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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

180 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Klueting, Harm

Titel/Untertitel:

Reformatio vitae Johann Jakob Fabricius (1618/20-1673). Ein Beitrag zu Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung im Luthertum des 17. Jahrhunderts.

Verlag:

Münster: LIT 2003. XVI, 441 S. 8 = Historia profana et ecclesiastica, 9. Geb. Euro 34,90. ISBN 3-8258-7051-0.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die theologische Dissertation von H. Klueting (M. Brecht, Münster) widmet sich erstmals auf breiter Quellenbasis dem Leben und Werk des umstrittenen lutherischen Pfarrers J. J. Fabricius. Entgegen der herrschenden Tendenz, Fabricius auf Grund seiner harschen Kirchenkritik und seiner Kontakte mit Männern wie F. Breckling und J. G. Gichtel dem so genannten Spiritualismus der radikalen Arndtanhänger zuzurechnen, wird hier mit Nachdruck die Verwurzelung des Fabricius in der lutherischen Tradition betont. Seine radikale Bußpredigt und seine kritischen Schriften reflektierten demzufolge die immanente Problematik der lutherischen Rechtfertigungslehre, die es im Sinne der J. Arndtschen Reformbewegung durch eine "Reformation des Lebens" zu ergänzen galt. Zugleich versteht sich die Arbeit als Beitrag zur Profilierung des Konfessionalisierungsbegriffs, der als Christianisierung von Gesellschaft und Leben des Einzelnen gedeutet wird. Eine Theoriedebatte wird freilich nicht geführt.

Sorgfältig zeichnet die Arbeit Leben und Werk des Fabricius anhand der Quellen nach. Wir erfahren u. a. von zwei "Bekehrungen" des Fabricius, wobei sich die offenbar nachhaltigere zweite, als "vorpietistisch" charakterisiert (96), zur Zeit seines Theologiestudiums unter dem Einfluss von J. Lütkemann in Rostock ereignete. Schon die erste Veröffentlichung im Pfarramt, eine Auslegung der Bergpredigt (1646), zeugt vom Rigorismus, mit dem Fabricius seine zentralen Anliegen von Buße und Kirchenzucht vertrat. Zugleich reflektiert sie das Unverständnis, mit dem man diesen Anliegen in der Gemeinde begegnete. Offenbar in direktem Gegensatz zur lutherischen Rechtfertigungslehre legte Fabricius hier alles Gewicht auf das Streben nach Sündlosigkeit und Christusgleichheit. Die sechs unter dem Pseudonym Justus Kläger erschienenen Traktate des Jahres 1646 boten die ganze Breite der radikalen Kirchen- und Gesellschaftskritik des Fabricius, die den "geistlosen Geistlichen", dem christusfremden Schul- und Bildungswesen ("Satans Synagoga", "Disputiergeschwätz") wie überhaupt dem Luthertum seiner Zeit (antichristliches "Babel und Sodom") galt. Zahlreiche praktische Reformideen wie die Katechese in Privathäusern schlossen sich an. Auch spiritualistisches Gedankengut lässt sich nachweisen. Insgesamt blieb die Kritik des Fabricius freilich nach Meinung des Vf.s im Rahmen dessen, was bei J. Arndt und gemäßigten Arndtanhängern geäußert wurde. Die Radikalität etwa von Chr. Hoburgs "Lutherischem Pfaffenputzer" von 1648 erreichte Fabricius demnach nicht. Wenn sich Fabricius in dieser frühen Phase von der lutherischen Rechtfertigungslehre abgrenzte, dann sei dies vor allem im Interesse seines Bußrufes geschehen, der die falschen Sicherheiten traditionell rechtgläubiger Verkündigung aufdecken und eine umfassende Reformation des Lebens vorantreiben sollte. Ausführlich nachgezeichnet wird der durch die kirchenkritische Schrift "Verstocktes Ägypten" ausgelöste Schwelmer Kirchenstreit von 1649 bis 1653, der Fabricius den Vorwurf des Weigelianismus eintrug und schließlich mit dessen Amtsenthebung endete. Hier wird vom Vf. die als theologisches Hauptwerk vorgestellte Schrift zu Wiedergeburt und Buße ("Des Alten und Newen Testaments Buecher ...", Amsterdam 1649) eingeführt, um die Theologie des Fabricius zu rekonstruieren (bes. 194-224).

