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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

60–63

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

1) Berschin, Walter 2) Berschin, Walter

Titel/Untertitel:

1) Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, IV. Ottonische Biographie: Das hohe Mittelalter 920-1220 n. Chr. 1. Halbband: 920-1070 n. Chr.

2) Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, IV. Ottonische Biographie: Das hohe Mittelalter 920-1220 n. Chr. 2. Halbband: 1070-1220 n. Chr.

Verlag:

1) Stuttgart: Hiersemann 1999. XIV, 272 S. m. 1 Abb. gr.8 = Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, 12/1. Lw. Euro 68,00. ISBN 3-7772-9921-9.

2) Stuttgart: Hiersemann 2001. VIII, S. 273-671 gr.8 = Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, 12/2. Lw. Euro 72,00. ISBN 3-7772-0128-6.

Rezensent:

Heinrich Holze

Mit den vorliegenden Bänden kommt die monumentale Darstellung des renommierten Heidelbergers Latinisten zu ihrem vorläufigen Abschluss. Nach den Bänden I (1986, vgl. ThLZ 113 [1988], 446-448), II (1988, vgl. ThLZ 115 [1990], 820- 822) und III (1991), die vom dritten bis ins frühe 10. Jh. reichen, behandeln die beiden vorliegenden Teilbände den Zeitraum vom 10. bis zum Anfang des 13. Jh.s.

Die Darstellung beginnt mit dem Kapitel "Der Hiatus des zehnten Jahrhunderts" (5-58). Darin schildert B. die Auswirkungen der Krise, die das Abendland in den Jahren zwischen 920 und 960 n. Chr. erschüttert. Während das mittelalterliche Staatensystem durch den Ansturm der Normannen, Sarazenen und Ungarn ins Wanken gerät, durchläuft die Literatur eine Periode des Niedergangs, der sich im Abbruch von Traditionen zeigt. Das Versiegen der Annalistik im Kloster St. Gallen ist ein Indiz dafür, dass die lateinische Literaturproduktion zum Erliegen kommt. Noch gibt es im Abendland zur lateinischen Literatursprache keine Alternative; weder das Altenglische und Althochdeutsche noch die romanischen Sprachen haben eine vergleichbare Bedeutung. Zu den wenigen Biographen dieser Zeit gehört der zweite Abt des 910 gegründeten Klosters von Cluny, Odo, der mit der Vita S. Geraldi das Lebensbild eines Adeligen entwirft und darin dessen Wendung vom Äußeren zum Inneren, vom Weltlichen zum Religiösen als Vorbild heiligen Lebens schildert. In der Vita S. Odonis wird der Abt von Cluny selbst zum Gegenstand einer Biographie, die als Lebensregel entworfen wird. Ein wichtiger Schriftsteller des "saeculum obscurum" ist Flodoard von Reims, der keine Biographie geschrieben, aber mit der Historia Remensis ecclesiae eine geschichtliche Darstellung mit biographischem Schwerpunkt verfasst hat.

Im Zentrum des ersten Halbbandes steht die Wende zum 11. Jh. (59-218). B. stellt sie unter die Überschrift "Ottonische Biographie". Damit nimmt er einen in der Kunstgeschichte üblichen Begriff auf und charakterisiert die Biographie dieser Zeit durch ihre "Öffnung zur Historiographie mit z. T. breiter reichsgeschichtlicher Perspektive" (60). Noch einmal wird die Biographie in der Literaturgeschichte des Westens zu einem wesentlichen Bestandteil der Literatur. Am Anfang stehen die Schriften der Hrotsvit von Gandersheim, insbesondere die Gesta Ottonis als wichtigstes biographisches Werk. Die Vita domni Brunonis des Ruotger von Köln markiert den Neubeginn der lateinischen Bischofsbiographie. Auffällig sind die literarischen Anspielungen, welche das Werk zur "klassischste(n) Biographie des 10. Jahrhunderts" werden lassen (84). Dem Typus der Herrscherbiographie ist die Passio S. Vencezlavi, welche den böhmischen Nationalheiligen "in den Spuren des Gottesknechtes" darstellt, zuzuordnen (89). Auch die Vita Mathildis reginae schildert das fromme Leben der Königin an der Seite Heinrichs I. zur Verherrlichung des Herrscherhauses. Die von Johannes von St. Arnulf zu Metz verfasste Hystoria de vita domni Iohannis Gorzie coenobii abbatis, die in die klösterliche Reformbewegung des 10. Jh.s ausstrahlt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die "Geschichte einer religiösen Bewegung in Form einer Biographie" entfaltet (113). Der Beitrag St. Gallens zur ottonischen Biographie ist die Vita S. Wiboradae, welche das Martyrium der aus fürstlichem Hause stammenden heiligen Frau in den Ungarneinfällen des 10. Jh.s "als ein(en) Weg von der Gloria zur Passio" schildert (127). Zu den weiteren Texten, die B. hinsichtlich ihrer Entstehung, Aussageabsicht und Wirkungsgeschichte vorstellt, gehören Bischofsviten wie die Ulrichs von Augsburg, Adalberts von Prag und Bernwards von Hildesheim, aber auch Vitae und Gestae weniger bekannter Bischöfe und Mönche. B. zeigt, dass diese Schriften nicht hagiographischen Interessen dienen, sondern von dem Gedanken geprägt sind, an der Biographie ausgewählter Personen religiöse und anthropologische Grundüberzeugungen zu entfalten. Das Ende des ottonischen Darstellungsstils ist in den von Adam von Bremen verfassten Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum erreicht, deren dritter Band eine Biographie Erzbischofs Adalbert von Hamburg-Bremen enthält. Die "Modernität" der Darstellung besteht darin, dass hier unter Aufnahme antiker Vorbilder (Sallust) "erstmals im Mittelalter in dieser Literaturform Vorzüge und Schwächen einer Person mit gleicher Aufmerksamkeit bedacht und planmäßig dargestellt werden" (212).

