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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

185–187

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf

Titel/Untertitel:

Marcion. Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator. Die Dorpater Preisschrift (1870). Kritische Edition des handschriftlichen Exemplars. Hrsg. v. F. Steck.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. XLVII, 446 S. m. 9 Abb u. e. Quellenanhang. gr.8 = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 149. Lw. 128,00. ISBN 3-11-017533-9.

Rezensent:

Katharina Greschat

Diese nicht nur von Harnackforschern mit großer Spannung erwartete Dissertation, die bei Ulrich Barth an der Martin Luther-Universität zu Halle-Wittenberg angefertigt wurde, ist schon allein deshalb eine wissenschaftshistorische Sensation zu nennen, weil sie der interessierten Öffentlichkeit erstmals die seinerzeit nicht publizierte Preisarbeit des jungen Theologiestudenten Adolf Harnack zugänglich macht, die man lange für verschollen hielt. Mit großem Eifer widmete sich der damals 19-Jährige der von der Theologischen Fakultät zu Dorpat (Tartu) gestellten Aufgabe: Marcionis doctrina e Tertulliani adversus Marcionem libello eruatur et explicetur und verfasste mit Datum vom 8. November 1870 ein stattliches Konvolut von 476 Seiten, dem er den bezeichnenden deutschen Titel: Marcion: der moderne Gläubige des II. Jahrh., der I.e Reformator gab. Zu Weihnachten desselben Jahres wurde er dafür von der Universität Dorpat mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Das Manuskript erhielt Harnack offenbar unverzüglich wieder zurück, wahrscheinlich, um es für den Druck zu bearbeiten. Dazu kam es dann aber doch nicht. Erst auf den Tag genau 50 Jahre später verschickte Harnack einige Vorausexemplare seiner bald berühmt gewordenen Marcionmonographie, die als die reife Frucht seiner langjährigen Beschäftigung mit Marcion gilt und anschaulich zeigt, dass Harnack seiner ersten Liebe in der Kirchengeschichte (so im Vorwort der 1. Auflage von 1921 auf S.III) sein ganzes Wissenschaftlerleben lang treu geblieben ist.

Wenn auch nicht in das Verzeichnis des Harnacknachlasses der Berliner Staatsbibliothek aufgenommen, lässt sich die Jugendschrift dennoch leicht bei den Manuskripten zu Marcion finden. Doch erst im Jahre 2000 stieß man darauf und konnte geradezu sinnenfällig erfahren, dass die Preisschrift die Grundlage für Harnacks weitere Marcionforschung bildete: Er hatte nicht nur handschriftliche Verbesserungen, Ergänzungen und Bemerkungen am Rand nachgetragen, sondern auch eine Vielzahl von losen Zetteln, kurzen Notizen, Briefen und anderen Materialien, die ihm im Hinblick auf Marcion wichtig erschienen, vermutlich so lange hinten in den Band hineingelegt, bis sich der Buchblock schließlich vollständig aus seinem Einband löste. Aus diesem laufend ergänzten "Marcionarchiv" ging wohl auch das Alterswerk von 1921 hervor. Wer den Band nicht selbst in Händen hielt, dem mögen die Fotos des ersten (XLVIII) und zweiten Titelblatts (2) sowie der letzten Seite der Preisschrift (349) einen kleinen Eindruck davon vermitteln.

Dieser Befund stellt einen Herausgeber vor nicht geringe Probleme, und Steck hat sich mit guten Gründen dafür entschieden, in der vorliegenden Edition nur die Texte des Bandes selbst zu dokumentieren, d. h. Harnacks letzte Fassung bei Abgabe der Preisarbeit samt den späteren Zusätzen sowie den Eintragungen des Korrektors Moritz von Engelhardt. Das Material auf den vielen gesonderten Zetteln, das noch immer darauf wartet, kritisch gesichtet und ausgewertet zu werden, hat Steck weitgehend unbeachtet gelassen. In den Quellenanhang hat er jedoch die Edition einiger dieser Blätter, ein handschriftliches Redemanuskript: Marcion. Der radikale Modernist des 2. Jahrhunderts, aufgenommen, das Harnack anlässlich einer Schwedenreise im März 1923 abgefasst hat (394-400). Eine weitere Ausnahme bildet der handschriftliche Entwurf eines Lebenslaufes aus Harnacks Leipziger Zeit, der in der historischen Einführung in einer Anmerkung (XIV, Anm. 5) wiedergegeben wird. In dieser Einführung werden eine ganze Reihe interessanter, bislang unbekannter Details sowohl über die Entstehung der Preisschrift als auch über Harnacks Studienzeit in Dorpat verzeichnet, die Steck auf mehreren Reisen nach Tartu und bei seinen Forschungen im Harnacknachlass zusammengetragen hat. In Tartu hat er außerdem Harnacks Studien- und Belegbuch der Jahre 1869-1872 entdeckt, das nun ebenfalls im Quellenanhang erstmals publiziert wird. Dankenswerterweise findet sich in diesem Anhang auch Moritz von Engelhardts Gutachten zu der Preisarbeit, das Peter C. Bloth schon im Jahre 1999 veröffentlicht hatte.

