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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

150–153

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Behrens, Achim

Titel/Untertitel:

Prophetische Visionsschilderungen im Alten Testament. Sprachliche Eigenarten, Funktion und Geschichte einer Gattung.

Verlag:

Münster: Ugarit-Verlag 2002. XII, 413 S. gr.8 = Alter Orient und Altes Testament, 292. Lw. Euro 82,00. ISBN 3-934628-21-4.

Rezensent:

Holger Delkurt

Die vorliegende Arbeit wurde in Mainz im Wintersemester 2000/2001 als Dissertation angenommen. Betreut wurde sie zunächst von D. Michel, dessen Einfluss die Untersuchung erkennbar bestimmt, und nach Michels Tod von W. Zwickel. B. stellt sich die ehrgeizige Aufgabe, sämtliche Visionsschilderungen des Alten Testaments zu untersuchen und anschließend mit den gemeinhin als Visionen bezeichneten Texten aus Israels Umwelt zu vergleichen.

Die Arbeit fragt nach den formgeschichtlichen Kennzeichen einer Vision. In einer Zeit, die überwiegend redaktionsgeschichtliche Arbeiten hervorbringt und der Formgeschichte kaum mehr großen Wert beimisst, begründet B. ausführlich sein methodisches Vorgehen: Er sieht den Auftrag der Gattungsanalyse nicht mehr in der Rekonstruktion einer mündlichen Vorgeschichte der Texte, sondern bestimmt "die Gattung prophetische Visionsschilderung im folgenden konsequent als literarische Textsorte" (3). B. schließt zwar für einzelne Texte eine mündliche Überlieferung vor der schriftlichen Fixierung nicht aus, geht ihr aber bewusst nicht nach, weil ihm dieser Schritt zu spekulativ erscheint. Stattdessen will er mit Hilfe der Untersuchung der sprachlichen Eigenheiten, der hebräischen Syntax sowie - schwerpunktmäßig- der "sog. Sprachpragmatik in Form der Sprechaktanalyse" die "Textsorte" Vision bestimmen. Entsprechend fragt er statt nach dem "Sitz im Leben" der Gattung nach "Leistung und Funktion" der Texte und damit nach dem "Sitz in der Literatur" (12). Hier könne die Formgeschichte einen Baustein für die Redaktionsgeschichte liefern.

An den bisherigen Untersuchungen zu den Visionen kritisiert B. vor allem, dass sie die Gattung nach inhaltlichen, zu wenig nach formalen Kriterien bestimmt hätten. Er selbst erkennt als "sprachliche Eigenart" eine Zweiteilung in einen Visions- und einen Dialogteil. Der Visionsteil wird immer mit einer Form von r'h "sehen" eröffnet, der sich der "Aufmerksamkeitserreger" wehinne "und siehe" mit einem abschließenden Nominalsatz (in der Abfolge Mubtada-Chabar, also zunächst Nennung des Bekannten, dann des Neuen) anschließt. Diese Abfolge nennt B. einen "Überraschungssatz".

Der Dialogteil beginnt immer mit einer Form von 'mr "sprechen", auf die ein direktiver Sprechakt (nach Searle: Frage oder Imperativ) folgt und die durch einen Satz Gottes bzw. des Gottesvertreters (etwa eines Deuteengels) abgeschlossen wird. Nur Texte, die diesem Schema folgen, werden als Visionen anerkannt. Die "Funktion" der Gattung Vision sieht B. zum einen in der Legitimation des Propheten (bzw. des Prophetenbuchs) und zum anderen in der Weitergabe einer bestimmten Botschaft. Dass in Visionen Bilder eine große Rolle spielen, liegt für B. darin begründet, dass der Leser "bewusst am Sinnbildungsprozess" beteiligt werden soll (73), so dass manche Vision wie Sach 4 ganz ohne Übersetzung des Bildes auskommen kann, sie vielmehr dem Leser ganz überlässt.

