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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

168 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tiwald, Markus

Titel/Untertitel:

Wanderradikalismus. Jesu erste Jünger - ein Anfang und was davon bleibt.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2002. 332 S. u. XVIII S. Anhang sowie XVIII S. Anhang als Beiheft. gr.8 = Österreichische Biblische Studien, 20. Kart. Euro 56,50. ISBN 3-631-39192-7.

Rezensent:

Kurt Niederwimmer

Die an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Wien eingereichte und von ihr akzeptierte Dissertation stellt sich vier Aufgaben. Sie will (1.) zeigen, dass die Überlieferung über die frühen Wanderradikalen durch eine Präventivzensur hindurchgegangen ist; sie will (2.) das Phänomen des Wanderradikalismus näherhin bestimmen; sie will (3.) dessen soziologischen Ort ausmachen; sie will (4.) auf die ersten wirkungsgeschichtlichen Folgen des urchristlichen Wanderradikalismus hinweisen. Die Durchführung des Programms geschieht mit großer Kenntnis der Sekundärliteratur, mit vorsichtigen und selbständigen Urteilen in kontroversen Fragen, in einer klaren Darstellung, übersichtlich und - nicht zuletzt: unter spürbarer persönlicher Anteilnahme des Vf.s (der der franziskanischen Gemeinschaft angehört).

Ich streiche nur einiges heraus. Vor allem dies: Der Vf. legt das Hauptaugenmerk auf die beiden Grundtexte, in denen das Phänomen des Wanderradikalismus am besten erkannt werden kann: auf Q 9,57-10,22 und auf Did 11 ff. Ein Großteil der Arbeit ist dem Q-Text gewidmet. Nach dem Vf. bildet Q 10,1- 12 die eigentliche Aussendungsrede der Logienquelle. Er versucht (natürlich und - wie sollte es anders sein - mit zum Teil nur hypothetischen Urteilen), den Q-Text zu rekonstruieren. Er wird Recht haben in dem (bekannten) Urteil, dass die einmalige Jüngeraussendung erst eine Fiktion des Mk darstellt, des Weiteren, dass sich die Mission der Wandernden anfangs auf die Häuser beschränkte und erst zu einem späteren Zeitpunkt auf (kleinere) Städte überging; mit dem Kynismus (der für die in Frage kommende Zeit problematisch ist) haben die Phänomene des urchristlichen Wanderradikalismus nichts zu tun. Den Kern der Überlieferung, das älteste Stück, findet er in Q 10,4. An diesen Kern haben sich dann (in Schichten) spätere Überlieferungen angeschlossen. Die diesbezüglichen Rekonstruktionen (169 ff.) sind natürlich nur Konjekturen, aber sie sind in sich stimmig.

Dieser frühe Wanderradikalismus ist aber nun (und das auszuführen, ist ein Hauptanliegen des Vf.s) sehr früh auf Schwierigkeiten und Widerspruch gestoßen. Der Weg führt von ursprünglichen Vergünstigungen zu Verpflichtungen und schließ- lich zu Einschränkungen verschiedenster Art (Präventivzensuren, 175 ff.). Mk kennt das Institut des Wanderradikalismus, sucht aber bereits seinem Radikalismus "die Spitze zu nehmen" (178): einmalige Aussendung, Veränderungen in der Ausrüstungsregel, Bezug auf den Zwölferkreis. Mt geht "ein wenig subtiler" vor (185); er macht aus der rigorosen Regel des Besitzverzichts eine Regel des Erwerbverzichts (ist diese Deutung nicht allzu subtil?); aber dass bei Mt bereits das Gegenüber von Wandernden und Ortsgemeinde sichtbar wird, dürfte richtig beobachtet sein. Die Deutung der lukanischen Texte (speziell natürlich die alte Crux Lk 22,35 ff.) hat mich weniger überzeugt. Hier wird m. E. zuviel systematische Konzeption in das Lukasevangelium eingetragen. Auf S. 211 ff. bietet der Vf. in der Art eines Corrolars einen kleinen Abschnitt über die Frage weiblicher Wanderaskese der Frühzeit.

Ein anderer, größerer Abschnitt wendet sich den Texten der Did zu (221 ff.). Das Evangelienmaterial der Did möchte der Vf. auf eine Logiensammlung nach der Art von Q zurückführen (225 f.). Sehr bemerkenswert ist eine kleine Hypothese, die nur in einer Anmerkung erscheint (226, Anm. 606): Könnte es sich bei den einschlägigen Texten nicht um Zitate aus der Version der Logienquelle nach Mt handeln? Jedenfalls betont der Vf. die geistige Verwandtschaft von Q, Mt und Did.

Der Vf. akzeptiert die (kontrovers beurteilte) Auffassung von der Existenz von Wanderradikalen im Didache-Bereich und teilt meine literarische Schichtung der einschlägigen Kapitel. Er konstatiert die Entwicklung der itineraren Propheten zur Sesshaftigkeit und die Tendenz des Didachisten, die Wanderradikalen in die kirchliche Organisation einzubinden. Zu Recht weist er auch darauf hin, dass das Phänomen damit aber keineswegs überall und definitiv sein Ende gefunden hat.

Nach diesen Analysen versucht der Vf. in einer Art "zweiten Fahrt", die Ergebnisse noch einmal durchzudenken und zu konkretisieren. Er vergleicht die Wanderradikalen der Logienquelle und die der Didache anhand von 12 Kriterien miteinander (246ff.) und versucht eine Art Entwicklungsgeschichte des Phänomens zu zeichnen (256 f.). Wichtig sind seine Versuche, die Wanderradikalen, die er dargestellt hat, von anderen urchristlichen Missionaren soziologisch abzugrenzen (258 ff.). Paulus gehört nicht zum urchristlichen Wanderradikalismus, auch nicht seine Gegner im 2Kor (268 ff.). Größere Nähe findet der Vf. dagegen bei den wandernden Boten des 2. und 3. Johannesbriefes, die er aber von den Wanderern des Did-Typs trennen will. Schließlich findet er (mit Kautelen) Verwandte bei dem Verfasser der johanneischen Apokalypse (285).

In einem knappen Überblick geht der Vf. (289 ff.) auf die nächste Wirkungsgeschichte ein, wobei er vor allem die Ps.clem. Briefe ad Virg. und die Thomasakten nennt, in denen freilich, wie zu Recht betont wird, die ursprüngliche Motivation gänzlich verändert erscheint (307 ff.).

Die klar und kenntnisreich geschriebene Arbeit wird man bei weiteren Beschäftigungen mit dem Phänomen des Wanderradikalismus nicht übersehen dürfen. Im so genannten Wanderradikalismus zeigt sich (auf seine Weise) eines der Grundmotive der christlichen Anfänge: die Aufgabe historischer Vermittlung der eschatologischen Motivation.