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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

73–75

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Axmacher, Elke

Titel/Untertitel:

Johann Arndt und Paul Gerhardt. Studien zu Theologie, Frömmigkeit und geistlicher Dichtung des 17. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2001. XX, 353 S. gr.8 = Mainzer Hymnologische Studien, 3. Kart. Euro 46,00. ISBN 3-7720-2931-2.

Rezensent:

Hermann Geyer

"Johann Arndt und Paul Gerhardt": Der programmatische Titel, die Tatsache, dass sich unter den zehn "Studien" aus den Jahren 1989 bis 2000 zwei Originalbeiträge zu Liedern Gerhardts und einer als Doppelstudie zu Arndt und Gerhardt finden, eine behutsame Gesamtredaktion auch der bereits anderenorts publizierten Beiträge sowie ein zusammengefasstes Quellen- und Literaturverzeichnis zeigen, dass der Band, ohne einen monographischen Zusammenhang herzustellen, doch für deutlich mehr steht als nur eine Zweitpublikation verstreuter Einzelbeiträge. Innerhalb eines von der Vfn. in zwei Jahrzehnten Forschung vielfältig erkundeten, weit verzweigten (früh-) neuzeitlichen Themengebietes (u. a. Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert, Praxis Evangeliorum bzw. Meditation und Mystik bei M. Moller und Passionsliedstudien etwa zu J. Heermann) steckt der Band einen engeren, sachlich als zusammengehörig gesehenen Bereich ab. Text und Anlagen bieten eine Reihe wertvoller und bis in den Schriftsatz hinein sorgfältig aufbereiteter Textbeigaben, ein Grund mehr, das schöne und gut lesbare Buch auch Menschen zu empfehlen, die nicht in Fachbibliotheken zu Hause sind.

Dass die Vfn. ihre Studien in einer zweiten Perspektive mit einem gegenwartsbezogenen Interesse wie der "Einholung der Lieddichtung Gerhardts in unsere Frömmigkeit" (105 f.; vgl. XVII f. u. ö.) verbindet - sei doch deren "heutige Verwendbarkeit" die "zweite Hauptsache" (XVII) - tut der fundierten, methodisch vielseitigen historischen Interpretation keinen Abbruch. Im Gegenteil versteht sie es, die "theologische Fremdheit" und "Abständigkeit" frühneuzeitlicher Texte und Lieder gegenüber heute sichtbar und die bewusst zugemutete "ästhetische Verfremdung der Texte durch den Nachweis ihrer Zeitgebundenheit" hermeneutisch sowohl für die Entstehungszeit wie für eine gegenwartsbezogene Erschließung fruchtbar zu machen (105, vgl. 81 f.111 u. ö.). Ihre Weise, durch produktive Verunsicherung einer "falsche[n], weil unverstandene[n] Unmittelbarkeit" zu Gerhardts Liedern hindurch so umsichtig wie klar zu einer multiperspektivisch reflektierten, "vertieften Aneignung jenseits der vermeintlichen Selbstverständlichkeit" (104-106) zu leiten, ist hymnologische Forschung in Hochform.

Gemäß der Trias des Untertitels: "Theologie, Frömmigkeit und geistliche Dichtung" geht die Vfn. nicht nur die Hymnologie, sondern auch die Erbauungsliteratur, den zweiten, kleineren Schwerpunkt, interdisziplinär an (79 ff.), wobei sie die pluralen, sachlich wie methodisch differenzierten Perspektiven zu integrieren und zu einem Gesamtbild zusammenzuführen weiß. Zu ihrem Ansatz der "Theologischen Liedinterpretation" formuliert sie im Beitrag "Konfessionalismus und Frömmigkeit" (73 ff.) Grundsätzliches, während der Aufsatz zu "Befiehl du deine Wege. Ein Lied von der göttlichen Providenz" (103 ff.) dazu ihre Weise des Herangehens paradigmatisch entfaltet: Auf eine Reflexion zu "Ziel und ... Methode der Interpretation" (I) folgt eine konzise literaturwissenschaftliche "Analyse der Liedstruktur" (II), an die sich noch ein "Exkurs zur theologischen Bedeutung des Liedaufbaus" anschließt. Teil III dokumentiert mit Textbeigaben den Artikel De providentia in der zeitgenössischen Dogmatik. Teil IV interpretiert das Lied im Ganzen und en detail als "providentia-Lied". Die dichte "Literarisch-theologische Interpretation" (V) schließlich plädiert überzeugend für die für den Deutungsansatz der Vfn. insgesamt zentrale These, dass die jeweilige "Gestalt des Gedichts" (bzw. der Lieder Gerhardts) keineswegs nur als "nachträgliche Form eines gegebenen Inhalts" zu deuten sei, sondern selbst "als Gehalt", d. h. dass sein "Inhalt als sprachliche Wirklichkeit zu begreifen" sei (126). Gerade darin erweise sich ihr spezifischer Charakter als "gedichtete Theologie" (77, im Anschluss an G. Ebeling): "Man glaubt dieser Sprache den Gott der providentiellen Treue. Sie bringt ihn zur Sprache".

