Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

187–189

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Spener, Philipp Jakob

Titel/Untertitel:

Briefe aus der Dresdner Zeit 1686- 1691. Bd. 1: Die Briefe von 1686-1687. Hrsg. v. J. Wallmann in Zusammenarb. m. M. Friedrich, K. vom Orde u. P. Blastenbrei.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XLVIII, 865 S. gr.8. Lw. Euro 179,00. ISBN 3-16-147427-9.

Rezensent:

Dietrich Blaufuß

Endlich! - Endlich kann im 20. Jahr des DFG-Projekts Spener-Briefe-Ausgabe ein (insgesamt) vierter, 2003 erschienener Band angezeigt werden, der die Frankfurter Zeit (1666-1686) verlässt. In den drei Bänden 1666-1678 kommen von den nun 1686-1687 belegten 78 bekannten Korrespondenten zwei Drittel noch nicht vor; und das dreibändige Standardwerk zu Spener von Paul Grünberg nennt noch die Hälfte der knapp 80 Briefpartner überhaupt nicht. 37 Namen daraus begegnen immerhin in Bd. 15 und 16 (1987, 1989) von Erich Beyreuthers Spener-Ausgabe. Die fünf Jahre von Speners Wirken als Oberhofprediger in Dresden 1686 bis 1691 kommen in Darstellungen gelegentlich kurz vor. Aber schon der vorliegende Band - maximal fünf Bände sollen es für die Zeit in Sachsen werden (V) - lässt ahnen, wie tief wir in die Einzelheiten der Jahre der Anfänge der pietistischen Unruhen in Leipzig, aber auch in Wittenberg und in Hamburg werden hineinsehen können.

Der vorliegende Band fügt sich in etwa in den Erscheinungsrhythmus der drei Vorgänger ein (vgl. ThLZ 119 [1994], 837- 846; 128 [2003], 645-648). 201 Stücke Speners für 1,5 Jahre minus 11 Tage werden geboten - auch hierin im Rahmen von mindestens 164 und maximal 234 Nummern pro Band bleibend. Über den nur einseitig - ohne die Briefe an Spener - veröffentlichten Briefwechsel soll nicht abermals geklagt werden. Offenbar muss man sich in das Vermeidbare fügen. (Auch die erzwungene Unregelmäßigkeit und quantitative Ungleichgewichtigkeit des Spenerschen Briefwechsels begründen jenen Verzicht auf die Gegenbriefe nicht; gegen VI/VII.)

Vieles ist nicht zu wiederholen, was zu den drei Bänden der Frankfurter Zeit gesagt ist. Konsequent zeitliche Abfolge ist das Anordnungsprinzip der Schreiben. Nicht berücksichtigt ist der umfangreiche handschriftlich vorliegende Briefwechsel Speners mit seinem Schwiegersohn, dem Leipziger Professor Adam Rechenberg. Ob ihrer Dichte hätte diese Korrespondenz den Band hoffnungslos majorisiert. Es geht um 349 Spener-Briefe (nicht 706, wie Wallmann meint [VI]), zu denen die einschlägigen Antworten Rechenbergs dazukämen (in D. Dörings 2002 vorgelegtem Herausgeber-Verzeichnis zu diesem Bestand nicht einzeln verzeichnet). Zur - hier beidseitigen! - Veröffentlichung dieser Korrespondenz hält sich der Herausgeber zurück (VI). Erledigt ist auch die einst von Bochum aus heftig bestrittene Sicht des Gutachtens als Brief: Das unübersehbare Faktum von Briefen Speners mit gutachtlichem Inhalt war 1990 unmissverständlich herausgestellt (D. Blaufuß: Korrespondierender Pietismus. 2003, 401 ff.). Solche Briefe können einer Briefe-Ausgabe nicht prinzipiell entzogen werden. Nun spricht der Herausgeber von "gutachtlichen Briefen" (V) und nimmt eine ganze Reihe von Texten auf, die tatsächlich umfangmäßig und inhaltlich fast schon Traktate darstellen (N. 5.24.98.104.106. 131 - bis zu 459 Zeilen: N. 121, corrige Z. "451" in 455, fehlt Z. "250"). Andere Gutachten werden nicht aufgenommen - pragmatisch verfahrend (Umfang, fehlender "Anredecharakter" [?]) und so nicht zu beanstanden. (Sie hätten an einer Stelle aufgelistet werden müssen; sehe ich recht, so handelt es sich um die 508 A. 3, 119 A. 4 Ende, 347 A. 42, 464 A. 2, 81 A. 4 und 697 A. 1 genannten Stücke zwischen Sept. 1686 und Juli 1687 sowie eines 1687 und später.) Über die Bewertung unadressierter Briefe als "unbenutzbare Quellen" (VIII) ist Streit nicht nötig: Diese Quellen sind seit sehr langer Zeit benutzt worden, gar nicht so selten mit Erfolg, bei Adressatentilgung inklusive auch früher schon geglückten Empfängerzuweisungen - Vorarbeiten für die laufende Spener-Briefe-Ausgabe.

