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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

98–100

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lurz, Friedrich

Titel/Untertitel:

Erlebte Liturgie. Autobiografische Schriften als liturgiewissenschaftliche Quellen.

Verlag:

Münster: LIT 2003. 360 S. gr.8 = Ästhetik - Theologie - Liturgik, 28. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-8258-6987-3.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Lurz befragt einige autobiographische Texte des 16. und 17. Jh.s auf das Erleben von liturgischen Feiern hin, um zu zeigen, wie einzelne Menschen, die nicht Priester waren und somit liturgische Feiern nicht geleitet haben, diese Feiern erlebt und gewertet haben. Die ausgewerteten Schriften wurden verfasst von dem Kölner Ratsherrn Hermann Weinsberg (1518-1597), dem Bauern Caspar Preis (1600-1667), dem österreichischen Grafen Johann Maximilian Lamberg (1608-1682), der Äbtissin Maria Magdalena Haidenbucher (1576-1650), der Priorin Klara Staiger (1588-1656) und der Bürgersfrau Maria Elisabeth Stampfer (1638-1700).

L. stellt fest, dass zwar die Gottesdienste beschrieben werden, dabei aber kaum auf die verwendeten Texte eingegangen wird (das kann z. T. an der lateinischen Sprachbarriere liegen), zugleich wird auch das eigene Mitfeiern kaum reflektiert. Durch die Beschreibungen lassen sich die Lücken in bekannten Formularen leider nicht füllen (wie es z. B. mit dem Reisebericht der Egeria möglich ist, der für die alte Kirche wertvolle Hinweise über liturgische Verläufe aufweist). Stattdessen finden sich in den von L. untersuchten Schriften Hinweise auf liturgische Reformen, wie sie das Tridentinum eingeleitet hatte und mit denen sich der Autor bzw. die Autorin nun auseinander setzen musste. Es lassen sich auch Rückschlüsse ziehen auf das kulturelle Umfeld, das die Partizipanten durch ihre eigene kulturelle Prägung selbst mit in die Feiern einbringen. Z. B. werden allerhand volksfromme Praktiken anlässlich der Feiern an Lebenswenden aufgeführt und besondere Riten ausführlich geschildert, die mit der agendarisch festgelegten liturgischen Feier wenig zu tun hatten, da sie in der Hand der Familie oder des Autobiographen lagen und somit einen besonderen Erlebniswert besaßen.

L. hält fest: Viel so genanntes Nichttheologisches kommt zur Sprache und wird als bedeutungsvoll beschrieben. So wird Einblick gewährt in die Erlebenswelt von einigen Menschen (des 16. und 17. Jh.s), die kaum mit einem theologisch geschulten Blick auf die liturgischen Feiern sehen, sondern sie vielmehr als selbstverständlich für ihr eigenes Leben und ihre Lebensbewältigung in Anspruch nehmen. Konsequent wird hervorgehoben, was diese Feiern für die Berichtenden und ihr kulturelles Umfeld bedeuten. Es wäre interessant gewesen, Ähnlichkeiten zu heutigem Erleben aufzuzeigen, auch wenn die Erlebnisqualität heute anders ist als in den fraglichen Jahrhunderten. Denn beim Lesen der vielfältigen Zeugnisse wurde mir deutlich, dass in heutigen Umfragen, in biographisch-qualitativen Interviews oder gar in autobiographischen Berichten von Menschen in vergleichbaren Lebenssituationen ähnliche Sichtweisen und Aussagen zu Tage treten, wenn sie erlebte Gottesdienste beschreiben und bewerten.

Im Anschluss an die Auswertung der autobiographischen Schriften nennt L. einige Forschungsperspektiven: die Rekonstruktion gottesdienstlicher Wirklichkeiten von Frauen; die konkrete Ausführung von liturgischen Formularen, die ja nicht gedacht werden kann ohne die Menschen, die sie ausführen; die Feierorte; die sozialen und kulturellen Bedingtheiten, unter denen die Feiern begangen werden. Sobald genügend entsprechende Erhebungen vorliegen, lassen sie sich synchron und diachron vergleichen, um zu verallgemeinerungsfähigen Aussagen zu kommen, die bei den wenigen hier ausgewerteten Schriften noch nicht möglich sind.

Diese Aufgaben könnten auch von historischen Anthropologen wahrgenommen werden, deren Methoden und Ergebnisse L. zu Rate zieht. Doch letztendlich stellt er die Frage, welche Bedeutung die Ergebnisse für die Liturgietheologie haben. Denn L. will nicht allein die gängige Liturgiegeschichtsschreibung modifizieren, sondern auch Folgerungen für die prak- tisch-theologischen und systematisch-theologischen Implikationen formulieren. Daraufhin stellt sich für ihn die liturgietheologische Frage nach den Bedingungen, unter denen ein Gottesdiensterleben und eine Mitfeier der Gemeinde möglich sind. Denn L. hält es für nicht hinnehmbar, wenn die Dimensionen von Gottesdienst als objektiv (Heilshandeln Gottes) und subjektiv (Antwort der Menschen) und beide zudem als gegeneinander stehend dargestellt werden, wobei dann auch noch die subjektive Dimension als akzidentiell (dis)qualifiziert wird. Vielmehr hält er für richtig, dass beide Dimensionen miteinander verbunden sind und die heilshandelnde Dimension als je eigene Lebenswirklichkeit angenommen werden kann. Um das zu erreichen, ist insbesondere die symbolisch-rituelle Gestalt der Liturgie wichtig.

Hier nimmt L. die Diskussion um die Bedeutung von Quellen bzw. Texten für das Gottesdienstverständnis auf, denn es ist zu fragen, welche Wirklichkeit mit den Quellen bzw. Texten beschrieben wird, zumal L. seine Untersuchung mit der Feststellung verknüpft hat, dass die Gottesdienstfeier der Gegenstand der Liturgiewissenschaft sei. Denn es kann wohl kaum mit dem Textbestand einer Agende bzw. eines Messbuches die Wirklichkeit eines Gottesdienstes erschöpfend beschrieben werden, weil noch viele andere Ebenen des Feierns die Wirklichkeit eines Gottesdienstes mitbestimmen als nur die Ebene, die man mit dem Aussprechen von vorgegebenen Texten verbindet. Aber was ist die (Lebens)-Wirklichkeit des Gottesdienstes? Das jeweilige subjektive Erleben kann schließlich kaum verallgemeinert werden und wird sich zudem von Gottesdienst zu Gottesdienst verändern. Vielleicht ist die Gottesdienstwirklichkeit so unterschiedlich und möglicherweise auch zu Recht derart veränderbar, dass von einer einzigen oder der feststellbaren Wirklichkeit gar nicht die Rede sein kann. Stattdessen kann unter Umständen im Zusammenspiel von einer vorgegebenen und an Texten orientierten Liturgie und dem Mitfeiern und Erleben dieser Liturgie eine ganz eigene Wirklichkeit entstehen. Sie wäre dann eine an der Feier selbst ablesbare Wirklichkeit, die nicht mehr im subjektiven Erleben festzumachen ist. Denn die Bedeutungen, die von den Subjekten (seien es die Menschen - Priester oder Laien -, aber ebenso auch Gott) in die Feier eingebracht werden und sich zu einem Glaubensakt verdichten, wären dann die Wirklichkeit des Gottesdienstes und somit der eigentliche Gegenstand der Liturgiewissenschaft.