrationaler" Gott, ein an der Verleiblichung Gottes interessierter "konkreter Geistgedanke" und ein "Gegensatzdenken" nach dem Schema "Gott tötet, um lebendig zu machen" zentral sind. Hermann hat - auch in Rezensionen Seebergscher Lutherarbeiten - Seebergs Ansätze deutlich kritisiert. "Bedenken habe ich gegen die Konstruktion des Ganzen der Lutherschen Lehre von einem Begriff des Gegensatzes aus. Diesen Gegensatz macht, glaube ich, erst die konkrete Geschichte zwischen Gott und Mensch von ihr aus möglich und das Faktum der Offenbarung geht ihm vorher" (93). Seeberg hingegen hat Hermanns "alte Methode der expressionistischen Exegese, des Sich-entfaltens am Gegebenen" (119) als bedenklich empfunden. Auffallend ist aber, dass Seeberg - immer wieder Hermanns "sauberes und klares Denken" (169) rühmend - die faktisch kaum vorhandene Übereinstimmung mit Hermann beschwört: "Und es ist immer schön, daß wir uns doch im Eigentlichen und Wesentlichen verstehen, wenn Sie auch gern dazu Nein Herr Seeberg sagen" (177). Hermann mochte den Austausch mit Seeberg, Seeberg brauchte das Einverständnis mit Hermann.

Die fakultätspolitischen Einblicke, die der Briefwechsel bietet, legen personelle und biographische Hintergründe frei, wobei Aktionen und Akteure deutlicher hervortreten. Die zeit- und kirchengeschichtlichen Aufschlüsse, die sich ergeben, lassen ein spannungsvoll-schmerzvolles Bild von Haltung und Anpassung entstehen, das in Hintergründe und Abgründe zu blicken erlaubt. Aus dem theologischen Gespräch beider Briefschreiber gewinnt man Gesichtspunkte zur Beurteilung der Situation der Lutherinterpretation im 20. Jh. Die eigentliche Bedeutung der Veröffentlichung dieses Briefwechsels dürfte jedoch in der Offenlegung einer seltsamen personalen Beziehung liegen, die der Last der Zeiten und der Differenz der Erkenntnisse standhalten konnte und dabei Freundschaft zu bewahren verstand.