Nach diesen grundlegenden Überlegungen prüft B. nun alle Texte, die üblicherweise als Visionen bezeichnet werden (Am 7, 1-8,2; 9,1-4; Jer 1,11 f.13 f.; 24,1-10; Jes 6; 1Kön 22,17. 19-22; Ez 1-3; 8-11; 37,1-14; Sach 1-6; Dan 8-12), auf diese Elemente hin. Die Aufgabe, die Gattungselemente einer Vision nachzuweisen, ist erwartungsgemäß schnell erledigt. Der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt dann zum einen in der Frage, ob der Visionstext von dem Propheten, dem das Buch zugeschrieben wird, selbst stammt oder von einem späteren Ergänzer, zum anderen in dem Versuch, die Intentionen der Texte zu bestimmen. Den Visionszyklus Am 7,1-8,2 weist B. vollständig dem Propheten Amos zu. Die vier Visionen dienen gleichermaßen der Legitimation des Propheten wie der Ankündigung des nahen "Endes" Israels. Um den "dramatischen Fortschritt" von der Abwendbarkeit zur Unabwendbarkeit des Gerichts für die Rezipienten nachvollziehbar zu machen, sei bald nach Amos der Bericht 7,10-17 eingefügt worden.

Bis hierhin folgt B. weitgehend den Kommentierungen von H. W. Wolff und J. Jeremias. Die fünfte Vision Am 9,1-4 spricht B. allerdings Amos ab: Er setzt sie nach dem Untergang des Nordreichs 722 an und sieht in ihr einen Kommentar zum Viererzyklus sowie zur Vision Jes 6. Die Begründung, Am 9 lehne sich "formal und terminologisch" (103) an diese Texte an, vermag die Einschätzung allerdings nicht zu tragen; denn formale und sprachliche Gemeinsamkeiten reichen allein nicht aus, um zu entscheiden, ob literarische Abhängigkeit vorliegt und - falls dies der Fall ist - welcher Text älter, welcher jünger ist. Eine Vielzahl von Beobachtungen spricht eher umgekehrt dafür, dass Am 9 von Jes 6 ausgestaltet wird. Das Visionspaar Jer 1,11 f.13 f. weicht deutlich von dem strengen Schema ab: Beide Male liegt kein Visionsteil vor. Hier gerät B. in Not: Seine Erklärung, dass die Rückfrage an den Propheten "Was siehst du?" "jeweils eine ganze Visionsschilderung" repräsentiert (111), vermag die gravierende Differenz kaum hinreichend verständlich zu machen. Die Gemeinsamkeiten mit den Amosvisionen sieht B. als so eng an, dass sie nicht mehr durch den unabhängigen Gebrauch einer gemeinsamen Form, sondern nur durch direkte literarische Abhängigkeit zu erklären sei. Gibt es aber nicht auch erhebliche Abweichungen?

Unklar bleiben die ausführlichen Überlegen zur Redaktionsgeschichte von Jer 1. B. referiert verschiedene Vorschläge und schließt sich letztlich W. Thiels Einschätzung an, dass Jer 1 eine "redaktionelle Einheit" darstellt, "die ihre gegenwärtige Gestalt D verdankt" (107), will aber anders als dieser keine eigenständige Herkunft von V. 4-10* in Erwägung ziehen. Thiels These, die beiden Visionen gingen auf den Propheten zurück, seien dann von einem Schülerkreis des Propheten zusammengestellt, der sie um V. 15 erweiterte (vgl. W. Thiel, Vom Norden her wird das Unheil eröffnet, in: Prophet und Prophetenbuch. FS O. Kaiser, BZAW 185, 1989, 231-245), wird nicht erwähnt. Dass die Redaktion mit V. 4-10 und 17-19 zwei Texte zum Thema "Beauftragung des Propheten" als Rahmen um die Visionen gelegt hat, kann kein Argument für die redaktionelle Abfassung von V. 4 ff. sein: Etwa für Am 9,1-4 oder Ez 1-3; 8-11 erkennt B. die Möglichkeit, dass eine Redaktion an einen vorgegeben Prophetentext anknüpft. Hier wie auch bei anderen Texten bleibt methodisch unklar, auf welcher Basis B. Texte als sekundär ausscheidet: Er referiert Meinungen und schließt sich einer an, ohne die Gründe für seine Entscheidung hinreichend deutlich zu machen. Mit den Argumenten der Befürworter eines authentischen Kerns von V. 4-9 (vgl. etwa W. H. Schmidt, Jeremias Berufung, in: Ders., Vielfalt und Einheit alttestamentlichen Glaubens 2, 1995, 112-127) setzt sich B. nicht auseinander. Die gerade für das Jeremiabuch so ertragreiche Untersuchung von Sprache und Stil wird nur in Ansätzen betrieben.