Dem eigentlichen Text der Harnackschen Jugendschrift ist ein ausführlicher editorischer Bericht zur Erläuterung der beigegebenen Apparate vorangestellt. Ein textkritischer Apparat dokumentiert die Textentstehung, ihm folgen ein Apparat mit den Zusätzen des Korrektors Moritz von Engelhardt sowie ein knapp gehaltener Sachapparat, der genaue Verweise auf die von Harnack verwendeten Texteditionen und die Sekundärliteratur (218,30 fehlen sie bedauerlicherweise) nebst einigen hilfreichen Bemerkungen zum unmittelbaren Textverständnis bietet. Der Herausgeber enthält sich an dieser Stelle bewusst jeglicher Einordnung in die Werk-, Wirkungs- und Forschungsgeschichte, um einer Auswertung nicht vorzugreifen. Die später in das Manuskript eingetragenen Zusätze und Ergänzungen, die Harnacks kontinuierliche Weiterarbeit an seinem Jugendwerk bezeugen, findet man in den Späteren Notizen und Marginalien im Anschluss an den eigentlichen Text. Hier äußert der Herausgeber dann doch einige Vermutungen, zu welchem Zweck und in welcher Absicht Harnack bestimmte Notizen gemacht hat, und bemüht sich darüber hinaus sogar, lose Zettel zuzuordnen (357).

Die überaus sorgfältige Edition der Preisschrift stellt eine beeindruckende Leistung dar, die auch durch einige kleinere Lesefehler (so müsste es etwa S. 39,24 sogleich statt fraglich; S. 63,7 ordnungsgemäßen statt odnungsgemäßen; S. 68,7 Verwandelung statt Umwandelung; S. 235,33 Naturclassen statt Naturelassen heißen) sowie wenige Flüchtigkeiten in der Dokumentation (S. 36,40 fehlt der Hinweis auf ein gestrichenes zu; S. 186 fehlt der Hinweis darauf, dass am oberen rechten Rand der Seite 249 des Manuskripts noch etwas gestanden hat; S. 207,1 steht das sie über einem gestrichenen ihn) keineswegs geschmälert wird. Stecks Edition gebührt das große Verdienst, der Forschung Harnacks erste, lange verloren geglaubte wissenschaftliche Monographie wieder zugänglich gemacht zu haben, die sich nicht allein auf die Auswertung der Schriften Tertullians beschränkt, sondern nahezu alle damals verfügbaren Zeugnisse auf ihren Quellenwert hin befragt und daraus ein ungemein anschauliches Bild vom Leben und von der Lehre Marcions entwirft. Man ist überrascht und erstaunt, wie wenig sich das Marcionbild des Studenten Harnack bis hin zu seiner Zeit als Ordinarius verändert hat, auch wenn er später erklärt, von seiner Jugendschrift sei "natürlich auch nicht ein Satz stehen geblieben" (so im Vorwort der 1. Auflage des Marcion von 1921 auf S. III). Noch etwas verhalten äußerte der junge Harnack seine Sympathie für Marcion, "der zu den bedeutendsten, anziehendsten Persönlichkeiten des II. Jahrh. gehört" (62,13 f.). Schon hier verspürte Harnack die faszinierende Modernität seines Helden eben darin, dass dieser gerade kein philosophisches System aufgestellt, sondern das fromme Gefühl der Einheit mit Gott zum Ausgangspunkt seiner Religion gemacht habe (185 f.). Bisweilen zeichnet sich bis in die einzelnen Argumentationsgänge hinein schon das große Alterswerk ab, das an manchen Stellen aber doch etwas anders akzentuiert. Für eine genauere Erforschung, auch im Vergleich mit dem Marcion von 1921, sind die ausführlichen und gründlich gearbeiteten Register der vorliegenden Textausgabe äußerst hilfreich.

Stecks vorzügliche Edition der Preisschrift von 1870 soll jedoch keineswegs die letzte Edition bislang unbekannter Werke aus der Feder Harnacks bleiben. Im Jahre 2005 will Steck eine Reihe früher Predigten im Rahmen einer Ausgabe unter dem Titel: Die frühen Predigten Adolf Harnacks aus der Dorpater und Leipziger Zeit (1869-1878) folgen lassen. Darin soll auch "die erste wissenschaftliche Abhandlung Adolf Harnacks" (XVIII f.), seine 1869 gleichfalls in Dorpat eingereichte, dann aber doch wieder zurückgezogene Preispredigt zum Reformationstag, veröffentlicht werden. Und noch im Jahr 2004 wird die gleichfalls mit großer Spannung erwartete Edition von Wolfram Kinzig: Harnack, Marcion und das Judentum, nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain erscheinen.