Im dritten Kapitel geht B. auf die biographische Literatur West- und Südeuropas ein. In Frankreich stehen die hagiographischen Werke Adsos von Montier-en-Der an erster Stelle. Letald von Micy wird mit seinem Insistieren auf der Wahrheitsfrage zum "eindrucksvollsten Kritiker der Hagiographie im 10.Jahrhundert" (222). Von Bedeutung sind auch die in Fleury-sur-Loire und Cluny entstandenen Viten, in denen sich die Geschichte der jeweiligen Abtei spiegelt. Die Geschichte der Biographie ist in England mit Bischöfen verknüpft, die sich im Ausgang des 10. Jh.s für den Aufschwung von Studien und Literatur eingesetzt haben: Dunstan von Canterbury, Oswald von Worcester und Aethelwold von Winchester werden von ihren Zeitgenossen durch Biographien geehrt. Eine Besonderheit in Italien sind die Eremitenbiographien, unter ihnen die von Petrus Damiani verfasste Vita S. Romualdi, die nach dem Vorbild der Vitae patrum geschrieben ist. Auf der iberischen Halbinsel dokumentieren biographische Texte "das Wiedererwachen lateinischer Schriftstellerei im Norden Spaniens" (269).

Der zweite Halbband behandelt die Zeit des hohen Mittelalters. Als Epochengrenze setzt B. die Ereignisse des Investiturstreites, deren Symbolik der Bußgang Heinrichs IV. nach Canossa erhellt (277-279). Die ottonische Kunstepoche neigt sich dem Ende zu, was sich am Versiegen der Reichenauer Buchmalerei und der abnehmenden Ausstrahlung von St. Gallen zeigt. Gleichzeitig verlagert sich der geistige Schwerpunkt Europas von der Mitte in den Westen. Chartres, Reims, Paris, Orléans, Montpellier und Salerno werden zu Zentren der Wissenschaft; Frankreich, wo sich auch der gotische Baustil entwickelt, wird zum klassischen Bildungsland des Mittelalters (281-352). Marbod von Rennes, Baudri von Bourgueil und Hildebert von Lavardin verfassen mehrere Viten. Zugleich zeichnet sich ein "Rückgang des Ansehens der Biographie als literarischer Form" ab (294), auch wenn die Mönchsbiographie ihre Bedeutung behält, wie sich an den in Cluny entstandenen Abtviten, insbesondere an der Vita Bernhards von Clairvaux, zeigt. B. bezeichnet sie als "die größte biographische Unternehmung des 12. Jahrhunderts", deren Verbreitungsgeschichte für das Wachstum des Zisterzienserordens überragende Bedeutung habe (309). Bei der mit der Vita Ludwigs VI. erneut einsetzenden französischen Königsbiographie, die das Augenmerk vor allem auf die Amtsführung des Herrschers richtet, ist die "nationale Abgrenzung" von Engländern und Deutschen ein auffälliger Wesenszug (335). Die Geschichte der Autobiographie erreicht im frühen 12. Jh. eine neue Stufe mit Guibert von Nogent, dessen Schrift De vita sua nach dem Vorbild von Augustins Confessiones gestaltet ist. Weit über das Mittelalter hinaus bekannt wird Abaelards Historia calamitatum, welche seine Beziehung zu Heloise dokumentiert und als "das geschlossenste Briefkunstwerk einer Zeit aufblühender Briefkultur" gelten kann (348).

