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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

636–638

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Baurmann, Michael

Titel/Untertitel:

Der Markt der Tugend. Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft. Eine soziologische Untersuchung.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. 681 S. gr.8= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, 91. DM 198,-. ISBN 3-16-146556-3.

Rezensent:

Matthias Heesch

Ihrem begründeten Selbstverständnis nach, aber auch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, gelten die Kirchen als Instanzen, die eine gewisse Kompetenz für die individuelle Lebensgestaltung und die Normen der Gemeinschaft haben. Das schließt die Frage ein, was es mit dem, vor allem unter dem Aspekt seines tatsächlichen oder angeblichen Schwindens, vieldiskutierten Sachverhalt bzw. Begriff der Tugend auf sich habe. Weil die Kirchen das, was sie zu Fragen von allgemeiner Bedeutung zu sagen haben, in einer säkularen Umwelt vertreten müssen, ist bei einem Thema wie der Tugend Interdisziplinarität gefordert. Die nachfolgend zu besprechende Rekonstruktion des Tugendbegriffs wird daher auch theologisches Interesse finden.

Michael Baurmann setzt sich mit der Tugend aus der Sicht der Sozialwissenschaft auseinander, näherhin aus der Sicht einer Soziologie des Rechts. Diese befaßt sich mit soziologischen Erklärungen für die Entstehung und Geltung von Rechtsnormen (67). Solche Normen regeln die Ausübung von Zwang entsprechend dem Willen eines Gesetzgebers (77). Dabei besitzen die sogenannten Ermächtigungsnormen zentrale Bedeutung: Sie bevollmächtigen Gremien und Individuen, in bestimmten Situationen sanktionsbewehrte Maßnahmen zu verhängen (78-86 u. ö.). Angesichts dessen fragt sich nicht nur, wie den Ermächtigungsnormen faktisch Geltung verschafft werden kann, sondern auch, wie die solchermaßen Ermächtigten an die Grenzen der Rechtsordnung gebunden werden können (121, 123 f. u. ö.). Die Diskussion der sozialen Bedeutung der Tugend soll diese als Prinzip der Loyalität gegenüber geltenden Normen, aber auch als ein Prinzip der Begrenzung für durch rechtsförmige Vollmachten ermächtigtes Handeln aufweisen. Mit anderen Worten: Die gerne voneinander getrennten Aspekte der Tugendhaftigkeit und der Rechtskonformität des Handelns sollen so miteinander verbunden werden, daß sich eine Theorie des Rechtsstaats als funktional und ethisch adäquate und realistische Form des Zusammenlebens unter Gegenwartsbedingungen ergibt.

B. diskutiert die Frage nach der sozialen Relevanz der Tugend nacheinander unter zwei alternativen Modellkonzeptionen: Zunächst wird die Aufgabe unter der Prämisse einer ökonomischen Welt angegangen (125-280): Diese ist von situativen Nutzenmaximierern bevölkert, d.h. von Individuen, die in jeder Situation das für sie gegenwärtig Nützlichste folgerichtig umsetzen (129-133 u. ö.). Der so bestimmte homo oeconomicus kann nach keiner anderen Regel als der konsequent situativen und streng individuellen Nutzenmaximierung handeln (137). Daraus ergibt sich, daß der homo oeconomicus, weil er sich jeden unbeobachteten und situativ nützlichen Verstoß gegen eine ihn verpflichtende Norm erlauben und jede ihn ermächtigende Norm zu seinen Gunsten überziehen wird, unfähig ist, Normgeltung als gemeinsames Gut einer Gesellschaft zu verwirklichen (181-187 u. ö.). In dieser klassischen ökonomischen Welt kann es also keinen Rechtsstaat geben: Es gibt nur unbeschränkte Herrschaft und ineffektive, weil vereinzelte, Opposition dagegen, beides unternommen von homines oeconomici, die die Ausbeutung und den Versuch, sich ihr zu entziehen, jeweils um des momentanen und individuellen Nutzens willen unternehmen.

B. entwirft nun ein alternatives Paradigma. Angesichts der faktischen Existenz stabiler Rechtsstaaten - global gesehen zwar einer Minderheit - genügt die Erklärungskraft des ersten Modells nicht. In dieser von B. so genannten Neuen ökonomischen Welt (281-637) ist Platz für Moral als überindividuelles Bindemittel (275 u.ö.). In diesem Sinne ist der homo oeconomicus des ersten Modells abzulösen durch den dispositionellen Nutzenmaximierer (324-344). Ähnlich wie der klassische homo oeconomicus ist der dispositionelle Nutzenmaximierer auf Eigennutzen ausgerichtet (328-331). Aber er ist nicht an die situative Nutzenmaximierung gebunden, d. h. er hat die Möglichkeit, moralische Dispositionen, d. h. Tugenden, zu erwerben, deren Ausübung ihm erst langfristig nützt. Damit kommt die Reputation als moralischer Kredit ins Spiel, der Partizipationschancen eröffnet und dessen Wert den eines kurzfristig nützlichen Normverstoßes regelmäßig überwiegt (383 f., 422-444 u.ö.).

