Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

84–86

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Luibl, Hans Jürgen, u. Sabine Scheuter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Opfer. Verschenktes Leben.

Verlag:

Zürich: Pano 2001. VI, 154 S. 8 = denkMal, 3. Kart. Euro 13,00. ISBN 3-907576-36-5.

Rezensent:

Dietrich Zilleßen

Opfer - Heil oder Unheil. "Kann und darf überhaupt die Einschränkung oder gar Vernichtung von Leben als heilbringend interpretiert werden?" (1) Herausgeber und Herausgeberin sehen den Titel des kleinen Buches doppelsinnig. "Verschenktes Leben: Freiwillig und zum Wohle beider Seiten geschenktes Leben, oder aber Leben verschenkt, verpasst, sinnlos vernichtet?" (1) Sicher etwas kurzschlüssig zielen sie auf diese Alternative, obwohl sich schon in den einleitenden Thesen von P. Bühler genügend Hinweise dafür finden, dass es (nicht nur) beim Opferthema um eine tiefer liegende Differenz von theologischer und menschlicher Rede geht (4-6). Gerade weil diese Differenz nicht zu verifizieren ist (es gibt keine liturgische Sondersprache), bleibt Theologie in menschliche Erfahrungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte verstrickt. Menschen sprechen immer auch von sich selbst, wenn sie von Gott sprechen. Unumgänglich ist die theologische Rede vom Opfer auf politische und soziale Opfererfahrungen bezogen, selbst wo sie sich davon unterscheiden will.

Was heißt Opfer im theologischen Sinn? Noch nie waren die Antworten so folgenschwer wie heute. Politische und soziale Opferideen theologisch zu legitimieren, ist ein terroristisches Lebensmuster.

Durch ihren Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3./4. April 1999 hatte Regula Strobel den Zürcher "Opferstreit" ausgelöst. Das vorliegende Buch dokumentiert die Auseinandersetzung, führt sie weiter und vertieft sie. Informationen zur Geschichte des Streits, zu den Kontrahenten, den Haupt- und Nebenfiguren sowie den Institutionen stellt I. Werlen zusammen (143-152, bes. 144.145). Strobels Äußerungen (125-130) hatten heftige Emotionen, bisweilen auch verletzende Attacken ausgelöst. Dabei war die "Opferkritik aus feministischer Sicht", wenig zimperlich formuliert, nicht einmal eine überzeugende Position. Christliche Opfertheologie habe "unheilsame Folgen" (Titelformulierung, 125) gehabt und "ein Klima" (127) geschaffen, das "Akzeptanz sexueller Gewalt an Kindern" (127. 128) ermöglichte: "Wenn ich Opfer sage, denke ich an Konzentrationslager, ethnische Säuberungen, Vergewaltigungen" (Strobel, Wider das Festhalten am Opfer, 139-141, hier 140). Wer wollte nicht für die Opfer und gegen die Täter plädieren? Aber wie steht es dabei mit der Opfertheologie?

Die Einleitung nimmt das Resümee vorweg: Es lohne sich, "um das Opfer zu streiten". Der Streit ist alt. Vor Jahren hatte ihn R. Girard kultursoziologisch mit der Frage nach den Motiven gesellschaftlicher Gewalt verknüpft. Die vielfältige und kontroverse theologische Literatur um und mit Girard belegt die Brisanz dieser Debatte. Girards letztes Buch begründet noch einmal das Interesse an einem opferlosen Christentum. Aber kann das Ergebnis auf Dauer eine opferlose Nichtidentität (Th. W. Adorno) sein? Jede Identität definiert sich durch Grenzziehung. Insofern benötigen die Brüder (Freunde) den Feind, sonst könnten sie nicht Brüder (Freunde) sein (was J. Derrida in "Politik der Freundschaft" ausführlich erörtert hat). Wollten die Schwestern dem nicht zustimmen, wer wären sie dann? Die Negation (Feind), die in jeder Position liegt, beinhaltet kein endgültiges, kein moralisches Nein. Sie birgt die Kraft gesellschaftlicher Entwicklung in sich, weil sie die andere Seite der Identität ist. Darum ist Souveränität nicht unbegrenzte Selbstverfügung. Das Unverfügbare zu missachten, das Opfer zu moralisieren und zu sakrifizieren, ist das Grundmotiv jeder perversen Opfer- und Leidensgeschichte. Das Buch enthält eine Vielzahl von Beiträgen, die sehr differenziert nach dem Umgang mit Leiden, Versagen und Schuld fragen (zum Beispiel: G. Schibler, 93-104) sowie nach dem Täter-Opfer-Zusammenhang etc. (zum Beispiel: R. Munz, 9-12).