Im Gegensatz zu den kritischen Traktaten der Jahre 1646 bis 1649 und trotz einiger zugestandener Differenzen zu Luther wird hier vom Vf. eine Rechtfertigungslehre "in bekenntnisgemäß korrekter Fassung" (200) ausgemacht. Es müsse also von einem "entscheidenden Wandel" in den theologischen Auffassungen des Fabricius ausgegangen werden (201). Zwar werden die leitenden Gedanken zu Buße, Sünde, Glaube und Taufe auf J. Arndt zurückgeführt, doch zugleich betont der Vf. die Nähe zu M. Luther sowie zur Confessio Augustana und die Distanz zu spiritualistischen Positionen. Damit verschiebt sich freilich das Interpretationsproblem auf J. Arndt, und über diesen lässt sich bekanntlich noch immer trefflich streiten. Wichtige Orientierungshilfen bieten die in diesem Abschnitt vorgeführten theologischen Themen- und Motivvergleiche. Es stellt sich freilich die Frage, wie weit man damit in der Rekonstruktion einer Theologie und deren Verortung in der Tradition kommt.

Im letzten biographischen Abschnitt widmet sich der Vf. detailliert und kenntnisreich den weiteren Stationen im Lebensweg des Fabricius: der Berufung nach Zwolle 1654, die durch den Kampener Pfarrer J. Brawe, einen alten Rostocker Studienfreund, vermittelt wurde, dann dem Ruf nach Sulzbach 1660, wo Fabricius als Stadtprediger wirkte, und schließlich den letzten Lebensjahren in Amsterdam (1669-1673). In Zwolle lernte Fabricius u. a. L. F. Gifftheil und F. Breckling kennen, in Sulzbach F. Gichtel. In Sulzbach sollte Fabricius auf Grund seiner guten Hebräischkenntnisse an einer neuen Psalmenübersetzung samt Urtextrevision mitwirken. Schon bald wurde er auch hier des Weigelianismus verdächtigt. Noch in seiner Autobiographie von 1669 betonte Fabricius seine Übereinstimmung mit Luther und der CA in der Frage der Rechtfertigung, nicht ohne auf einer Harmonie zwischen den paulinischen Briefen und Jakobus in dieser Frage zu beharren.

Im Schlussteil wird die Bußtheologie des Fabricius nochmals zusammenfassend als Theologie zwischen Arndt und Luther skizziert. In der Perspektive des so genannten "theologischen Hauptwerks" mögen die radikalen frühen Traktate in der Tat "wie Provokationen eines jugendlichen Heißsporns" (255) erscheinen. Ob diese damit am Ende nicht doch ebenso unterbewertet werden wie Freundeskreise und spätere Kontakte, ist freilich die Frage. Dass sich bei Fabricius eine Mäßigung in seinen öffentlichen Äußerungen einstellte, wird nicht zu bestreiten sein. Doch wie ist diese motiviert? Sicher muss Fabricius in seinem Selbstverständnis ernst genommen werden. Doch dies zu erheben bleibt Aufgabe der Interpretation. Schon die zeitliche Nähe zwischen dem "theologischen Hauptwerk" und dem letzten radikalen Traktat über das "verstockte Ägypten" stellt vor offene Fragen. Oder sollte man hier stillschweigend eine dritte "Bekehrung" annehmen - doch in welchem Sinn? Wie auch immer: Es mangelt ganz offensichtlich noch an überzeugenden Kategorien, Männern wie Fabricius in den spannungsreichen und teilweise widersprüchlichen Übergängen zwischen gemäßigtem und radikalem Arndtianismus gerecht zu werden. Hier bietet die Arbeit der weiteren Forschung wichtige Impulse.

Ein umfänglicher Anhang mit ausgewählten Aktenstücken, eine Bibliographie mit Werkverzeichnis und verschiedene Register schließen den materialreichen Band.