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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

67–70

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kosche, Rosemarie

Titel/Untertitel:

Studien zur Geschichte der Juden zwischen Rhein und Weser im Mittelalter.

Verlag:

Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2002. X, 423 S. u. 9 Ktn. im Anhang gr.8 = Forschungen zur Geschichte der Juden. Abt. A, 15. Geb. Euro 56,00. ISBN 3-7752-5624-5.

Rezensent:

Otto Böcher

Die vorliegende Monographie zur mittelalterlichen Geschichte der Juden im Raum Westfalen ist eine Dissertation des Fachbereichs III der Universität Trier; angeregt und betreut von Alfred Haverkamp, wurde sie im Wintersemester 2000/2001 angenommen. Sie schließt insofern eine Forschungslücke, als die Geschichte des nordwestdeutschen Judentums im Mittelalter, anders als diejenige der Juden am Ober- und Mittelrhein, bislang kaum in den Horizont der Historiker getreten war; lediglich die zahlreichen Publikationen Bernhard Brillings (seit 1958, vgl. 374) und Diethard Aschoffs (seit 1979, vgl. 371 f.) markieren hier eine deutliche Wende. Die von der Vfn. ausgewerteten Nachrichten und Quellen zur jüdischen Geschichte betreffen vor allem folgende Territorien: "die Bistümer Münster, Osnabrück, Minden und Paderborn, das kurkölnische Herzogtum Westfalen, die Grafschaften Mark und Berg sowie Kleve in seinen rechtsrheinischen Erstreckungen, die Reichsstadt Dortmund, die Abteistädte Essen und Werden wie auch die Edelherrschaft Lippe" (4).

In ihrer Einleitung (I, 1-8) referiert die Vfn. zunächst den Forschungsstand; mit Recht verweist sie auf die zu Anfang des 20.Jh.s formulierte Forderung des nachmaligen Heidelberger Historikers Eugen Täubler (1879-1953, emigriert 1941), jüdische Entwicklungen in die allgemeine Geschichtsforschung einzubeziehen. Erst um 1960, 15 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus, begann die Umsetzung der Anregungen Täublers durch jüdische und nichtjüdische Mediävisten. Unter den anschließend genannten Quellen verdienen, abgesehen von den bereits publizierten Materialien der "Westfalia Judaica", vor allem die Kölner Schreinsbücher besondere Erwähnung. Ungedruckte Nachrichten zur westfälischen Judengeschichte finden sich u. a. in Archiven in Köln, Düsseldorf, Osnabrück, Münster und Dortmund (3). Schließlich erläutert die Vfn. "Themenstellung und Methode". Dabei erfährt man, warum die vorliegende Untersuchung auch die an das spätmittelalterliche Westfalen angrenzenden Territorien, vor allem Hessen, einbezieht, warum sie von der Siedlungsbewegung der Juden ausgeht, zentrale Judengemeinden und ihre personalen Verknüpfungen in den Blick nimmt und nach den Rechtsgrundlagen jüdischen Lebens fragt, bevor sie ihre Ergebnisse bündelt.

So ist der erste Hauptteil der "Siedlungsgeschichte" (II, 9- 128) gewidmet; die Einwanderung erfolgte von Süden nach Norden, entlang der großen Straßen und Flüsse. Zunächst erwähnt die Vfn. "temporäre Anwesenheit von Juden in Westfalen", darunter den um 1127/28 in Münster und Cappenberg mit dem Christentum in enge Berührung getretenen und später in Köln getauften Kölner Juden Juda ben David Halewi (nach seiner Taufe: Hermannus bzw. Hermann von Scheda), dessen Verwandte bezeichnenderweise in Mainz und Worms wohnten (15 mit Anm. 34). Im Folgenden behandelt die Vfn. nacheinander jüdische Niederlassungen bis 1250, von 1251 bis 1300 und von 1301 bis 1350; ein Abschnitt untersucht die "kultisch-topographische Ausstattung" der Gemeinden des 13. bis zur Mitte des 14. Jh.s, d. h. die Hierarchie der Gemeinden und das Vorhandensein einer Synagoge und eines Friedhofs bzw. Friedhofsbezirks (für mehrere Gemeinden). Es schließen sich die Nachrichten über Gemeinden zwischen 1351 und 1519 an, und zwar getrennt nach rechts- und linksrheinischen Niederlassungen in jeweils fünf Jahrzehnten; das Jahr 1519, Zeitpunkt der Vertreibung der Juden aus Regensburg nach dem Tode Maximilians I. (reg. 1486-1519), ist identisch mit dem Endpunkt des dritten Teils des nach Ortsnamen alphabetisch geordneten Nachschlagewerks Germania Judaica (120). Auch für den Zeitraum 1351 bis 1519 behandelt ein eigener Abschnitt die "kultisch-topographische Ausstattung"; auf den Seiten 102- 111 findet sich ein vergleichender Exkurs über die "Reichssteuern der Juden".

Auf Grund ihrer geschichtlichen Bedeutung (und der Gunst der Quellenlage) erhält die Judengemeinde von Dortmund ein im Wesentlichen chronologisch strukturiertes Sonderkapitel (III, 129-193): "Die Gemeinde Dortmund im zentralörtlichen Gefüge des jüdischen Siedlungsnetzes: Dortmund als Unterzentrum Kölns". Eine ausführliche Untersuchung der bekannt gewordenen "Verfolgungen und Vertreibungen" der westfälischen Juden schließt sich an (IV, 194-231). Besonders wichtig sind die Ereignisse im Kontext der Pestepidemie; die Ermordung bzw. Vertreibung der Juden Westfalens setzt erst 1350 ein (Duisburg), ist also gegenüber dem übrigen Reich um ein bis anderthalb Jahre verzögert (201). Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil ist die Abwanderung der deutschen Juden in den europäischen Osten nach 1350 nicht sofort und geradlinig, sondern offenbar über längere Zeit und in "verschiedenen Etappen" erfolgt (229 f.).

