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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

63–66

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

1) Domínguez Reboiras, Fernando [Ed.] 2) Villalba Varneda, Pere [Ed.] 3) Villalba Varneda, Pere [Ed.] 4) Villalba Varneda, Pere [Ed.]

Titel/Untertitel:

1) Raimundi Lulli Opera Latina XXI, 92-96

2) Raimundi Lulli Opera Latina XXIV, 65: Arbor Scientiae. Vol. I: Libri I-VII.

3) Raimundi Lulli Opera Latina XXV, 65: Arbor Scientiae. Vol. II: Libri VIII-XV.

4) Raimundi Lulli Opera Latina XXVI, 65: Arbor Scientiae. Vol. III: Liber XVI.

Verlag:

1) Turnhout: Brepols 2000. XXXVIII, 424 S. 8 = Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, 112. Kart. Euro 17,00. ISBN 2-503-04122-1.

2) Turnhout: Brepols 2000. VIII, 188*, 364 S. m. Abb. gr.8 = Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, 180 A. Kart. Euro 239,00 ISBN 2-503-04802-1.

3) Turnhout: Brepols 2000. S. 365-830 m. Abb. gr.8 = Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, 180 B. Kart. Euro 205,00. ISBN 2-503-04804-8.

4) Turnhout: Brepols 2000. S. 831-1438 m. Abb. gr.8 = Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, 180 C. Kart. Euro 252,00. ISBN 2-503-04806-4.

Rezensent:

Reinhard Düchting

Das aufregende Leben des Raimundus Lullus (vor 1235-1316) steht lebhaft vor Augen, das lateinisch-katalanische Werk (gegen 300 Schriften) gewinnt immer mehr Konturen. Die herrlichen zwölf Miniaturen der Handschrift des so genannten Breviculum (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek aus St. Peter perg. 92, wohl bald nach 1316) zeigen den unermüdlich in Sachen Mission Reisenden, wie er (stets erkenntlich als Barbaflorida, also vollbärtig) predigt und disputiert, mit Schülern und vor allem Ungläubigen, denen er glaubt intellektuell die Paradoxa christlicher Lehren "probabel" machen zu können; für diese Lebensaufgabe mussten Ehe und Familie allmählich zurücktreten. Er versuchte, die Könige von Aragon und Frankreich sowie die Päpste und Universitäten (Paris, Montpellier) zu gewinnen - ein unermüdlicher "christianus arabicus" besonders gegen den eine Generation vor seiner Geburt verstorbenen Averroes (1192) und "procurator infidelium" in Nordafrika und im nahen Orient, welche Sorge ihm viele Konfessionen abnötigte und ihn letztlich wohl das Martyrium erleiden ließ. Von den Dominikanern hatte er in einem schmerzlichen Prozess zu den Franziskanern gefunden (lebte zeitweise als Eremit und zuletzt als Franziskanerterziar); im Altkatalanischen seiner Heimatinsel Mallorca hat er dichterisch und im mystisch-kontemplativen "Buch vom Liebenden und Geliebten" (Libre d'Amic e Amat) sein Innerstes offenbart. Erst spät, unter Papst Leo X. (1513- 1521), wird der genialische Ramon Lull, nach Bekehrung und göttlicher Erleuchtung ein Doctor illuminatus und in allem ein "vir phantasticus", seliggesprochen; die vielen und offenen Fronten seiner Schriften (Predigten, Artes und Summae, Dichtungen) provozierten ein pseudo-lullistisches Schrifttum. Er selbst wurde zeitweise indiziert, die Versuche einer Heiligsprechung scheiterten.

Die Überlieferung und mühevolle Editionsgeschichte hat Charles Lohr skizziert (Die Überlieferung der Werke Ramón Lulls: Freiburger Universitätsblätter 78 [1982], 13-28); "1955 beschloß die Maioricensis Schola Lullistica in Palma de Mallorca ..., die kritische Gesamtausgabe der lateinischen Werke Raimundus Lullus' in Angriff zu nehmen", die ersten fünf Bände erschienen dort von 1959 bis 1967. Wenige Jahre nach dem Anfang, 1957, wurde das Institutum Raimundi Lulli Universitatis Friburgense (i. Br.) gegründet, das ab dem sechsten Band 1978 die kritische Ausgabe "ad fidem codicum manuscriptorum" herausgibt und zwar seither bei Brepols im belgischen Turnhout in der Mittelalterlichen Fortsetzung des patristischen Corpus Christianorum, so dass insgesamt nun schon über 25 Bände erstmals zuverlässig ediert vorliegen.

Der eine anzuzeigende Band (Werkzählung 92-96) umfasst vier im Spätjahr 1300 in Mallorca verfasste Schriften (sowie eine Nota sobre la Applicatio artis generalis, ein katalanisches Lehrgedicht in 1131 Achtsilbern aus dem Jahr 1301): Liber De Est Dei, L. De cognitione Dei, L. De homine, L. De Deo; "für die beiden ersten ist dies die editio princeps" (Vorwort, VII), die spanisch abgefasste Introducción general des Herausgebers ordnet diese Traktate dem theologisch-anthropologischen Denken des Lull zu, gibt Inventar und Beschreibung der vorhandenen und zu Grunde gelegten Handschriften und eine Bibliographie; Einleitungen führen thematisch und philologisch (Authentizität, Konstitution des Textes) in die aufgenommenen Traktate ein. Im jeweiligen Kolophon (explizit 58.116.301 und 400) sind in der Regel knappe Bestimmungen des Werkes wie Autorenschaft (Raimundus), Ort der Niederschrift (Mallorca), Datierung (September bis Dezember 1300) genannt. Drei der Traktate umkreisen in Fragen und Beweisführungen Begriff und Sein Gottes (und seines Sohnes Jesus Christus).

