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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

641–643

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lampert, Heinz

Titel/Untertitel:

Priorität für die Familie. Plädoyer für eine rationale Familienpolitik.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1996. XXI, 332 S. gr.8 = Soziale Orientierung, 10. Kart. DM 62,-. ISBN 3-428-09019-5.

Rezensent:

Siegfried Keil

Der Titel ist Programm. Heinz Lampert fordert Priorität für die Familie; denn diese "universale Institution" ist für ihn einerseits "Voraussetzung jeglicher sozialen und politischen Kultur (Alfons Auer)" (291). Die quantitative und qualitative Reproduktion der Gesellschaft, die quantitative und qualitative Sicherung des volkswirtschaftlichen Arbeitskräftepotentials und die Selbsthilfe im Falle Hilfsbedürftigkeit und sozialer Not von Familienmitgliedern sind von der Existenz der Familien abhängig. Andererseits aber ist heute "eine Gefährdung der Familie und eine starke Schwächung ihrer Dominanz zu diagnostizieren" (294), der die Familienpolitik der Bundesrepublik Deutschland bisher nur fragmentarisch begegnet. "Die Familienpolitik war unstetig und bewirkte aufgrund von relativen und absoluten Leistungsrücknahmen den Eindruck geringer Verläßlichkeit. Sie hatte bisher programmatische und deklamatorische, aber keine faktische Priorität und ist bis heute ein ,Stiefkind der deutschen Sozialpolitik’ (5. Familienbericht) geblieben" (299).

Der Autor, seit 1977 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfamilienministerium, war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere für Wirtschafts- und Sozialpolitik, an der Universität Augsburg. Sein Werk spiegelt die jahrzehntelangen Erfahrungen der interdisziplinären Zusammenarbeit über die eigene Fachdisziplin des Vf.s hinaus. Soziologische, psychologische und (sozial)pädagogische Einsichten der Familienwissenschaft sind ihm ebenso vertraut wie hauswirtschaftliche und demographische. Er setzt sie ein, um ein möglichst unvoreingenommenes Bild der Familienrealität im Deutschland der 90er Jahre zu zeichnen.

"Die Abnahme der Eheschließungsziffern und der Geburtenzahlen, der Anstieg der Scheidungsziffern und die Zunahme bestimmter Lebensformen wie der nicht-ehelichen Gemeinschaften, der Alleinerziehenden und der Alleinlebenden erwecken und nähren vielfach die Befürchtung, daß Ehe und Familie an Bedeutung verlieren. Demgegenüber sprechen die Ergebnisse differenzierter statistischer Analysen und erhobene Einschätzungen dafür, daß Ehe und Familie keinen Bedeutungsverlust, sondern einen Bedeutungswandel erfahren haben" (86). Sie sind nicht mehr selbstverständlich vorgegeben, sondern jede Partnerschaft muß als Verknüpfung zweier individueller Biographien, jede Familie als Schutz-, Entfaltungs- und Regenerationsraum für Eltern und Kinder gegenüber einer eher familienfeindlichen Umwelt jeweils neu aufgebaut und entwickelt werden (Franz Xaver Kaufmann). Dabei sind die überlieferten Leitbilder keineswegs wirkungslos geworden und der "Bereich der akzeptierten und tatsächlich in größerem Umfang realisierten [alternativen] familienbezogenen Lebensformen bleibt [bisher jedenfalls] beschränkt" (87). Dennoch, diese Formen nehmen ebenso zu wie die Zahl der Kinderlosen, und damit kommt es, wenn schon nicht zum Untergang der "auf der Ehe beruhenden Familie", so doch zu einer "Gefährdung der Familie im engeren und eigentlichen Sinn des Wortes" (88).

In diesem ausgewogenen Urteil kommt allenfalls in der Wortwahl der zeitkritischen Bemerkungen zum Ausdruck, daß der Autor seine Arbeit als überzeugter Katholik in der von Anton Rauscher herausgegebenen Reihe "Soziale Orientierung - Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Kommission bei der katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle", Band 10, geschrieben hat. Er sagt selbst bereits im Vorwort: "Ungeachtet meiner Überzeugung habe ich mich selbstverständlich um eine wissenschaftliche,d. h. ideologiefreie, Analyse bemüht. Soweit Werturteile unvermeidlich waren, habe ich sie offengelegt." Daher will er auch seine nach den Familienformen differenzierte und abgestufte Funktionszuschreibung der Familie nicht als Werturteil verstanden wissen, sondern als Aufforderung an die Politik, die funktionsschwächeren Formen stärker zu unterstützen.