Eine erste Bilanz zieht Kapitel V (232-243): "Jüdisches Siedlungsgefüge zwischen Rhein und Weser". In der zweiten Hälfte des 14. Jh.s ist eine Zweiteilung des untersuchten Gebiets zu beobachten: "Die auf Köln hin orientierten Orte im Westen lassen keine Beziehungen zu den Niederlassungen in Ostwestfalen erkennen" (233); diese nämlich bildeten ein eigenes Unterzentrum in Minden und waren im Übrigen nach Hildesheim und Braunschweig orientiert (ebd.). Am Ende des 15. Jh.s begegnen nur noch instabile und zunehmend rudimentäre Organisationsformen (243).

Die Kapitel VI-VIII widmen sich rechtsgeschichtlichen und wirtschaftlichen Fragen. Kapitel VI ("Die Rechtsgrundlagen der jüdischen Ansiedlungen", 244-280) analysiert sorgfältig die erhaltenen Urkunden (Aufnahmeurkunden, Schutzbriefe, Geleitbriefe usw.) aus der Zeit vor und nach 1350; die klevisch-märkischen Geleite werden gesondert untersucht. Als "wirtschaftliche Tätigkeitsfelder" (VII, 281-297) eruiert die Vfn. vor allem (mit detaillierten Beispielen) den Geld- und Pfandhandel, wobei als lebende Pfänder nicht nur Pferde, sondern auch Kühe, Schafe, Ziegen und sogar Bienenstöcke in Frage kamen (284); im Übrigen wurden vermutlich Renteneinnahmen, Hausrat, Kleidung und Schmuck beliehen bzw. als Pfänder verkauft (288). Auch jüdische Ärzte und Handwerker sind bezeugt; Rabbiner, Kantoren und Schächter gab es vermutlich nicht nur in Dortmund (14. und 15. Jh., 296). Dass unter den in die westfälische Feme-Gerichtsbarkeit aktiv oder passiv Involvierten relativ viele Juden zu finden sind, hängt mit der besonderen Bedeutung der vom Kölner Erzbischof begünstigten Feme in Westfalen zusammen (VIII, "Feme", 298-323). Im Abschlusskapitel (IX, "Ergebnisse, Perspektiven, Desiderata", 324-328) bündelt die Vfn. die wichtigsten Ergebnisse ihrer Untersuchungen. Dazu gehört etwa die Tatsache, dass die jüdischen Siedlungen untereinander außerordentlich eng verflochten waren; dies gilt nicht zuletzt für die Gemeinden in Dortmund und Köln. Die jüdische Oberschicht war familiär vielfach verschränkt (Dortmund, Münster, Osnabrück). Künftige Forschung wird nach der "zentralörtlichen", auf dem Rang der jeweiligen Führungsschicht basierenden Qualität der Judengemeinden fragen müssen, aber auch nach den Auswirkungen der christlichen Rechtsprechung (Feme) auf die innerjüdische Gemeindeautonomie.

Der Anhang des Buches verzeichnet in Regestenform 23 Schutzbriefe der Jahre 1309-1500 (329-343) und 89 Verfahren von Juden vor Femegerichten der Jahre 1425-1576 (344-360). Ein Abkürzungsverzeichnis (361 f.), Verzeichnisse der ungedruckten und gedruckten Quellen (363-371), der Literatur und der Hilfsmittel (371-395) sowie der Orte und Personen (396-423) beschließen den Textteil. Neun Karten, davon zwei in Farbe, dokumentieren Judenniederlassungen der Jahre 1201- 1250, 1251-1300, 1301-1350, 1351-1400, 1401-1450, 1451- 1500 und 1501-1520 sowie die Wiederbesiedlung Westfalens durch Juden nach 1350 (Karte 8) und die Involvierung westfälischer Juden in Prozesse der Feme (Karte 9).

Zwei Schönheitsfehler möchte der Rezensent benennen. Im Abschnitt über den jüdischen Konvertiten Juda ben David Halewi bzw. Hermann von Scheda (10-16) fehlen konkrete Daten; wann war Juda in Mainz, wann in Münster? Und zweitens: Lateinische Substantive als Zitate sollten in einem deutschen Text nicht im zufälligen Kasus der Quelle, sondern im Nominativ erscheinen, also: adolescentium curiositas, nicht adolescentibus curiositate (11); rationalis preda, nicht rationalem predam (15); emunitas synagogae, nicht emunitatem synagogae (51) usw.

Ansonsten aber handelt es sich um eine vorzügliche Arbeit, die das spröde Thema methodisch sauber und gut lesbar behandelt. Lücken in den verfügbaren Quellen werden benannt und behutsam durch Vergleiche mit verwandtem Material geschlossen; in großer Vorsicht enthält sich die Vfn. kühner Hypothesen und pauschaler Urteile. Die Register ermöglichen jederzeit orts- und personengeschichtliche Querschnitte; so ist ein Handbuch zur mittelalterlichen Geschichte der Juden Westfalens entstanden, das seine Bedeutung behalten wird.