Wenn dies die subjektive Seite normgerechten Verhaltens ist, stellt sich die Frage nach dem objektiven Aspekt: B. entwirft zur Lösung dieser Frage seine Theorie des sogenannten kooperativen Unternehmens (392-408 u. ö.). Dabei handelt es sich um eine auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhende Körperschaft zur gemeinsamen Verfolgung materieller oder ideeller Interessen nach generalisierbaren und insofern allgemein akzeptablen Regeln (471-514). Partizipieren kann, wer von den Unternehmern, d. h. denjenigen, die maßgeblich am Unternehmen beteiligt sind, der Teilhabe für würdig befunden wird. Nur dispositionelle Nutzenmaximierer, nicht aber klassische homines oeconomici können ihre eigenen Interessen so mit denen des Unternehmens verbinden, daß nicht ständige Normverstöße das Unternehmen zerstören (398 f.). Unternehmen haben deswegen ein Interesse an moralisch gebundenen dispositionellen Nutzenmaximierern. Es entsteht somit eine mittels der Kategorie des Marktes darstellbare Nachfrage nach tugendhaften Individuen. Diese bevölkern die Gesellschaft, aus der die Unternehmen dann ihre Mitglieder berufen. Damit bildet sich, ausgehend von der Nachfrage der Unternehmen, ein gesamtgesellschaftlicher Markt der Tugend (549-552 u. ö.).

Die Frage nach der Möglichkeit des Rechtsstaates ist nun lösbar: Das Handeln staatlicher Funktionsträger ist ein kollektives Gut (572-574 u. ö.), das unter tugendhaften dispositionellen Nutzenmaximierern nicht durch ständige Normverletzungen konterkariert wird. Ferner besteht jedenfalls die Möglichkeit, daß der Rechtsstaat nicht diktatorisch oder oligarchisch wird: Denn einerseits gibt es die Chance, daß die Partizipanten der im Rechtsstaat als kooperatives Unternehmen gestalteten Machtausübung angesichts des Marktes der Tugend tugendhafte Persönlichkeiten sind. Andererseits hat die politisch nicht aktive Mehrheit, abgesehen von den Garantien einer demokratischen Verfassung, die Option des Widerstandes, der ein Kollektivgut ist, über das nur dispositionelle Nutzenmaximierer verfügen, weil sie kurzfristigen Einsatz fordernde Engagements mit erst langfristig erwartbarem Nutzen eingehen können (589-604). B. schließt seine Überlegungen mit drei Thesen ab, nämlich a) daß keine rechtsstaatlich verfaßte Gesellschaft ohne Tugend auskommen kann, b) daß Tugend aber, was vor allem gegen den Kommunitarismus gesagt wird (18-23, 653-658), nur Bestand haben kann, wenn sie im Eigeninteresse der Individuen liegt, und c) daß dieser Sachverhalt an den Phänomenen aufgewiesen werden muß und nicht im Wege der Moralpredigt nur gefordert werden darf (658).

Was ist nun der theologisch fruchtbar zu machende Ertrag von B.s Werk? Es ist zweierlei zu erwähnen: a) Wesentlich erscheint der Gedanke der Eigenverantwortung des moralischen Subjektes. Weil gesellschaftliche Partizipation mittlerweile verstärkt über Gruppenzugehörigkeit definiert wird - so etwa, weithin unwidersprochen und vielfach rezipiert, in der Soziologie J. Galtungs - und wegen der damit verbundenen schleichenden und häufig durch informelle Sanktionen der political correctness geschützten Machtgewinne der Gruppenlobbyisten und -beauftragten, ist die Erinnerung an die mit der Reformation unhintergehbar verbundene Einsicht in die ethische Unvertretbarkeit des Individuums an der Zeit: Gesellschaftliche Moral ist mithin die Moral derer, die als Einzelne in ihrer Gesamtheit die Gesellschaft bilden. Daß die deskriptive Soziologie (im Unterschied zu normativen Disziplinen wie Theologie oder Rechtswissenschaft) das nachweist, gibt dieser Einsicht einen besonderen Wert. b) Aus theologischer Sicht wäre zu sagen, daß B. von der affektiven Seite der Tugend weitgehend abstrahiert. Das folgt aus der Eigenart der angewandten Theoriemodelle und daraus, daß hier soziologisch und eben nicht theologisch über Tugend gehandelt wird. Für eine theologische Weiterarbeit bleibt die Aufgabe, die Erlebnisdimension von Tugend, also ihr Impliziertsein in einem in bestimmter Weise qualifizierten christlich-frommen Bewußtsein, zu rekonstruieren. Hier wäre etwa an Schleiermachers theologische Ethik, aber auch schon an Luthers Sermon von den guten Werken zu erinnern.

Daß B.s Überlegungen theologischem Weiterdenken einen weiten Raum offenlassen, kann dem insgesamt hervorragenden Buch - kritisch wären allenfalls der Umfang und einige allzu umständliche Einzelargumentationen zu erwähnen - nicht als Mangel angelastet werden.