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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

183–185

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter, u. Ulrich Köpf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Melanchthon und die Neuzeit. Hrsg. unter Mitarbeit v. S. Lalla.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2003. 370 S. gr.8 = Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 7. Geb. 48,00. ISBN 3-7728-2215-0.

Rezensent:

Nicole Kuropka

Den Anlass zu diesem Sammelband gab die Melanchthonpreisverleihung der Stadt Bretten an den amerikanischen Theologen T. J. Wengert im Jahre 2000. Die darin vereinten Aufsätze dokumentieren zum einen die Reden anlässlich der Preisverleihung und zum anderen die Vorträge der daran anschließenden internationalen Tagung, die sich der bewegten Wirkungsgeschichte Melanchthons zugewendet hat.

In der Laudatio des Preisträgers würdigt I. Dingel Wengerts zahlreiche Arbeiten zu Melanchthon und insbesondere das preisgekrönte Buch "Human Freedom, Christian Righteousness" (1998), das dem Verhältnis zwischen Melanchthon und Erasmus nachgeht. Wengert breche mit dieser Untersuchung das alte Verständnis von Melanchthon als einem zwischen Reformation und Humanismus vermittelnden Theologen auf, indem er "zwischen der Theologie Melanchthons und seiner Methode unterscheidet und so beide getrennt voneinander zu bewerten weiß" (18).

In seiner Dankesrede zeichnet der Preisträger die "vier wesentliche[n] Facetten von Melanchthons Methode der Schriftinterpretation" (24) nach: nämlich die Sorgfalt einer einfachen Erklärung und schlichten Auslegung der Heiligen Schrift, die unter ständigem Seufzen (gemitus) in zahlreichen Auflagen entstanden ist, um den Studenten einen gut verständlichen Weg der Schriftauslegung zu bereiten. Dabei betont Wengert den ekklesiologischen Kontext jeglicher exegetischen Tätigkeit des Brettener Theologen.

Die 15 Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte setzen historisch bei Melanchthon ein und verfolgen die Entwicklungen anhand einiger ausgewählter Positionen bis zur Zeit der dialektischen Theologie, wobei auch die Wirkungsgeschichte des angelsächsischen Raums sowie der Niederlande mitbedacht wird.

G. Wenz sieht in dem Streit zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern ein historisches Lehrbeispiel mit hoher systematisch-theologischer Ergiebigkeit, weil an ihm die Diskussion um die Einheit und Vielfalt der Reformation sowie die Konfessionalisierung exemplarisch aufgezeigt werden kann. Anhand Melanchthons Forderung der Nützlichkeit jeder theologischen Erkenntnis zeichnet S. Grosse die Entwicklungen in den unterschiedlichen Auflagen der Loci communes nach, um trotz aller feststellbaren Differenzen auf die - oftmals übersehene - Kontinuität im Denken des jungen und alten Melanchthon hinzuweisen.

Mit dem Beitrag von K. Fitschen schwenkt der Blick zur Reflexion auf die Geschichtsschreibung: J. L. von Mosheim begründe seine kritische Sicht Melanchthons mit den charakterlichen Schwächen und der nachgiebigen Friedfertigkeit des Wittenbergers, wobei Letzteres, so Fitschen, für "Mosheim mit seinem irenischen ... Ansatz ... eine Herausforderung sein" (108) musste. In der Philosophiegeschichtsschreibung des 18. Jh.s wird - so stellt U. J. Schneider heraus - Melanchthon meist nur kurz gestreift. Dabei widerfährt Melanchthon entweder das mehrdeutige Urteil eines Erneuerers der Scholastik oder er wird ausgehend von J. J. Brucker als noch nicht ganz und gar modern beschrieben, um dann im frühen 19. Jh. gänzlich aus den philosophiegeschichtlichen Arbeiten zu verschwinden. In F. W. J. Schellings "Philosophie der Mythologie" wird Melanchthon mit Blick auf die methodischen Bestimmungen der Erkenntnisgewissheit erwähnt, wobei für Schelling, wie G. Frank herausarbeitet, sich bei Melanchthon wohl die Vernunft von der Offenbarung freisetzt, ohne aber zur gänzlichen Freiheit derselben vorzustoßen. Für die Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung des 19. Jh.s stellt U. Köpf heraus, dass Melanchthon in protestantischen Darstellungen anfänglich zwar wohlwollend, aber meist nur im Schatten Luthers erwähnt wird, wobei sich in katholischer Sicht die - in seiner Charakterlosigkeit beruhende - Zweideutigkeit Melanchthons festsetzte. Darauf antworteten, so Köpf, evangelische Theologen wie F. C. Baur mit dem "Gedanken einer inneren Entwicklung" (155), während die Unionsbemühungen des 19. Jh.s der Melanchthonforschung zusätzlich Auftrieb verliehen.