Gegen den kritischen, gesellschaftskritischen Blick R. Strobels (und ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter) auf Opferideologien ist wenig zu sagen. Gegen einige ihrer Argumente schon. Nicht von ungefähr plädiert I. U. Dalferth, der R. Strobel ihre Opferkritik einräumt (131), für grundsätzliche Überlegungen. Es ist eine andere Frage, ob Opfer jenseits seiner Perversionen als "Glücksfall des Lebens" im Sinne Dalferths zu bezeichnen ist (131-134). H. Weder tritt Dalferth zur Seite, indem er von Hingabe als Vollzug von Lebendigkeit, von Opfer als Beziehungsphänomen spricht ("Lebendiges Opfer", 135- 138). Dadurch werde gerade die "menschliche Opfermentalität" überwunden und "auch der Einsatz für die Opfer dieser Welt wahrer" (138). Theologie entzieht jeder Moralisierung der Selbsthingabe (Opferpraxis) den Boden, weil sie gerade den Schuldzusammenhang aufhebt (Weder, 137 f.). Aber deshalb bleibt die Frage unausweichlich, ob Opfertheologie sich nicht intensiver der Übersetzung ihrer symbolisch-metaphysischen Muster widmen muss, um zu verhindern, dass es zur moralischen Sakrifizierung von Opfern kommt. Für die Schuld der Weltmenschen zu sterben, ist jedenfalls ein symbolisches Muster, dessen Signifikanten historisch und lebensgeschichtlich durchaus problematisch sind. Das bringen neben Strobel einige Autorinnen (und wenige Autoren) mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck (z. B. R. Munz, 9-12; U. Eichler, 73-83). Die Theologie des Todes Jesu hat doch wohl bessere Formulierungen, um verschenktes Leben in seiner ganzen Widersprüchlichkeit als doppelsinnig zu bezeichnen - doppelsinnig, damit jede vordergründige Inanspruchnahme unterbleibt. Die guten Gaben (Hingabe, Versöhnung, Liebe) dürfen ebenso wenig sakrifiziert werden wie ihre Perversionen. Es sind doch nicht Teufel und Götter, die in der Welt agieren. Keine Liebe kann schuldlos sein, weil sie immer mit Lebensstrategien zu tun hat. Der Gute verdient (im doppelten Sinn) Anerkennung. Was hätten wir davon, einmal überspitzt gefragt, wenn Jesus der absolute Gutmensch, Vorbild im arianischen Sinn sein müsste? Schon in der Einleitung des Buches grenzen Luibl/Scheuter die freiwillige religiöse Hingabe (sacrificium) von der Gewalt ab, die jemand als Opfer (victima) erleidet (2): Opfertheologie weist Missbrauch und Traumatisierung von Opfern zurück.

Aber so ganz einfach ist die linguistische Lösung nicht, da sie als bloße Umkehrung verstanden werden kann. Hingabe für die Gemeinschaft ist die andere Seite der Abgrenzung und Verstoßung. Natürlich bedarf das Leben solcher Unterscheidungen. Aber ist das schon Theologie? Spricht etwa die feministische Opferkritik nicht theologisch genug, weil sie dem Scheitern an den Forderungen des Lebens mit netten Tischgemeinschaften (Strobel, 130) begegnen will, und die Opfertheologie zu wenig ideologiekritisch, weil sie sich mit einem metaphysischen Muster begnügt? Zum Thema Opfer und Gewalt sind m. E. Derridas Überlegungen unverzichtbar (Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität). Der Zürcher Streit zeigt auch, wie wichtig es in diesem Zusammenhang wäre, über Zwei-Reiche-Lehre und ihre Modifikationen, über Politische Theologie, über politischen und wirtschaftlichen Messianismus zu diskutieren. Das Problem, wie (menschliche, also relative) Theologie noch gesellschaftskritisch sein kann (was bei den meisten Beiträgen des Bandes wenn nicht intendiert, dann nicht bestritten wird), ist mit der Abgrenzung von Liebe und Gewalt nicht entschieden. Ist Liebe nicht mehr faszinierende Gewalt als sanfte Macht- jedenfalls ein überwältigendes Ereignis mit unterschiedlichsten Folgen?

Es lohnt sich, die historischen, exegetischen, religionspsychologischen Untersuchungen zu Opfer und Opfergeschichte zur Kenntnis zu nehmen (z. B. W. Burkert, 25-28; K. Schmid, 29-33; E. Stubbe, 47-64). Aber die Entscheidung, die Metapher des "Opfertodes" zur christologischen Grundaussage zu machen, lässt sich durch solche Überlegungen nicht absichern. Sie hängt unumgänglich von der Erforschung der Lebenswelten ab, von der Geschichte der Zeichen und dem gegenwärtigen Zeichengebrauch. Manche Beiträge haben für diese Probleme anscheinend wenig Sensibilität.

Also weiterhin Opfertheologie? Es ist immer problematisch, pauschal zu sprechen (Strobel zählt nur zwei Varianten, 126). Und auch Richtigstellungen (z. B. Weder, 137.138), so viele Impulse sie auch bieten, werden dem Prozess der Tradition kaum gerecht. Entscheidend ist, welche symbolischen Verweise "Opfertheologie" beinhaltet. Kein Leben ist ohne Kampf um Lebenschancen, ohne Gabentausch, ohne Schuld. Wenn Opfer eine symbolische Darstellung dieses Kampfes ist (G. Theißen), verweist es auf eine existentielle Ambivalenz, auf Geben und Nehmen. Theologie redet nicht daran vorbei: Schuld muss verarbeitet werden. Gott reute der Zustand der Menschen und der Welt. Ein Glücksfall. Vergebung, theologisch, ist grundlos. Deshalb redet Theologie nicht mehr von Moral und Schuld.