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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

66 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Holze, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die abendländische Kirche im hohen Mittelalter (12./13. Jahrhundert).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 301 S. gr.8 = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, I/12. Geb. Euro 24,00. ISBN 3-374-02047-X.

Rezensent:

Helmut Feld

Innerhalb der Reihe "Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen" (KGE), in der seit 1978 insgesamt 29 Bände erschienen sind und 11 Bände sich in Planung befinden, ist dieser der Darstellung des Hochmittelalters gewidmet. Näherhin wird der zeitliche Rahmen durch den Beginn der Kreuzzüge und den Pontifikat Bonifaz' VIII. bestimmt. Methodisch orientiert sich der Vf. nicht so sehr am (kirchen-)politischen Ablauf der Ereignisse als vielmehr an den geistigen Erscheinungen und Prozessen, die diese Epoche charakterisieren; um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen: die Auseinandersetzung zwischen geistlicher und weltlicher Macht, die Rolle der Klöster und Ordensgemeinschaften und die aus ihnen hervorgegangenen Reformbewegungen, die Entwicklung des kanonischen Rechts, das geistliche Rittertum, die religiöse Frauenbewegung, die Armutsbewegung innerhalb und außerhalb der mittelalterlichen Kirche, die Religiosität und Volksfrömmigkeit. Diese und andere Grundthemen begegnen in den vier Kapiteln des Buches jeweils im Stadium ihrer geschichtlich bedingten Entwicklung. Die darin zum Ausdruck kommende Struktur macht zum nicht geringen Teil die Stärke des Werkes als Studien- und Unterrichtsinstrument aus. Hinzu kommen eine übersichtliche Gliederung und eine klare, verständliche Sprache, die die Zusammenhänge erhellt, ohne zu simplifizieren.

Es muss allerdings auch von einigen Mängeln die Rede sein, die dem kritischen Leser ins Auge fallen. In den Kapiteln 2 bis 4 nimmt die Beschreibung von Leben und Ideal des Franziskus von Assisi und des Franziskanertums unter dem Einfluss der Römischen Kurie mit Recht den umfangreichen Raum ein, der ihrer geschichtlichen Bedeutung entspricht. Man kann aber diesen schwierigen und durch wissenschaftliche Kontroversen behafteten Komplex nicht sachgerecht behandeln, ohne sich wenigstens ansatzweise mit der Quellenfrage (seit dem Ende des 19. Jh.s in der Forschung als die "Franziskanische Frage" schlechthin bekannt) zu befassen. Ein kurzer Überblick über die Quellenlage wäre für den Leser und Studierenden nützlich und wichtig, genauso wie eine Befassung mit dem Leben Jesu ohne ein vorausgehendes Studium der Entstehung und gegenseitigen Abhängigkeit der Evangelien wenig sinnvoll ist. Da aber der Vf. sich offensichtlich nicht eingehend mit der Problematik der franziskanischen Quellenschriften befasst hat, sondern sich weithin auf Übersetzungen und z. T. veraltete Literatur verlässt, sind Fehlbeurteilungen und leider auch Falschinformationen unvermeidlich.

Als Belege für die hier summarisch geäußerte Kritik nenne ich nur einige Beispiele: Das "Speculum perfectionis" stammt, entgegen der noch von Paul Sabatier (1898) vertretenen Meinung, nicht aus dem Jahre 1228 (167 f.), auch wenn es z. T., wie die vergleichbaren Sammlungen ("Legenda Perusina" oder "Compilatio Assisiensis"), zuverlässiges, altes Traditionsgut enthält. Auch die "Sacrum Commercium" genannte Schrift ist nicht schon 1227 (216), sondern erst viel später (gegen Ende des 13. Jh.s) entstanden. Die so genannte "Drei-Gefährten-Legende" (Legenda trium sociorum) ist nicht das Werk der drei Brüder Leo, Rufinus und Angelus (215); diese haben vielmehr das in den o. g. Sammlungen ("Legenda Perusina" u. a.) enthaltene Traditionsgut zusammengestellt. Dass Thomas von Celano den päpstlichen Auftrag erhalten hätte, die Vita der heiligen Klara niederzuschreiben (221), ist nirgends überliefert. Mit ziemlicher Sicherheit ist er nicht deren Verfasser.

Der Krieg zwischen den rivalisierenden Städten Perugia und Assisi, in dessen Gefolge Franziskus für ein Jahr in Gefangenschaft gerät, wird unzutreffend dargestellt (166). Der Bruch des Franziskus mit seinem Vater und seiner Vergangenheit wird nicht "durch den Kleiderwechsel besiegelt" (167), sondern durch die Zeichenhandlung einer vollständigen Entkleidung (Nacktheit!), die eine mehrfache symbolische Bedeutung hat. Die Alverna-Vision wird von dem Vf. weder in ihrem historischen Verlauf noch in ihrer religiösen und theologischen Bedeutung korrekt (d. h.: nach den Quellen) beschrieben (212). Elias von Cortona war niemals Custos der (212) genannten rheinischen Franziskaner-Konvente. Es liegt hier eine Verwechslung mit Thomas von Celano vor, der das Amt des Custos für Mainz und die anderen Städte innehatte. Elias dagegen war seit 1221 Vikar, seit 1224 Generalminister des gesamten Ordens. Thomas von Celano wiederum war Weggenosse des Franziskus nicht "seit den frühen zwanziger Jahren" (214), sondern spätestens seit dem Jahr 1215, in dem er von dem Heiligen persönlich in den Orden aufgenommen worden war.

Die Liste der handgreiflichen Fehlinformationen ließe sich fortsetzen; sie häufen sich in den Abschnitten über Franziskus und das Franziskanertum, sind aber auch in anderen Kapiteln keineswegs selten. So wird Hildegard von Bingen zutreffend als "visionäre Denkerin" charakterisiert (100), aber in dem schweren Konflikt, den sie gegen Ende ihres Lebens auszutragen hatte, hatte sie es mit dem Mainzer Domkapitel zu tun, nicht mit dem Erzbischof Christian persönlich (101), der sich damals in Rom aufhielt und schließlich die Angelegenheit im Sinne Hildegards entschied.

Dass der Band keine sorgfältige Endredaktion erfahren hat, zeigt sich an den nicht wenigen stehen gebliebenen Satzfehlern, die nicht alle bloße Versehen sind. 11: "Päste", richtig: "Päpste"; 30: Van Damme, Jean-Baptiste Van (!); 70 f.104: "Fontévrault", richtig: "Fontevrault" (ältere Schreibweise) oder: "Fontevraud" (heutige Schreibweise); 101: "St. Eucherius", richtig: "St. Eucharius"; 109: "Province", richtig: "Provence"; 206: "Bernard", richtig: "Berard". Außerdem sind in den Anmerkungen falsche Seitenangaben stehen geblieben.

Da das Buch, wie schon gesagt, in seiner Anlage und Konzeption hervorragend ist und auch zahlreiche scharfsinnige und zutreffende Charakteristiken von Persönlichkeiten und ihrem Werk enthält (wie z. B. Bernhard von Clairvaux, Johannes von Salisbury, Innocenz III.), legt man es, wegen seiner fehlenden Akribie und Zuverlässigkeit im Detail, ein wenig ratlos beiseite.