Ein wenig Statistik sei angedeutet. Wohl über die Hälfte des Bandes, 118 Nummern, wird ausschließlich den großen gedruckten Sammlungen des 17./18. Jh.s verdankt. 46 Stücke zähle ich als ausschließlich handschriftlich erhalten. 93 Nummern liegen handschriftlich vor, die Hälfte davon auch in qualitativ unterschiedlicher Druckfassung. Von den handschriftlich überlieferten Stücken sind mit 48 gut die Hälfte im Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle verwahrt. Meiner Kenntnis der Forschung nach sind die Nummern 163 und 183 bisher unbekannte Drucke. Bei den Handschriften vermag ich als neue Fundorte Gotha, Magdeburg, Philadelphia und Tartu zu nennen - mit insgesamt vier Briefen, von denen zwei 1711 (1721) gedruckt und 1987 der Empfängerin zugewiesen waren. Eines der zwei wirklich neuen Stücke (N. 89) ist das in die USA gelangte Schreiben an Jakob Wilhelm Imhoff. - Das Bild ähnelt dem der voraufgegangenen Bände: Zu melden sind nicht spektakuläre Neufunde. Neupräsentation der Texte ist das Entscheidende!

Erste inhaltliche Erschließung des Bandes bietet erhellend das Vorwort zum allgemeinhistorischen Kontext, über drei Gruppen von Adressaten (Frankfurt, Kursachsen, Deutschland und darüber hinaus) und über einiges inhaltlich bemerkenswert Erscheinende (VII-XIII). Eine Rezension vermag solch einen Quellenband nie erschöpfend darzustellen - wenngleich auf viele hochinteressante Äußerungen Speners hinzuweisen wäre: Separation; lutherisch-reformiert; Diskretion in Briefen; Gutachten hin und her; "fides quae/qua"; Ablehnung von Veröffentlichungshilfe; "Schaden Joseph"; Taufe; (Kirchen-)Musik; sichtbare/unsichtbare Kirche; Abendmahl für seelisch Kranke; Konversion; Selbstverständnis als Hofprediger und vieles andere mehr. Hinsichtlich der unentbehrlichen Sachregister bleibt es bei kaum überzeugend begründeter Verschiebung jeweils an das Ende der Frankfurter usw. Reihen - so herb das empfunden werden mag.

Der - auch hervorragend ausgestattete - Band zeigt abermals die weit über die Pietismusforschung hinausgehende Bedeutung des Unternehmens. Professionalität ist angesagt. Das ist eine Selbstverständlichkeit bei dem Standard und der Ausstattung des nun 20 Jahre laufenden DFG-Projekts (unterstützt einst von Universität und Theologischer Fakultät, der Gerda Henkel Stiftung, von Kirchen samt Pietismus-Kommission, von VG Wort). Das bleibt Grundtenor, der durch alle möglichen Hinweise, Desiderate und Anfragen nicht zu übertönen ist.

Das zehnseitige Literaturverzeichnis - im ersten Band waren es fünf! - zeigt die Fülle der ausgewerteten einschlägigen Literatur. Hier sollte man einmal die laufenden drei Spener-Ausgaben vollständig genannt finden, die dann auch jeweils vor Ort als Kurzzitat heranzuziehen sind; eine wesentliche Hilfe auch für den Nutzer. (Selbst von der vorliegenden Ausgabe erfährt man nicht die Bearbeiter und es fehlen die Erscheinungsjahre von zwei der drei vorangehenden Bänden.) Dass genannte Literatur an relevanter Stelle nicht herangezogen ist, erstaunt wiederholt. Z. B. ist - N. 158 A. 1 - zu Nicolaus Bergs Tagebuch in meinen "Spener-Arbeiten" 1980 einiges zu finden, und Berg ist als Herausgeber von Speners anticalvinistischer Predigt 1667 in "Grünberg Nr. 34" gerade nicht nachgewiesen (auch nicht im Nachdruck eines Druckes 1668), sondern in der Einleitung von Spener: Schriften 1. 1979, 108. Die Übersicht des Briefwechsels Spener - J. W. Imhoff in ZRGG 39 [1987], 61 ist N. 39 A. 1 nicht genannt, ebensowenig gedruckte Schreiben Schilters an Spener (s. PuN 14, 1988, 105 mit A. 102 f. zu N. 73 A. 1; ebd. A. 2 fehlt Drucknachweis: Spener: Schriften 16/1,56*). Der Kommentar muss sich gewiss strikt beschränken. Und doch gehört in ihn (N. 86 A. 1) z. B. die Nennung des Schreibens Speners an G. L. v. Zinzendorf vom 4.7.1699 zu dessen Verheiratung mit N. L. v. Zinzendorfs Mutter - der Empfänger ist im Nachdruck nicht genannt, wohl aber in dessen Einleitung (Spener: Schriften 15/1. 1987, 69*). Einschlägige Literatur identifiziert den Geistlichen J. (von?) Völker (25.5. 1624-9.1.1667), seit 1655 in Rentweinsdorf (N. 1 A. 18). Die Nennung von Speners Predigt-Katalog würde gelegentlich karge Daten abrunden (N. 199 A. 5).