In aller interdisziplinären Vielfalt liegt der Schwerpunkt auf der theologischen Perspektive, die auch für die Zusammenschau von Arndt und Gerhardt verantwortlich zeichnet. Fern jedes theologiehistorischen Reduktionismus (vgl. 79 ff.) vertritt die Vfn. im Anschluss an Berndt Hamms Begriff der "Frömmigkeitstheologie" die gewichtige, ihrerseits überkommene Engführungen aufbrechende These, dass sowohl bei Arndt wie bei Gerhardt, wenngleich nicht im Medium theologischer Wissenschaft, so doch "immer [...] dezidiert Theologie getrieben" wird. "Diesen theologischen Charakter sowohl der Erbauungsliteratur als auch der geistlichen Dichtung und die Besonderheit der Theologie in dichterischer Gestaltung herauszustellen ist das Hauptanliegen der hier vorgelegten Beiträge" (XII ff., vgl. 209).

Von deren "theologische[r] Fundierung ... in der dogmatischen Lehre der lutherischen Orthodoxie" (XIV) ausgehend weiß die Vfn. das Eigengewicht der sprachlich-poetischen Gestalt von Gerhardts Liedern überzeugend gerade als nicht nur äußere Form, sondern als Eigengestalt zu würdigen. Dem Interpretationsansatz einer "Meditation der Lehre" treu (81 f.) entfaltet sie ihre "dichterisch-theologische Deutung" im Spannungsfeld zwischen der doctrina als Lehrgrundlage, der persönlichen Heilsaneignung und ihrer verdichteten Gestalt der Glaubens- bzw. Frömmigkeitspraxis. So weist die Vfn. am Choral "Wie soll ich dich empfangen" vor dem Hintergrund der Formel vom dreifachen Advent Christi auf, wie sich objektive Lehre und subjektive Aneignung hier so durchdringen, dass das "objektive Erlösungswerk Christi ... vom Ich als seine persönliche Rettung dargestellt, also subjektiviert" wird "als Exempel für das, was Christus aller Welt getan hat". So verleiht erst Gerhardt dem zeitgenössischen Predigttopos, dass die Verheißung: "Dein König kommt zu dir" in der Ankunft Christi im Herzen zu ihrem Ziel kommt, seine "formal und sprachlich adäquate Gestalt, indem er das Kommen Jesu ins Fleisch als Erfahrung des Ich zur Sprache bringt und dann diese Erfahrung die Antwort sein läßt auf die Frage nach der gegenwärtigen Begegnung mit Jesus" (99 f.). In dieser Synthese von Dogmatik, Dichtung und gelebter Praxis kommt zum Ziel, worum es dieser Theologie geht.

Wenn acht von zehn Beiträgen Liedstudien enthalten und nicht nur der Anordnung nach in der Mitte zu stehen kommen (neben den Genannten "Herr Jesu, meine Liebe", "Ist Gott für mich", "Ich bin ein Gast auf Erden", "O Haupt voll Blut und Wunden", "Ein Lämmlein geht" und, in der mit Arndt vergleichenden Studie, "Jesu, allerliebster Bruder"), zeigt sich, wo das Herzstück des Buches zu finden ist.

