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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

145–148

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Tönges, Elke

Titel/Untertitel:

"Unser Vater im Himmel". Die Bezeichnung Gottes als Vater in der tannaitischen Literatur.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 299 S. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 147. Kart. Euro 40,00. ISBN 3-17-016584-4.

Rezensent:

Michael Becker

Die Studie stellt die überarbeitete Fassung einer im Sommersemester 1999 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum eingereichten Dissertation dar. Betreut von Klaus Wengst ging die Vfn. den Vorkommen der Gottesbezeichnung "Vater im Himmel" in der tannaitischen Literatur nach. Dies geschah vor dem Hintergrund der neutestamentlich-jesuanischen Verwendung, doch wurde versucht, dem Anspruch des frührabbinischen Textbereichs gerecht zu werden.

Nach einem kurzen Überblick über die biblische und frühjüdische Verwendung geht die Vfn. in der Einleitung (11-25) auf die Forschungsgeschichte ein. Neben der Angabe zentraler Fragen wird das Desiderat einer - nicht bloß eklektischen - Analyse des rabbinischen Materials zum Anlass der Studie genommen. Sodann geht die Vfn. kurz auf die Vorgehensweise ein. Dies geschieht freilich derart knapp, dass über die Benennung der Textauswahl und die Aufzählung der Fragehinsichten kaum Raum für die Diskussion methodischer Probleme bleibt. Die Reflexion genügt zwar für eine interne Untersuchung der frührabbinischen Texte, im Blick auf den neutestamentlichen Bereich wären jedoch eine tiefer gehende traditionsgeschichtliche Analyse und eine gründlichere Erörterung der Rekonstruktionsprobleme angebracht.

Im Hauptteil der Untersuchung (26-241) erfolgen ausführliche Textinterpretationen. Sie erfolgen unter drei Kategorien: (I) Das Verhältnis des Volkes Israel zum Vater im Himmel, (II) das entsprechende Verhältnis von Einzelpersonen sowie (III) Gebet und Segen. Die Einzelauslegung der 37 Textpassagen (inklusive Parallelen) folgt dem Schema: Inhaltsangabe, Gliederung, Einzelexegese, Zusammenfassung. Kleine Exkurse ermöglichen darüber hinaus die Behandlung relevanter Sachfragen. Nicht ganz unproblematisch an diesem Vorgehen ist, dass durch die Auslegung ganzer Textabschnitte der eigentliche Untersuchungsgegenstand manchmal ins Hintertreffen gerät.

Zum ersten Hauptpunkt (I) werden vier untergeordnete Kategorien genannt: Machen die biblischen Bedrohungen (1) den familialen Aspekt väterlicher Sorge im Blick auf das Volk Israel besonders deutlich, so stellt die zweite Kategorie, die Aussagen zu Mose, den Priestern und Jerobeam untersucht (2), im Blick auf die Kohärenz ein Problem dar. Verbindend zwischen den Textbereichen ist zwar die Mittlerfunktion Moses und der Priester zwischen Gott und Israel, doch stößt dies bei Jerobeam an Grenzen. Von besonderem Interesse ist der Abschnitt zur historischen Katastrophe (3), da in mSot 9,15 eine zentrale Aussage zum Geschichtsverständnis behandelt wird. Der Abschnitt zur Sühne (4) ist durch zahlreiche Belege vertreten. Dabei fällt auf, dass die Rabbinen um einen Ersatz für die nach der Tempelzerstörung nicht mehr vollziehbaren Opfer ringen. Insgesamt spiegeln die Texte ein Vaterbild, bei dem der Vater im Himmel als beschützende und mitleidende Gestalt gezeichnet ist, die durch ihren Beistand dem Volk eng verbunden ist.

Zum zweiten Abschnitt (II) werden ebenfalls vier Unter-Kategorien genannt: Zunächst geht es um das Tun der Tora und des Gotteswillens (1), wobei im Blick auf den Gotteswillen die Nähe zu matthäischen Aussagen betont wird, während sich Gott dem Toraobservanten als gnädiger und erbarmender Vater erweist. Der unter (2) besprochene Text führt diese Diskussion weiter, macht aber auf eine Differenz im Vaterverständnis aufmerksam, da der irdische Vater lediglich als Vermittler der Tora auftritt, während der himmlische Vater der Geber der Tora selbst ist. Ähnlich wie zuvor in (I 2) bietet die Unter-Kategorie (II 3) "Konkrete Taten" nur eine sehr allgemeine Zuordnung. Obwohl es bei den Taten um identitätsstiftende Merkmale jüdischer Frömmigkeit geht, wird keine exklusive Affinität der Vaterbezeichnung ersichtlich. Anders dagegen verhält es sich mit dem letzten Bereich (4), da dort Frömmigkeitsaspekte mit einzelnen Rabbinen verbunden werden, die eine besondere Nähe zum Vater andeuten. Dies gilt für die Merkava-Tradition wie für R. Eliezers Verhör und die Verbindung von Toraobservanz und Martyrium.

