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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

171–173

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kaufhold, Martin

Titel/Untertitel:

Deutsches Interregnum und europäische Politik. Konfliktlösungen und Entscheidungsstrukturen 1230-1280.

Verlag:

Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2000. XXXIX, 485 S. 8 = Monumenta Germaniae Historica, Schriften, 49. Lw. Euro 60,00. ISBN 3-7752-5449-8.

Rezensent:

Heinrich Holze

Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine von der Universität Heidelberg 1999 angenommene und von Jürgen Miethke betreute Habilitationsschrift. Sie lenkt den Blick auf einen Zeitraum, der in den Darstellungen des Hochmittelalters meist am Rande zu stehen kommt: die in der Mitte des 13. Jh.s gelegenen kaiserlosen Jahre zwischen der Entmachtung Friedrichs II. und der Konsolidierung kaiserlicher Herrschaft unter Rudolf von Habsburg. Die Einleitung knüpft an die bisherige Deutungsgeschichte an (1-26). In der Historiographie des 19.Jh.s galten diese Jahre, in denen schwache Könige das Bild der deutschen Geschichte bestimmten, als eine unruhige Zeit, als so genanntes Interregnum. Mit dem Niedergang der staufischen Herrschaft sei es in Deutschland zur Freisetzung partikularer Fürsteninteressen und dadurch zur Auflösung der öffentlichen Ordnung und zu einer bedrohlichen politischen Anarchie gekommen. Sie sei erst mit der Wahl Rudolfs von Habsburg zum Kaiser wieder überwunden worden.

Der Vf. stellt diese traditionelle Sicht der Geschehnisse in Frage. Seine These lautet: Die Jahrzehnte des Interregnums waren keineswegs von politischer Willkür geprägt. Die durch die Schwäche der Königsgewalt entstandenen Konflikte wurden vielmehr durch schiedsgerichtliche Verfahren geregelt und hatten die Herausbildung neuer politischer Ordnungsstrukturen zur Folge. Diese These wird unter Einbeziehung der europäischen Ländergeschichte, der Rechtsgeschichte und der Kirchengeschichte in 12 Kapiteln entfaltet. Zunächst werden die Initiativen der europäischen Mächte geschildert, die nach der Absetzung FriedrichsII. zur Neubesetzung des deutschen Thrones unternommen wurden, zugleich aber deutlich werden ließen, dass es bei den Nachbarländern Deutschlands keine homogene Interessenlage gab (27-97). Im Reich wurden während des Interregnums immer wieder Klagen über die Schwäche des deutschen Königtums laut. Sie machten auf das Problem aufmerksam, wie angesichts eines vorwiegend abwesenden Königs die Eindeutigkeit und Kontinuität der Herrschaft gewährleistet werden konnte (98- 135). In dieser Zeit unklarer Macht- und Rechtsverhältnisse wurden Lösungsversuche und Schiedsverfahren zum Interessenausgleich entwickelt (136-167). Zu den wichtigsten politischen Ini- tiativen gehörte der Rheinische Städtebund, zu dem sich Fürsten, Herren und Städte von der Nordsee bis zum Bodensee zusammenschlossen (168-215). Sein Scheitern nach nur wenigen Jahren, verursacht durch fehlende Bereitschaft der Mitglieder, die neu gewonnene Selbständigkeit zu Gunsten des Bundes einzuschränken, zeigte, dass das Bewusstsein gemeinsamer Identität noch nicht in entsprechenden politischen Strukturen seinen Ausdruck gefunden hatte (216-244).