Vornehmlich anhand der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung entfaltet R. Rieger Troeltschs Sicht von Melanchthon in Gegenüberstellung zu Ritschls Lutherrezeption. Troeltsch komme auf Grund seiner kulturgeschichtlichen Methode zu einer positiven Würdigung von Melanchthons praktischem Doktrinarismus, indem er nach den "geschichtlichen Notwendigkeiten, die Melanchthon bestimmt haben, Luthers Theologie in die Form einer Lehre zu gießen" (171), fragt. W. Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften - in Abgrenzung von den Naturwissenschaften - begründet sein Interesse an Melanchthon, so führt P. R. Blum aus. Wie M. Heesch darlegt, hat Melanchthon als Aristotelesrezipient für P. Petersen seine bedeutendste Leistung in der "Begründung einer philosophischen Ethik neben der theologischen" (210) vollbracht. K. Holls "Abneigung gegen Melanchthon" (228) zeigt H. Scheible in dessen zahlreichen Lutherarbeiten auf, wobei durch die Breitenwirkung seiner Lutherdeutung auch sein Melanchthonurteil weit über Holls Schülerkreis transportiert worden sei. Deutlich stellt D. Korsch heraus, dass es "in der dialektischen Theologie ... keine Melanchthon-Rezeption gegeben" (239) habe, was bei Barth und Iwand u. a. auf ihrer Kritik an Melanchthons Gesetzesverständnis beruhe. Durchbrochen haben dieses "historische Unverhältnis zu Melanchthon" (255) erst H.-G. Geyers Melanchthonstudien.

Die noch notwendigen Forschungsaufgaben zu Melanchthons Wirkungsgeschichte im angelsächsischen Raum legt C. Schwöbel dar, indem er sowohl Melanchthons Beziehung zur englischen Reformation als auch die Aufnahme seines Aristotelismus und seiner Methodenlehre im England des 17. Jh.s darlegt und aufzeigt, dass Melanchthon zum Symbol für die Adaptionsfreudigkeit im amerikanischen Luthertum wurde. Ausführlich zeichnet A. de Lange die wechselhafte Rezeptionsgeschichte Melanchthons in den Niederlanden nach: Im 18. Jh. war der Blick auf Melanchthon vornehmlich durch die schwelenden theologischen Streitigkeiten um Arminius geprägt. Abgesehen von den kurzen Bemühungen der Groninger Schule um Melanchthon flackerte im 19. und 20. Jh. das Interesse an dem Brettener meist nur an seinen Jubiläen auf. Im letzten Aufsatz dieses gelungenen Sammelbandes zeichnet G. Wartenberg das Melanchthongedenken 1897 im Königreich Sachsen anhand der damaligen Publikationen und kirchlichen Fest- und Sonderveranstaltungen nach. Trotz dieser Bemühungen stand das Melanchthongedenken, so Wartenbergs abschließendes Urteil, im Schatten der Luther- und Reformationsjubiläen, so dass die Distanz zu Melanchthon nicht überbrückt werden konnte. Ein ausführliches Namen- und Sachregister beschließen den Band.

Dieser Sammelband führt umfang- und perspektivenreich in die - an vielen Punkten noch weiter aufzuarbeitende - Wirkungsgeschichte Melanchthons ein und klärt gleichzeitig viele der bis heute tradierten Negativurteile und Klischees über Melanchthon auf, indem die historische Bedingtheit der Urteile sowie das dahinter stehende erkenntnisleitende Interesse aufgedeckt werden. Das ist im Interesse Melanchthons und des Preisträgers T. J. Wengert.