Als einheitlichen Text, der auf die Deuteronomisten zurückzuführen ist, versteht B. Jer 24,1-10. Die Intention sei die Illustration der kommenden Verkündigung von Gericht und Heil. Setzt aber die deuteronomistische Redaktion nicht inhaltlich andere Schwerpunkte (vor allem Schuld des Volkes)? So pauschal mag die These B.s nicht zu überzeugen. Auch für diese Vision erkennt B. eine große Nähe zu den Amosvisionen und schließt eine literarische Abhängigkeit nicht aus.

Für Jes 6,1-11 schließt sich B. - wiederum ohne dass man die Gründe unmittelbar nachvollziehen könnte - der Meinung an, der Text sei von Jesaja am Ende seines Auftretens für seine Schüler verfasst worden, weil das Volk nicht auf seine Botschaft gehört habe. Eine Untergattung "Berufungs-" bzw. "Sendungserzählung" oder "Theofanievision" will B. für Jes 6 und 1Kön 22 nicht gelten lassen: "Beide Texte sind als Exemplare der Gattung prophetische Visionsschilderung formgeschichtlich hinreichend bestimmt." (159) Wenn es in Jes 6,5 heißt, wer Gott sehe, müsse sterben, ist für B. der Grundstein dafür gelegt, dass in späteren Texten die Umschreibungen Gottes an Umfang gewinnen und bei Sacharja und Daniel ein Engel Gott vertritt.

In 1Kön 22 findet B. sowohl in V. 17 wie auch in V. 19-22 jeweils vollständige Abläufe einer Vision. Die Erzählung von Micha ben Jimlas Weissagung wird als eine von Jes 6 literarisch abhängige Beispielerzählung zum Prophetengesetz Dtn 18 bestimmt - leider wiederum ohne nähere Begründung. Wird aber nicht umgekehrt 1Kön durch Jes 6 verschärft und im Umfang der angekündigten Zerstörung überboten? Anschaulich hingegen zeigt B. auf, dass Ahab und seine Propheten die gleichen Termini gebrauchen wie Micha, aber mit konträrer Bedeutung. Ziel des Textes sei nicht die Legitimation des Propheten, sondern die Zeichnung eines Kontrastes zwischen irdischem und himmlischem Thronrat.

In Ez 1-3 und 8-11 unterscheidet B. zwischen einer Grundschicht (2,9-3,9; 8 f.*) und einer der Priesterschrift nahe stehenden Redaktion (1,4-2,8a; 10 f.*), die vor allem den Grundtext um spätere Erfahrungen ergänzt. Die "Funktion" beider Großvisionen ist gleichermaßen Legitimation des Propheten und Verkündigung.

Versuche, die Totenfeldvision Ez 37,1-14 in mehrere literarische Schichten aufzuteilen, lehnt B. ab. Wie schon in Jer 1,11 f.13 f. weicht auch der Aufbau in Ez 37 von den strengen Kriterien B.s ab: Die Vision beginnt nicht mit einer Beschreibung der Schau. Dennoch findet B. hinreichend Elemente, die den Text als Vision ausweisen. Die Abweichung erklärt B. gegen seine eingangs aufgestellten Grundsätze inhaltlich, und zwar damit, dass der Text keine legitimatorische, sondern ausschließlich eine verkündigende Aufgabe hat, so dass der Schwerpunkt auf dem Dialogteil liegt.

Für Sacharja geht B. - mit der großen Mehrheit der Exegeten - davon aus, dass ein ursprünglicher, auf den Propheten selbst zurückzuführender Zyklus von sieben Visionen durch eine achte Vision in Kap. 3 ergänzt wurde. Der gleiche Ergänzer sei auch für einen Großteil der Einzelworte im Zyklus verantwortlich. Der Schwerpunkt der Sacharjavisionen liegt zum einen auf der Verkündigung, die "Verheißung und Paränese zugleich" (297) ist, zum anderen aber auf der Legitimierung der Sendung Sacharjas, der als Eingeweihter die fremdartigen Bilder zu sehen bekommt. Sacharja spielt häufig auf die Botschaft seiner Vorgängerpropheten an. Das Auftreten eines Deuteengels versteht B. als Reaktion auf die zunehmende Bedeutung des Bilderverbots: Zu dieser Zeit dürfe ein Prophet Jahwe nicht mehr unmittelbar begegnen; denn wer Jahwe sieht, muss sterben.