An drei ausgewählten Regionen Deutschlands wird der Prozess der politischen Neuordnung beschrieben. Am Niederrhein, im Einflussbereich des Kölner Erzbischofs, wurde in der Mitte des 13. Jh.s eine institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit aufgebaut (245-293). Zwischen den Hansestädten des Nordens kam es zu Bündnisbildungen mit Sanktionsmechanismen, die aber nur selten formalisierte Schiedsverfahren einschlossen (294-319). Wieder anders war die Lage in der Wetterau und am Mittelrhein, einer traditionell königsnahen Landschaft, in der die Städte lagen, welche den Kern des Rheinischen Städtebundes gebildet und sich nun, nach dessen Scheitern, zu einem Schutzbündnis vereinigt hatten; auch hier kam es an verschiedenen Orten zum Aufbau einer institutionalisierten Schiedsgerichtsbarkeit (320-356). Welche Rolle diese spielen sollte, zeigte sich beim Ringen um den deutschen Thron zwischen Ottokar von Böhmen und Rudolf von Habsburg. Freilich brachte das angewandte Verfahren zunächst kein von beiden Seiten akzeptiertes Ergebnis (357-401). Auch ein Blick auf den Pariser Armutsstreit und die Reform des Papstwahlverfahrens, die eine deutliche Steigerung des päpstlichen Herrschaftsanspruchs erkennen lassen, widersprechen dem bisher gewonnenen Ergebnis nicht: In der praktischen Umsetzung der päpstlichen Politik standen aus Gründen der Vernunft das Streben nach Konsens und Integration im Vordergrund (402-432). Mit der Wahl Rudolfs von Habsburg ging das Interregnum zu Ende. In Abgrenzung von der bisherigen Historiographie betont der Vf., dass die Erhebung zum Kaiser nicht auf ein päpstliches Ultimatum hin geschah, sondern das Ergebnis eines in einer Mehrheitswahl gefundenen fürstlichen Konsenses war, der in analoger Weise wie bei schiedsgerichtlichen Verfahren zur Beilegung von Interessenkonflikten von einem Wahlmännergremium gefunden wurde (433-457). Abschließend wirft der Vf. die Frage auf, inwieweit die politische Ordnung nach dem Zusammenbruch der staufischen Herrschaft in der Lage gewesen sei, den Menschen ein erträgliches Leben zu ermöglichen. Seine Antwort lautet: Der Wegfall einer starken Zentralgewalt ebnete den Weg für neue Formen des geregelten Interessenausgleichs. Die politische Integration des Reiches wurde jetzt nicht mehr durch eine starke Autorität, sondern durch rational formalisierte und auf Konsens zielende Schiedsverfahren geleistet. Dabei setzte sich das Majoritätsprinzip gegen die in den Kreisen der Hocharistokratie übliche Stimmengewichtung durch. In gleicher Weise wurde auch die Festsetzung des Wählerkreises auf sieben statt auf sechs oder acht Wähler in der juristischen Theorie dieser Jahre funktional mit der Entscheidungsfindung begründet. Am Ende des Interregnum war also nicht nur der politische Wille gewachsen, die Probleme der zurückliegenden Jahrzehnte durch eine einvernehmliche Lösung zu überwinden, sondern es waren auch die rechtlichen Instrumente eines schiedsgerichtlichen Ausgleichs entwickelt und erprobt worden (458-478).

Die Untersuchung schließt mit den Worten: "Wir erkennen in der vergleichenden Untersuchung der Lösungsmechanismen für politische Konflikte dieser Epoche im Reich und in den Nachbarländern eine gemeinsame europäische Dimension, die nicht nur aus herrschaftlichen Auftritten erwuchs, sondern auch aus den Gemeinsamkeiten praktischer Vernunft" (478). Mit diesem Ergebnis trägt die vorliegende Untersuchung zu einem besseren Verständnis des 13. Jh.s bei. Was früher als eine Zeit politischer Anarchie gedeutet wurde, wird jetzt als Geschichtsabschnitt erkennbar, in dem sich eine neue Ordnung des Mittelalters ankündigt. Diese These wird in gründlicher Analyse der Quellen schlüssig entfaltet und begründet. Auch die Kirchengeschichte kann für die Deutung der Rolle des Papsttums im Investiturstreit wichtige Einsichten gewinnen. Hinzuweisen bleibt noch auf das umfassende Quellen- und Literaturverzeichnis (XIII-XXXIX) sowie auf das Personen- und Ortsregister (479-485), mit dem das voluminöse Werk zuverlässig erschlossen wird.