Dies spricht nicht gegen Eigencharakter und -wert der vorgeschalteten Beiträge zu Arndt: 1) Die Studie zu Arndts theologischer Anthropologie (1 ff.) diskutiert sein "Ebenbildverständnis" im Wahren Christentum im Horizont der "Dialektik von Lehre und Leben", der katholischen wie evangelischen imago-Lehre sowie in systematisch-theologischen Überlegungen. U. a. in Auseinandersetzung mit Hans Schneiders mystisch-spiritualistischer Sicht Arndts sowie in Abwehr einer Deutung im Sinn einer - allerdings kaum je diskutierten - apersonalen Verschmelzungsmystik will die Vfn. im Mainstream der neueren Forschung zeigen, dass Arndt im Sinne einer "Erneuerung der reformatorischen Frömmigkeit" "mit dem Anschluß an mystische Terminologie reformatorische Positionen unter veränderten Bedingungen befestigen will" (6, Anm. 15; XI). 2) Unter dem - A. Pfeiffer entlehnten - Titel: "... daß Passio Christi sey Satisfactoria, Meritoria, Monitoria" thematisiert die Vfn. "Die Passionsgebete in Johann Arndts Paradiesgärtlein" (Parad. II, 13-16.18; S. 43 ff.), wobei sie sich nach kurzer Übersicht hauptsächlich auf das erste kapriziert und u. a. daran eine zu Moller parallele Rezeption der pseudoaugustinischen Meditationes analysiert. Ähnlich wie in 1) sucht sie zu zeigen, wie Arndt durch "insistierende Bezugnahme auf die Lehrtradition" aus der Vorlage ein "theologisch der lutherischen Tradition verpflichtetes Passionsgebet" macht (71.65). So sei das "Bild Arndts als eines die theologische Lehre zu Gunsten der religiösen Lebenspraxis abwertenden, dem Luthertum allenfalls pflichtmäßig verbundenen, hingegen der Mystik und dem Spiritualismus innerlich nahestehenden Mannes wenigstens auf seine Passionstheologie" (71) bezogen zu korrigieren. Auch hier zielt die Einschränkung letztlich doch auf eine Entschränkung.

Reizvoll ist die Bündelung der Stränge in einem ein Gebet Arndts und ein Lied Gerhardts verknüpfenden letzten Beitrag zur nachreformatorischen Freundschaftslehre, bei dem sich jedoch der Eindruck einer inneren Geschlossenheit nicht im selben Maß wie in den anderen Studien einstellt.

Auch gute Bücher reizen zum Einspruch. Eine klare Stärke der Liedinterpretation, die Form der Mikrostudie, erscheint für Arndt insofern als schwierig, als von einigen Bezugnahmen auf andere Werke abgesehen je ein Kapitel oder Gebet eine eher schmale Quellenbasis für weit reichende Schlüsse bleibt. Ein Widerspruch zu dem fruchtbaren und überzeugenden, das Buch tragenden Ansatz tut sich im letzten Beitrag auf. In glänzender rhetorischer Analyse (266-270) weist die Vfn. auf, wie Arndt in einer "extensiven Art ... auf die Allmacht der Rhetorik" setzt, und dies "aus Verzweiflung über die Ohnmacht der schlichten Rede, also der Lehre, die er doch ohne Abstriche vertritt"! Just ein so der "lutherischen Tradition verpflichtete[r]" Theologe - der selbst wie kein anderer den Einsatz rhetorischer Mittel attackiert - nutze "äußerste Möglichkeiten des Affektgebrauchs" und "rhetorisch gesteigerte Rede gegen das ihm wirkungslos erscheinende schlichte Wort ...", wohingegen "[a]nders als Arndt [...] Gerhardt offenkundig der biblischen Sprache, deren Wort- und Bildbestand er kunstvoll einsetzt", traue! (286) Wenn es gilt, Arndt "als Theologen ernster zu nehmen, als das meist geschieht" (52), und wenn die Sprachgestalt eines Werkes als dessen theologische Eigengestalt zu deuten ist, ist auch die "Ambivalenz von Arndts Gebet" (270) nicht nur einer vermeintlich sekundär adaptierten Rhetorik zuzuweisen. Dann sind für die Reserviertheit gegenüber dem verbum externum genuin theologische Gründe zu vermuten. Diese partielle Kritik versteht sich als Anwendung und insofern Bestätigung der Kernthese des Buches.

Abschließend ein persönliches Votum: Es handelt sich um ein engagiert verfasstes, anregendes und schönes Buch, das nicht nur wertvolle Aufschlüsse, sondern auch interessante Impulse vermittelt - besonders durch die Liedstudien. Nicht nur Wissenschaftlern ist es in die Hand zu wünschen, sondern auch kreativen Teams von (Kirchen-)Musikern und Theologen, die sich inspirieren lassen. Zu den hier behandelten Liedern finden sie reichlich Anregung - auf Weiteres ist zu hoffen.