Wiewohl die Visionen des apokalyptischen Danielbuchs viele neue Elemente aufnehmen, finden sich die konstitutiven Elemente vollständig wieder. Auch nimmt Daniel Elemente früherer Visionen auf, vor allem Ez 1 f., so dass B. davon sprechen kann, "dass sich Offenbarung eben auch im Auslegungsprozess ereignen kann" (342). Die Stellung der drei Visionen mache deutlich, dass Dan 8-12 als ein großer Visionszusammenhang gesehen werden will. Daniel nimmt Sacharja auf und spitzt ihn weiter zu: Infolge des Bilderverbots wird Jahwe durch einen Engel vertreten, Gottes Name begegnet nur noch ausnahmsweise. Die Grundstruktur ist - von geringfügigen, kontextbedingten Ausnahmen abgesehen - in sämtlichen Visionen gleich, während die Ausführung etwa hinsichtlich Ausführlichkeit oder Bildgehalt variabel sein kann. Damit ist für B. die Gattung Vision keiner geschichtlichen Wandlung unterworfen.

Werden die prophetischen Visionen aus Israels Umwelt übernommen? Der kurze Blick auf die Prophetie außerhalb des Alten Testaments zeigt, dass Visionen formgeschichtlich eine Eigenheit des Alten Testaments bilden: Zwar gibt es gelegentlich motivliche Übereinstimmungen, aber die Struktur einer Vision findet sich nirgends. Auch Vergleiche mit Traumschilderungen erleuchten das Wesen prophetischen Schauens wegen fehlender formaler Übereinstimmungen nicht weiter.

Der Arbeit gelingt es überzeugend, formale Gattungselemente einer Vision zu bestimmen und ihre Kontinuität von Amos bis Daniel aufzuweisen. M. E. aber nicht befriedigend werden die Abweichungen von der Form in Jer 1,11 f.13 f. und Ez 37,1-14 erklärt. In der weiteren Diskussion wird man zudem prüfen müssen, ob engere Gemeinsamkeiten zwischen Texten wie Jes 6 und 1Kön 22 tatsächlich auf literarischer Abhängigkeit beruhen oder ob nicht doch Untergattungen existieren. Ansprechend ist die - allerdings nicht ganz neue - These, Jahwe trete wegen der zunehmenden Bedeutung des Bilderverbots im Verlauf der Literaturgeschichte immer weiter zurück und werde durch Zwischenwesen vertreten. Keine befriedigende Erklärung findet dagegen die Beobachtung, dass im Visionsteil zusehends weniger Elemente aus der Erfahrungswelt aufgenommen werden, während die Bilder komplexer werden und das Geschaute auch kaum mehr im Dialogteil ausgedeutet wird. Die inhaltlichen Ausführungen zu den Einzeltexten fassen oft die aktuellen exegetischen Diskussionen gut zusammen und lassen die wichtigsten Eigenheiten erkennen. Unbefriedigend, weil für den Leser in der Begründung oft nicht nachvollziehbar, sind die Überlegungen zu Literarkritik und Redaktionsgeschichte. Auch wenn es im Rahmen einer solchen Arbeit kaum möglich ist, alle Aspekte der Texte zu behandeln, kann die Berufung auf Forschungsmeinungen aus dem Text gewonnene Argumente nicht ersetzen, erst recht dann nicht, wenn Entscheidungen gefällt werden, die für die Rekonstruktion der Literatur- und Glaubensgeschichte Israels von nicht geringer Bedeutung sind. Für die Diskussion um die formale Bestimmung der Visionen bedeutet die Arbeit zweifellos einen Fortschritt.

Der Band enthält sehr viele Fehler in Orthographie und Interpunktion. Auch in den hebräischen Zitaten finden sich einige Fehler, vor allem im Umbruch und in der Punktierung.