"Ohne den verschiedenen Formen der unvollständigen und der nicht auf der Ehe beruhenden Familien generell eine geminderte Leistungsfähigkeit in bezug auf die Erfüllung der Funktionen der Familie zusprechen zu wollen, ist doch ... davon auszugehen, daß das Leistungspotential bestimmter Familienformen, insbesondere der Ein-Eltern-Familie, strukturell eingeschränkt ist und daß die bestimmten Familienformen eigenen strukturellen Schwächen dadurch verstärkt werden, daß sie auch die ökonomischen Grundlagen der Familie (Erwerbsmöglichkeiten, Höhe des Einkommens und Wohnsituation) schwächen. Daraus ergibt sich für die Familienpolitik ... die Aufgabe, den strukturell schwachen Familien besondere Aufmerksamkeit zu schenken" (88).

Der Aufbau des Buches dient zielstrebig der Begründung einer "rationalen Familienpolitik". Nachdem im 1. Kap. (7 ff.) Bedeutung und Leistungen der Familie herausgearbeitet worden sind, beschreibt das 2. Kap. (61 ff.) die Lage der Familien in Deutschland - die Gefährdung der Familie als Institution und die eingeengte wirtschaftliche und soziale Lage, insbesondere der jungen, kinderreichen und alleinerziehenden Familien - und den hemmenden Einfluß dieser Faktoren auf die Erfüllung ihrer Aufgaben und Funktionen, während das 3. Kap. (125 ff.) die gesellschaftlichen Gefahren des veränderten Familiengründungsverhaltens aufzeigt: Die Gefahr der Singularisierung, der Polarisierung und der wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Danach wird im 4. Kap. (143 ff.) in Grundzügen die Entwicklung der Familienpolitik in Deutschland seit dem Kaiserreich rekonstruiert und ihre Unzulänglichkeiten und Defizite aufgezeigt.

Im 5. (143 ff.), dem längsten, zwei Drittel der Arbeit umfassenden Kapitel, entwirft der Vf. dann ein Konzept für die Familienpolitik der Zukunft. Dabei ist ihm die Entwicklung und Verfolgung einer langfristig angelegten rationalen ziel- und systemkonformen familienpolitischen Strategie von besonderer Wichtigkeit. Aus den Besonderheiten der Familienpolitik folgen die Qualitätsmerkmale: Beachtung des Querschnittscharakters und der Glaubwürdigkeit, Verläßlichkeit und Stetigkeit der Familienpolitik. Eine ausgewogene Balance von Familienpolitik als Institutionen und Familienmitgliederpolitik sowie ihre phasen- und adressatenspezifische Ausrichtung.

Inhaltlich geht es um die Grundziele einer familiengerechten Einkommens- und Vermögenslage, einschließlich der Wohnungsversorgung, die Vereinbarkeit von Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit sowie den Ausbau der Infrastruktur von familienunterstützenden (Familienbildung und -beratung) wie -ergänzenden (Kindertagesstätten) Einrichtungen.

Zu den Nahzielen der Familienpolitik gehören die Beibehaltung der Familienorientierung des Systems sozialer Sicherung, die Dynamisierung der familienpolitischen Geldleistungen, die Verbesserung des Erziehungsgeldes, die Erhöhung der Familienfreundlichkeit der Arbeitswelt und der Ausbau der Familienberatung und der Familienbildung.

Unter langfristiger Perspektive müßten überlieferte Instrumente, wie z. B. das Ehegattensplitting, überprüft werden. Um die Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs über die verfassungsmäßig begründete Steuer- und Bedarfsgerechtigkeit hinaus finanzieren zu können, ist für Heinz Lampert aber auch an einen direkten Ausgleich zwischen Kinderlosen und denen, die Kinder haben, mit Hilfe von Familienausgleichskassen zu denken. "Es geht darum, die ökonomischen Belastungen von Kindern, die die Zukunft und die Funktionsfähigkeit der gesamten Gesellschaft sichern, gerecht in der Gesellschaft zu verteilen. So wie jeder erwachsene Mensch ein Recht hat, eine Familie zu gründen, so hat er selbstverständlich auch das Recht, dies nicht zu tun. Alle Gesellschaftsmitglieder aber sind verpflichtet, sich an der Erhaltung und Finanzierung der Werte, Einrichtungen, Güter und Menschen zu beteiligen, die die Gesellschaft für ihre Existenzsicherung benötigt. Es ist auf Dauer den Familien nicht zumutbar, daß ihre Erträge allen zugute kommen, ihre Kosten aber privatisiert werden" (305).

Das Buch endet mit einem informativen Tabellenanhang sowie dem Literaturverzeichnis und einem hilfreichen Personen- und Sachregister.