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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

71 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Ratpert

Titel/Untertitel:

St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli). Hrsg. u. übers. v. H. Steiner.

Verlag:

Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2002. X, 283 S. 8 = Monumenta Germaniae Historica, 75. Lw. Euro 30,00. ISBN 3-7752-5475-7.

Rezensent:

Gert Haendler

Die "Casus sancti Galli" sind bekannt als köstliche Darstellung des Mönches Ekkehard IV., der im 11. Jh. die Zustände im Kloster St. Gallen unter diesem Titel schilderte. Weniger bekannt ist Ekkehards Vorbild: Der Mönch und Schulmeister Ratpert schrieb fünf Generationen zuvor ohne literarisches Vorbild eine "Hauschronik des Klosters". Ratperts Darstellung war "etwas ins Abseits der modernen Geschichtsschreibung geraten" (VI). Die Einleitung geht auf 134 Seiten den verschiedenen Problemen gründlich nach. Der Name Ratpert findet sich in 49 Urkunden zwischen 876 und 902.

Ekkehard stellt sehr lebendig drei Mönche in St. Gallen am Ende des 9. Jh.s vor Augen: Tuotilo, Ratpert und Notker. Zwischen dem "feinfühligen und sanften, ja gelegentlich zur Ängstlichkeit neigenden Notker und dem beredten, zupackenden und reisefreudigen Tuotilo, einer energischen Künstlerpersönlichkeit, hielt Ratpert die Mitte" (7). Ratpert erscheint als der Typ des Vernünftigen. Seine Klugheit bezog sich überwiegend "auf das Praktische". Nach Ekkehards Darstellung neigte Ratpert dazu, "den Schuldienst über die Pflicht zur Einhaltung der klösterlichen Tageszeiten, zum Besuch der Messe oder des Kapitels zu stellen" (8). Ratperts Casus sancti Galli gelten primär der rechtlichen Absicherung des Klosters. Ratpert hat dem Begriff casus im Titel primär "eine juristische Bedeutung unterlegt" (13). Besonders wichtig ist ihm die Amtsnachfolge der Äbte.

Ein zentrales Leitmotiv der Chronik ist die securitas. Ratpert geht es "um die Gewähr eines ungestörten monastischen Lebens, die Sicherung des Besitzstandes gegen die Begehrlichkeiten des Bischofs, vor allem aber um das Abtwahlrecht" (14). Ratpert beschreibt "die unstete Rechtslage gegenüber der königlichen und bischöflichen Gewalt, die meist unvorhersehbaren Verdüsterungen und Aufhellungen der äußeren Bedingungen, kurz das wechselnde Geschick des Gallusklosters" (16). Steiner neigt zur Datierung um 890. Der Bischof Salomo III. von Konstanz war "vom König in Verletzung des Abtwahlrechtes eingesetzt und sein Abbatiat erst im Nachhinein vom Konvent durch seine Wahl sanktioniert worden" (23). Ratperts Werk erscheint am besten verständlich als ein Nachklang dieser Erschütterungen. "Die Absetzung eines gewählten Abtes, die Vergabe der Abtei an einen Kaplan des neuen Königs im Kleriker-Habitus, die offensichtlich erst nach geraumer Zeit erfolgte Sanktionierung des erzwungenen Machtwechsels durch den Konvent und schließlich die Vereinigung von Abt- und Bischofswürde: eine vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen St. Gallens alarmierende Situation" (24).

Im Kapitel "Quellen und Vorlagen" zeigt Steiner, dass Ratpert sich bei der Vorgeschichte des Klosters bis zum Tode Otmars auf ältere schriftliche Nachrichten stützt (25-37). Für die Zeit der bischöflichen Vorherrschaft ist eine Szene am Hof Ludwigs des Frommen wichtig, in der das Kloster "unter Königsschutz gestellt und mit einem Abtwahlprivileg versehen" wurde (47). Der Abschnitt über die Zeit der klösterlichen Eigenständigkeit bringt "jene königlichen Diplome, die Immunität, Königsschutz und Abtwahlrecht betrafen", die fast alle noch heute in St. Gallen aufbewahrt werden (49). Mit drei Bücherverzeichnissen würdigt Ratpert die Leistungen des Sciptoriums (56-66 sowie 248-252).

Mit seiner Darstellung betrat Ratpert Neuland. Die Gesta abbatum Fontanellensium, die einzige vor 890 geschriebene Klosterchronik, war ihm vermutlich nicht bekannt (67). Die Behauptung, Ratperts Sprache sei von der lateinischen Bibel geprägt (71), wird vom Register nicht bestätigt. Die Frage, ob er die Vulgata oder eine ältere Übersetzung der Vetus Latina benutzte, stellt sich nicht. Eine "vermutlich der Vulgata entlehnte Wendung" ist wenig überzeugend (78 bzw. 176 mit Anm. 169). Anleihen aus der Liturgie "erstrecken sich selten über mehr als zwei Worte" (73).

Alle überlieferten sieben Handschriften sind "von späteren Händen in unterschiedlichem Ausmaß mit Ergänzungen, Anmerkungen und Hinweisen versehen worden" (95). Im Anfang des 16. Jh.s gewann der Text Interesse bei Vadian, dem Reformator St. Gallens (111). Den Erstdruck besorgte Melchior Goldast 1606. Die erste Edition in den Monumenta Germaniae Historica erarbeitete 1829 Ildefons von Arx (Scriptores, Bd. 2). Gerold Meyer von Kronau bot 1872 die bisher meist benutzte Ausgabe (116 f.). Steiners Text folgt der Leithandschrift B.

Bisher waren nur wenige ausgewählte Kapitel übersetzt worden. Steiner bietet die erste vollständige Übersetzung. Er lehnt sich eng an den lateinischen Text an. Dadurch werden einige Sätze etwas lang, aber man kann die Übersetzung leicht mit dem lateinischen Text vergleichen. Das Register nennt nur wenige Bibelstellen (243), antike Gewährsleute wie Cicero oder Vergil fehlen. Aber auch sonst oft zitierte Kirchenväter wie Ambrosius, Augustin oder Papst Gregor I. werden nicht erwähnt.

Der Band bietet einen zuverlässigen Text, eine streng wörtliche Übersetzung sowie eine instruktive Einleitung. Die Edition sollte damit für alle weiteren Forschungen über das späte 9. Jh. im Abendland sowie über die ältere Geschichte des Klosters St.Gallen in Zukunft unverzichtbar sein.