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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

76 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Beutel, Eckart

Titel/Untertitel:

Fontane und die Religion. Neuzeitliches Christentum im Beziehungsfeld von Tradition und Individuation.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2003. XIV, 250 S. 8 = Praktische Theologie und Kultur, 13. Kart. Euro 34,95. ISBN 3-579-03492-8.

Rezensent:

Michael Nüchtern

Theodor Fontane hat im deutschen Sprachraum eine große Lesergemeinde. Vielfältig sind auch die theologischen Bezüge seines Werks. Volker Drehsen, Eilert Herms, Wilhelm Hüffmeier, aber auch die junge Elisabeth Moltmann-Wendel (1964) und andere hat darum Fontane zu Arbeiten dazu angeregt. Diese sind freilich von Form und Umfang her durchweg kleinere Einzelstudien. Zu den religiösen Fragen des Werks lag bisher nur die Monographie über den "selbstverständlichen Geistlichen" von Johannes Ester (1975) vor. Schon deshalb greift man mit Erwartung zur Tübinger Dissertation von Eckart Beutel, die erstmals eine umfassendere Darstellung und Erörterung des Religiösen bei Fontane verspricht - wie der Titel verheißt.

Wie der Untertitel zeigt, nähert sich B. dem Religiösen bei Fontane unter einer spezifischen Perspektive. "Fontanes Denken und Schaffen kommt exemplarische Bedeutung zu für das ausdifferenzierte Beziehungsfeld von Tradition und Individuation" (IX). Dietrich Rösslers Formulierung von der dreifachen Gestalt des Christentums in der Moderne nutzend fragt B. nach den Ausprägungen und Leistungen des kirchlichen wie des privaten Christentums in Fontanes Biographie und Schaffen. Der Dichter des 19. Jh.s erweist sich als ausgesprochen fruchtbar für diese Fragestellung, die sonst leicht ein wenig abstrakt daherkommt. Das wahrhaft weite "Beziehungsfeld von Tradition und Individuation" im neuzeitlichen Christentum gewinnt im Hinblick auf Fontane Konkretion und Farbe. Die Hinsicht auf ein privates Christentum verhindert zudem eine kirchliche Vereinnahmung des Dichters, vor der manche Germanisten den märkischen und Berliner Erzähler des 19. Jh.s am besten so zu schützen meinen, dass sie die religiösen Bezüge seines Werks übersehen.

B.s Studie hat vier Teile. Im ersten (1-21, Druckfehler in der Gliederung des Inhaltsverzeichnisses!) erläutert er knapp seine Sicht des neuzeitlichen Christentums: Das, was man als Säkularisierung bezeichnen könnte, ist in Wahrheit eher eine Individuierung und Transformation der christlichen Tradition. Von daher wendet er sich gegen ein quantifizierendes Verständnis des Christlichen im Hinblick auf Fontane, aber auch grundsätzlich.

Der zweite Teil ist dem Verhältnis von christlicher Tradition und Individuation bei Fontane selbst auf Grund seiner persönlichen Äußerungen gewidmet (23-93). In seinen Briefen stehen bekanntlich disparate Aussagen nebeneinander. Nicht als Ethisierung, sondern als Individualisierung des Christlichen kann B. Fontanes Religiosität verstehen. Sie schließt herbe Kritik an den Vertretern der institutionellen Religion ein, wenn diese entweder religiösen Zwang ausüben oder als Vertreter der Institution nicht identifizierbar werden. Präzise - und dabei ist Fontane für die neuzeitliche Situation paradigmatisch - analysiert B.: Was Fontane für sich selbst ablehnt - die Treue zu den Bekenntnissen -, muss der Geistliche zeigen (78.84). Auf Grund der biographischen Schriften bringt B. das Ideal des gleichermaßen positionellen wie kommunikativ-geselligen Geistlichen auf die Begriffe: bekenntnistreu und offen, erkennbar, ohne Druck auszuüben. Das Dilemma des institutionalisierten Christentums in Fontanes Zeit und aus Fontanes Sicht freilich ist, dass es in seiner Kirchlichkeit nicht offen ist und in seiner völligen Unverbindlichkeit nicht tradierungsfähig wird.

Im dritten, ausführlichsten Teil wird das Spannungsfeld von religiöser Tradition und Individuation zur Leitfrage für eine Analyse des Werks Fontanes (95-222). Geschickt ordnet B. die Romane dabei zugleich bestimmten Mustern der Beziehung von Tradition und Individuation zu. Im Roman "Vor dem Sturm" wird in verdichteter Form das Panorama einer Epoche gezeichnet; so werden die unterschiedlichsten Spielarten institutioneller wie individueller Religion erkennbar. Formen individueller Religiosität können Ursache tragischen Scheiterns wie auch Grundlage erfüllten Lebens sein. Die Nähe bzw. Abständigkeit der privaten Religiosität vom institutionalisierten Protestantismus wird zur Leitfrage für die Analyse der Werke Fontanes zwischen "Vor dem Sturm" und "Der Stechlin". In Fontanes letztem Roman ("Der Stechlin") sieht B. durch "idealisierende Verklärung" in der Person des Pastors Lorenzen die Spannung zwischen privater und institutionalisierter Religion aufgehoben. "Die individuelle Religiosität des Pastors Lorenzen wird hier zur institutionalisierten Religion" (222). B. bemerkt dazu sehr scharf, dass durch solche Idealisierung eine Integrationsfigur und "eine Identifikationsmöglichkeit für jeden Leser" entsteht, aber zugleich Konkretion und Distinktion schwinden: Kirchlich kann Lorenzens Christentum nicht mehr sein. Aber, so wird man ergänzen müssen, die Tradierbarkeit und Tradierung dieses Christentums hat Fontane durchaus im Blick. Was in der realen Welt scheitern mag, davon erzählt die Fiktion.

B.s kurzer Schlussteil (223-229) plädiert unter normativen Gesichtspunkten demgegenüber und mit biographischen Äußerungen Fontanes für die Notwendigkeit einer bleibenden Differenz zwischen privater Religion und Kirchlichkeit. Der Pfarrer soll "Mittler" zwischen Tradition und Individuation sein, also nicht die völlige Auflösung der Spannung propagieren. Bei der angenehmen "Verbindlichkeit des Unverbindlichen" geht die Tradierbarkeit des Christlichen verloren. Es ist die kirchliche Form des Christentums, die die Tradierungsfähigkeit des Religiösen und damit gerade auch die Möglichkeit seiner individuellen Aneignung sichert.

B.s Untersuchung vereint in schöner und einsichtiger Weise eine systematische Perspektive und die klärende Aufarbeitung historischen Materials mit einer klaren Position zum pastoralen Handeln.