Das angelsächsische England zeichnet sich durch eine reiche Bischofs- und Königsbiographik aus (353-420). Canterbury wird im Ausgang des 11. Jh.s zum Zentrum der Biographieschreibung, für die Goscelin von St. Bertin, Osbern, Eadmer u.a. stehen. Bedeutung hat auch der Zisterzienser Aelred von Rievaulx, der nicht nur Viten verfasst und anregt, sondern auch selbst zum Gegenstand einer Biographie wird. Alles aber wird überragt von der Wirkungsgeschichte des im Dom von Canterbury ermordeten Erzbischofs Thomas Becket, über den nicht weniger als neun Viten geschrieben werden. B. zeigt an ihnen, in welcher Weise die biographischen Darstellungen bereits im Bewusstsein der Zeitgenossen von der Subjektivität der Zeugen, bisweilen sogar von der Verstrickung der Autoren in die Vita des von ihnen Dargestellten geprägt sind. In der zweiten Hälfte des 12. Jh.s erweitert sich das Themenspektrum der biographischen Darstellungen. Zu den Mönchen, Äbten und Bischöfen treten Herzöge, Grafen und Kaufleute.

In den Biographien des Sacrum Imperium heben sich vier Personengruppen heraus (421-538). Zunächst Bischofsbiographien wie die Vita Bennonis des Abtes Norbert von Iburg, die zur Erinnerung geschrieben werden und dazu dienen, "an das Gebet für den Verstorbenen zu erinnern" (430). An zweiter Stelle stehen Herrscherbiographien: Die Vita Heinrichs IV. ist nach antikem Vorbild (Sallust) als Trauerklage gestaltet und schildert den Kaiser als "einen durch den Bruch menschlichen und göttlichen Rechts vielfach verletzten Menschen" (487). Abtviten erleben eine Blüte in der Zeit des Investiturstreites, als von Gregor VII. bis Gelasius II. ein halbes Jahrhundert Mönche den Papstthron einnehmen. Mehrere große Biographien entstehen, insbesondere die über Johannes Gualbertus, Gründer von Vallombrosa, Wilhelm von Hirsau, Klosterreformer in Südwestdeutschland, Ulrich von Zell, Gründer eines Cluniazenserklosters im Breisgau, und Benedikt II. von Chiusa, Vertreter der gregorianischen Partei im Piemont. Die eremitische Lebensweise bleibt auch in der Lebenswelt des Mittelalters von hoher Bedeutung, entzieht sich aber weitgehend einer biographischen Darstellung, was zur Folge hat, dass selbst den Gründungsvätern der Kartäuser keine Vita gewidmet wird. Einen besonderen Rang nehmen Frauenbiographien ein, die B. als "eine der Stärken des mitteleuropäischen Kulturraums" bezeichnet (525). Das Leben der beim Ungarnsturm getöteten Hl. Wiborada wird neu geschrieben; der deutlich verlängerte Text spiegelt den verbreiterten Bildungshorizont sowie das veränderte religiöse Milieu der Zeit. Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau und Hildegund von Schönau erhalten ebenfalls eine Vita. Jakob von Vitry, Förderer der religiösen Frauenbewegung in Lüttich, verfasst eine kunstvoll komponierte Biographie für Maria von Oignies, in der er in einer der gotischen Bauweise vergleichbaren "geistlichen Architektur" Tugendstreben und Gnadenleben aufeinander bezieht (536). Ein abschließendes Kapitel geht auf die Rolle des Lateinischen an den Rändern Europas ein (539-578). In einer literarischen Rundreise werden die in Irland, Schottland, Spanien, Portugal, Ungarn, Böhmen, Polen, Dänemark, Schweden und Island entstandenen biographischen Texte vorgestellt und analysiert.

Die Darstellung wird durch drei Register beschlossen, welche die Arbeit mit dem Buch erleichtern, aber auch unabhängig davon eine wichtige Informationsquelle sind (579-667). Das gilt für die Auswahl literarisch und historisch bedeutender lateinischer Biographien, welche nach Personengruppen (Herrscher, Päpste, Bischöfe, Äbte, Eremiten, Frauen), geographischen Zentren (Utrecht, Köln, Metz, Gent, St. Bertin, Fleury, Hersfeld, Fulda) und anderen Gesichtspunkten (Märtyrer, Mirakelbücher, Heiligenpredigten, Autobiographien etc.) geordnet ist. Die Schriften werden in der sich anschließenden Zeittafel chronologisch aufgeschlüsselt. Ein Verzeichnis der zitierten Handschriften, Inkunabeln und Urkunden sowie ein Register mit zeitgenössischen Namen schließen sich an.

Im Nachwort des zweiten Halbbandes kündigt B. an, der nun vollständig vorliegenden, vom 3. bis zum 13. Jh. reichenden diachronischen Darstellung der Geschichte der lateinischen Biographie einen abschließenden Band nachfolgen lassen zu wollen (669-671). Unter dem Titel "Topik und Hermeneutik der mittellateinischen Biographie" werde er darin in einer synchronen Darstellung von den Autoren, ihren Auftraggebern und den für die biographischen Darstellungen charakteristischen Inhalten, Orten, Hilfsmitteln, Motiven und Zeitfaktoren sprechen. Man darf auf den Ertrag von zwei Jahrzehnten gelehrter biographischer Forschung gespannt sein.