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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

178–180

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Das Ende der Reformation. Magdeburgs "Herrgotts Kanzlei" (1548-1551/2).

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XVIII, 662 S. m. Abb. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 123. Lw. Euro 119,00. ISBN 3-16-148171-2.

Rezensent:

Volker Leppin

Die neue materialreiche Studie des Göttinger Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann ist aus einem länger angelegten Forschungsprojekt zum Magdeburger Interim hervorgegangen.

Die einleitenden Bemerkungen dienen mit dem Begriff des "Erinnerungsortes" dem lockeren Brückenschlag zu den neueren erinnerungskulturellen Fragestellungen in den Geschichtswissenschaften. Ihnen folgt im ersten Kapitel die klassische Quellenkritik unter dem Titel: "Das Projekt der Herrgotts Kanzlei". Der Druckort und die Anfänge der antiinterimistischen Publizistik werden vorgestellt. Ohne den Gedanken weiter auszuziehen, macht K. dabei durch das Gegenüber einer nach Auffassung der Autoren durch das Wort Gottes geschaffenen prinzipiell universalen Öffentlichkeit (67) und einer schwer nachvollziehbaren faktischen Rezeption (68 f.) die Problematik deutlich, dass Publizistikforschung kaum mehr als die Weltbilder der Autoren bzw. Kommunikatoren - also nicht die ihrer Rezipienten - zu erheben vermag.

Das zweite Kapitel nimmt die "Ratspropagangda" in den Blick. Auf Basis einer knappen Darstellung der städtischen Verfassung werden die fünf Ratsausschreiben der Jahre 1548-1550 analysiert, in denen das Überwiegen der theologischen Legitimation des eigenen Handelns herausgearbeitet wird. Gerade darum leuchtet die darstellungspragmatische Trennung zum sachgemäß die Confessio von 1550 in den Mittelpunkt rückenden dritten Kapitel über "Gemeinschaftspublikationen der Magdeburger Prediger" nicht wirklich ein, zumal zwischen der Behauptung einer bloßen "Parallelität" zwischen beiden hier (170) und einer naheliegenderweise vorzustellenden "literarische[n] Mitbeteiligung" der Prediger an der Ratspublikation dort (153) eine methodisch nicht recht aufgelöste Spannung besteht. Weil die damit zu Tage liegende hochinteressante Frage nach der Interaktion zwischen beiden Gruppen nicht befriedigend angegangen wird, bleibt K.s "Projekt Herrgotts Kanzlei" in der Zuordnung von politischer und theologischer Dimension unkonturiert.

Der vierte, mit 220 Seiten ausführlichste Teil stellt eine kleine Auswahl von Schriften exemplarisch vor: Aus der sehr verdienstlichen opulenten Bibliographie (493-554) werden neben Liedern und Flugblättern 14 ausführlichere Texte in textnaher, streckenweise paraphrasenartiger Interpretation behandelt. Dass K. dabei der anderen vorgeworfenen "Gefahr methodisch unkontrollierter, gleichsam kulinarischer und punktueller Interpretationsstrategien" selbst nicht entgehen kann, macht seine Erklärung deutlich, nach der seine Ausführungen auf einer "selbstverständlich subjektiven Auswahl" beruhen (alles 209). Die vorgestellte Unterschiedlichkeit der Schriften zeigt die Lebendigkeit der Magdeburger Publizistik. Dass die Schwierigkeit der gegenseitigen Abgrenzungen der Gattungen (248 f.293) der gewählten Typologie einen sehr vorläufigen Charakter gibt, reduziert dabei die Plastizität der Darstellung keineswegs.

Die knappe zusammenfassende Inhaltsanalyse im fünften Kapitel bestätigt weitgehend den Forschungsstand, nach dem die apokalyptische Weltsicht der Autoren der Generation nach Luther maßgeblich als (Selbst-)Interpretation der Reformation im Sinne eines Epochenschnitts zu begreifen ist, die die eigene Zeitspanne als das kleine Spatium zwischen der Offenbarung des Antichrist und dem Jüngsten Tag sehen ließ (s. TRE 28, 392).

K.s Buch zeichnet sich durch die Fülle an Material aus. Auch wenn man sich vielleicht ein Zurücktreten der Paraphrase zu Gunsten einer stärker analytisch orientierten Zusammenschau und Vernetzung der Einzelheiten vorstellen könnte, handelt es sich um eine gewichtige, Einzelerkenntnisse in vielem weiterführende Abhandlung.

Die mehr angedeuteten als ausgeführten weiter reichenden theoretischen Folgerungen allerdings trägt sie nicht: "Ende der Reformation" bedeutet nach K. ein Doppeltes (40): das Ende des Heilshandelns Gottes in der Sicht der in Magdeburg Agierenden und zugleich den letzten "Reinszenierungsversuch des frühreformatorischen Flugschriftenkampfes vor der dauerhaften reichsreligionsrechtlichen Sicherung des Protestantismus" - in einem kühnen Griff werden heilsgeschichtliche Selbstdeutung und historiographische Einordnung ineinander geblendet.

Hierfür ist der hermeneutische Grundsatz leitend, nach dem das Selbstverständnis der Zeitgenossen nicht nur zu berücksichtigen (so zu Recht 479), sondern als "Ansatzpunkt einer historischen Epochenrekonstruktion ... zu wählen" sei (so 487, Anm. 7). Die Anwendung dieses Grundsatzes bringt, von seinen theoretischen Problemen einmal ganz abgesehen, im vorliegenden Fall die Ausblendung mannigfacher Problemkomplexe mit sich: Da der synchrone Vergleich ausbleibt, schmelzen "die" Zeitgenossen, von denen man zur Konstruktion einer historischen Epoche bzw. einer "Epochalisierung" (491) ausgehen soll, auf das von unbeugsamen Gnesiolutheranern bevölkerte Magdeburg zusammen - das Zeitbewusstsein von gemäßigten Anhängern der Reformation bleibt für die Rekonstruktion eines Epochenschnitts ebenso unberücksichtigt wie das der Altgläubigen. Auch ein diachroner Vergleich mit früheren oder späteren Apokalyptikkonzeptionen würde die Fraglichkeit des Ansatzes zeigen. Oder sollte ein Fratizellenforscher, mit K. dem Selbstverständnis seines Untersuchungsgegenstandes folgend, als moderner Historiograph Franz von Assisi zum Beginner einer neuen Epoche ausrufen? Die Menge der so entstehenden Epochenschnitte wäre gewaltig, und die Reformation verlöre sich in einem Meer von Epochalisierungen. Anders ausgedrückt: Mit diesem Verfahren gelangten wir an das "Ende der Reformation" als einer besonderen Epoche. Genau so aber wollte K. den Titel seines Buches wohl eigentlich nicht verstanden wissen.