Auf 902 Seiten eines hochdifferenzierten Textes kann es bei Satz und Druck nicht ohne Versehen, Fehler abgehen. Sofort erkennbare wie "passiem" (57), "hoe" (N. 44,3), "ver-am" (682/683), verrutschte Seitentitel (652 f.) etc. erledigen sich von selbst. Nicht ganz so ist es mit schwer oder nicht erkennbaren Irrtümern, deren doch einige begegnen. Der Rezensent listet sie auf Nachfrage hin gern auf. Schwerwiegend freilich ist ein sich auf gut 300 Seiten beziehender Fehler: Im Register der Bibelstellen sind wohl alle Seiten ab ca. Seite 515 allermeist um zwei Seiten zu niedrig; wohl das Ergebnis eines ungewollt und unerkannt verschobenen Umbruchs.



Von der Korrektheit der Textfassung ging ich für die drei vorangehenden Bände nahezu unbesehen aus. Die äußerst differenzierten Ausführungen dazu signalisierten dort höchste Sorgfalt (im vorliegenden Bd.: XXV-XXIX). Dennoch scheint nun bei drei Beispielen das Gespräch an diesem Punkt zu lohnen.

Das lange Schreiben an J. U. Wild vom 9.5.1687 (N. 88), überliefert als handschriftliche Kopie und als Druck von 1700 (1707, 1712), enthält nun in der Edition eine Fülle von Abwandlungen des handschriftlichen "ß" in "s", aber meist in "ss", auch bei "dermassen" (!), dann aber auch wieder "gefaßet" (Z. 263) - ohne erkennbare Regel, man "folgt" jedenfalls nicht "der Vorlage" (gegen XXVI). Vergleichbar unduchsichtig ist die Verwendung und Verwandlung des "ff". Auch die Groß- und Kleinschreibung, in den "Empfehlungen ..." (JHF 1980) gewiss großzügig geregelt, hinterlässt manche Frage (Z. 239.241 "sie"/"Sie" innerhalb von nicht zwei Zeilen für denselben Personenkreis uneinheitlich! Briefe aus der Frankfurter Zeit Bd. 2, N. 6 ist gegenüber der (ebd. abgelichteten) autographen Vorlage erheblich konsequenter). - Erlaubt die Tatsache, dass es sich nicht um ein Spener-Autograph handelt, solche unbezeichneten Variierungen?

N. 159, Spener an Ah. Fritsch vom 12.11.1687, ist in vorliegender Form fast unbrauchbar. Die Edition ist gestützt allein auf ein in Augsburg liegendes Fritsch-Autograph. Aber mit fünf Lücken, mehrfach falsch gelesenen und dann unbekannten Wörtern ("incessevit", "conlitus", "nuderi") kommt auch der Leser nicht zurecht. Das kurze Schreiben muss neu ediert werden. Einstweilen ist das Regest um zwei Gedanken des Briefes zu erweitern: Rango scheine Spener ausdrücklich (auf Nachfrage) nicht angreifen zu wollen. Spener klagt über einen in diesen schlimmen Zeiten falschen Eifer um die Rechtgläubigkeit, was christliche Liebe töte und endlich (gelingts dem Teufel) über dem Streit um die Schalen den Kern zerstöre. - An Fritschs Handschrift, zusätzlich seinen kaum zu erkennenden Abkürzungen, darf man in Ehren scheitern ...

Schwer wiegt die wegen einer Falschlesung doch erhebliche Veränderung des Textcharakters an wesentlicher Stelle (in N. 28). Was Spener als entscheidenden, mit dem Katholizismus nicht zu versöhnenden Dissens festhält, ob die Rechtfertigung allein imputativ und als Vergebung zu sehen ist, oder zugleich mit der Heiligung samt den guten Werken, das wird durch einen folgenreichen Übertragungsfehler ("fiatque" statt "Fiatne"; Z. 13) und durch Verzicht auf hier nötige neue Zeichensetzung (Doppelpunkt vor "fiatne", Fragezeichen nach "includit"; Z. 13 bzw. 14) zu einem schalen Wunsch des Sowohl - als auch.