Im letzten Abschnitt (III) werden drei Gesichtspunkte besprochen: Die Herzensausrichtung (1) lässt sich nach lokalen und "innerlichen" Kriterien - das gilt primär für die Chassidim- differenzieren. Hierbei folgt die Vfn. einem Verständnis, wie es von Shmuel Safrai und anderen angeregt wurde, wobei auch die Traditionen zu Choni dem Kreiszieher und Chanina ben Dosa hier eingereiht werden. Dies ist historisch m. E. fragwürdig, hat aber erhebliche Konsequenzen für die Jesustradition. Darüber hinaus dient die Vaterbezeichnung Gottes in Segenstexten (2) einer Betonung des vertrauten Gottesverhältnisses und der Abgrenzung von heidnischer Praxis. Von den zuvor genannten Texten durch die nach-tannaitische Entstehung abgehoben ist dagegen die (implizite) Abba-Anrede Gottes in bTaan 23b (3). Trotz gewisser Vorbehalte versucht die Vfn., auch hier einen Bezug zwischen den Chassidim und Jesus herzustellen, da die Gestalt im Zentrum des Textes als ein Enkel Chonis des Kreisziehers eingeführt wird. Obwohl Analogien zwischen Jesus und den Chassidim nicht in Abrede gestellt werden können, kann er nur unter Absehung einer kritischen Quellenbeurteilung unter diese eingereiht werden.

Die entfaltete Pluralität der Aussagen ist bemerkenswert. Freilich ist die Zuordnung zu den Kategorien mitunter nicht unproblematisch. Dies zeigt sich auch in der Auswertung (242-256), die nach literarischen, thematischen und historischen Gesichtspunkten durchgeführt wird. Im thematisch-inhaltlichen Bereich werden vor dem Hintergrund der durch den familialen Kontext gegebenen Gottesnähe einerseits weitere Konnotationen der Vaterbezeichnung genannt: Schöpfer, Richter, König sowie ein pädagogischer Akzent, andererseits werden die Inhalte erfasst, die mit ihr verbunden sind: die Tora, der Wille Gottes, Riten und religiöse Tugenden sowie die "Ausrichtung des Herzens" bzw. das Gebet. Ein Vergleich mit irdischen Familien wird zwar erwähnt, doch macht dies nur auf Defizite der Ausarbeitung aufmerksam, insofern sozialgeschichtliche Fragestellungen kaum ins Blickfeld treten. Bezeichnend ist, dass die historische Verortung der Aussagen schließlich als "Versuch" gekennzeichnet ist. Denn eine Verortung auf Grund von Rabbinennamen ist in Anbetracht der - von der Vfn. nicht weiter erwähnten - Fachdiskussion fragwürdig; Hinweise auf andere historische Implikationen werden darüber hinaus zwar genannt, aber nicht ausgewertet.

Der abschließende Vergleich mit dem neutestamentlichen Sprachgebrauch ist sehr gedrängt (257-265) und kann daher auf Einzelheiten nicht intensiv eingehen. Neben der allgemeinen Nähe zur matthäischen Verwendung werden vor allem die Belege zu "Abba" sowie das Vaterunser etwas ausführlicher diskutiert. Dabei wird die jesuanische Exklusivität der Abba-Anrede mit Hinweis auf die tannaitische Literatur zu reduzieren versucht, und beim Vaterunser wird auf verschiedene Parallelen hingewiesen. Ein Vergleich Jesu mit einzelnen Rabbinen sowie die Diskussion von Jesu Gottes- und Familienverhältnis wie dem seiner Schüler fasst das zusammen, was zuvor bereits angedeutet war: die vergleichbare Nähe in der Gottesbeziehung wie bei einigen Rabbinen (einschließlich der Chassidim) - trotz der damit einhergehenden Probleme. Die Aussagen zum Bruch Jesu mit seiner irdischen Familie sind angesichts der konträren, aber nicht behandelten Entwicklung in der Urgemeinde und ohne die Erwähnung der Reibungspunkte zwischen Jesu Verkündigung und den väterlichen Überlieferungen zumindest unvollständig, auch wenn eine Analyse den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte.

Insgesamt erschließt die Bearbeitung das rabbinische Quellenmaterial sehr übersichtlich, doch muss dessen Bedeutung und Relevanz für den neutestamentlichen Bereich noch intensiver diskutiert werden.