Die Anthropologie von De homine, nach Augustinus und im Geiste von Franziskus, bietet interessante Partien (De signis mortis, 216 f.: homines, qui moriuntur, sunt signa vivis, quod morientur), besonders 236- 271 die Predigern empfohlene Ars et doctrina von der "Destruktion" der um Ungläubigkeit (infidelitas) erweiterten Sieben Todsünden je durch (die Vermehrung der) Virtutes; der 3. Teil Vom Menschen, 271 ff., ist Orationes, Laudes, Preces des Menschen und aller Kreatur an Gott, den Gottessohn, Maria und die Heiligen vorbehalten, ut homo se ipsum cognoscat et cum se ipso sciat dominum Deum honorare (301). Im Apparat sind Varianten der Handschriften sowie Zusätze und Kürzungen verzeichnet; nach den Indizes (der biblischen Loci, von Namen und zitierten Eigenwerken) schlüsselt ein detailliertes Inhaltsverzeichnis (417-420) die Partes und Quaestiones der vier einzelnen Werke auf; auch diese Traktate sind Zeugnisse der denkerischen Spurensuche des Raimundus Lullus (investigare, 152 f.), bieten an und dringen auf eine Technik (ars) und Weise (modus), Probleme lösen zu können.

Die kritische Neuausgabe des "Wissensbaums" (Arbor scientiae, Werkzählung 65) präsentiert ein Haupt- und Schlüsselwerk des Gelehrten Lullus; sie bedeutet auch einen Meilenstein in der Editionsgeschichte seiner lateinischen Opera, der Latinist Villalba Varneda (Barcelona) hat sie in jahrelanger herkulischer Forschung erstellt. "Die Einteilung und Struktur dieses Werkes ist sehr komplex, nicht nur wegen des Umfangs [mit Introductio generalis rund 1600 Seiten], sondern vor allem wegen der zahlreichen Untergliederungen, die, obwohl sie bisweilen eher Verwirrung stiften, eine wichtige Funktion im Gesamtgefüge haben und unbedingt berücksichtigt werden müssen" (Vorwort, VII). Wuchs und Struktur eines Baumes geben gleichsam das Schaubild; seine sieben Signifikanten - Wurzeln (radices), Stamm (truncus), Äste (brancae), Zweige (rami), Blätter (folia), Blüten (flores) und Früchte (fructus) - werden in 16 Büchern auf 16 verschiedene Bäume (von der Arbor elementali bis zur Arbor quaestionali) bezogen und erlauben, dass "über alles Wissen gehandelt werden kann": von irdischen und himmlischen, kirchlichen und staatlichen Verhältnissen wie von geistig-moralischen und kognitiv-aufklärerischen (per has sedecim arbores de omnibus scientiis tractari potest). Von der weit verzweigten Baum- und Wissenspracht gibt allein der ausführliche Conspectus materiae (1402-1434) einen Überblick sowie die umfassende fast 200-seitige Einleitung (zur Textkonstitution, 168 ff.). Raimundus Lullus hatte das Buch auszudenken "begonnen in Rom am Festtag des hl. Erzengels Michael [29. September] 1295 und dort vollendet am 1. April 1296"; nach dem Proömium (4-7, mit Epilog 1390) war ihm in seinem desolaten Schmerz über den Zustand der Christenheit (negotium sanctum Iesu Christi et totius christianitatis) ein Mönch begegnet, der seine Klage in Trost wenden konnte und ihn animierte, das Werk (das seine "Ars generalis" fasslicher machen sollte) zu schreiben; im Locus amoenus eines Tals mit Quellen und Baumblüte sinnt Lullus über die genannten sieben Teile eines schönen Baumes nach - darüber, was er bezeichnen mag (in iis, quae ipsa significabat, cogitavit). Die kirchenpolitische Adresse an die Verantwortlichkeit von Papst und Kardinälen macht der Epilog deutlich.

Über die drei Bände sind 100 Abbildungen aus Handschriften und frühen Drucken, auch einige Schemata verteilt (Index tabularum, 1395 ff.). "Einen besonderen Akzent" setzt dabei die für eine wissenschaftliche Edition sicherlich "ungewöhnliche Ausgestaltung der Bände mit Bildern zeitgenössischer katalanischer Künstler" (Vorwort, VII f.) zu Ehren dieses katalanischen Sprachmeisters und phantastischen Denkers; die Textmasse kann auch so nicht verdeckt werden. Nach diesem editorischen Monument ist der wissenschaftliche Leser aufgefordert, all den Digressionen des gelehrten Baumguckers nachzuschauen und "von den Wissenschafts-Bäumen die goldenen Äpfel" zu pflücken (so J. Badius Ascensius, Lyon 1515; hier Bd. I, Einleitung vor S. 153): aurea in arboribus mala scientificis.