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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

53–56

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Grillmeier, Alois (+)

Titel/Untertitel:

Jesus der Christus im Glauben der Kirche. Bd. 2/3: Die Kirchen von Jerusalem und Antiochien nach 451 bis 600. Mit Beiträgen v. A. Grillmeier, Th. Hainthaler, T. Bou Mansour u. L. Abramowski. Hrsg. v. Th. Hainthaler.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2002. XXVI, 694 S. m. 1 Abb. gr.8. Geb. Euro 58,00. ISBN 3-451-22026-1.

Rezensent:

Karl Pinggéra

Der zweite Band von "Jesus der Christus im Glauben der Kirche" umfasst einen Zeitraum, der in den gängigen Überblicksdarstellungen eher stiefmütterlich behandelt wird: die Zeit zwischen dem Konzil von Chalcedon (451) und dem monenergetisch-monotheletischen Streit (7. Jh.). Gerade in dieser Epoche kommt es jedoch zu den theologischen Weichenstellungen, die zum endgültigen Zerbrechen der reichskirchlichen Einheit geführt haben. Um die Schattierungen christologischen Denkens jener Zeit in ihrer ganzen Breite zu erfassen, verfolgte Alois Grillmeier von Anfang an den Plan, diesen Band seines opus magnum in mehrere Teilbände zu zerlegen. Die 1989 gehegte Hoffnung, diese Teilbände würden sich "in rascher Folge" publizieren lassen (Vorwort zu Bd. 2/2, VII), ist nur teilweise in Erfüllung gegangen. Denn nachdem die Einzeldarstellungen zum Patriarchat von Konstantinopel (Bd. 2/2; 1989) und zu den Kirchen von Alexandrien mit Nubien und Äthiopien (Bd. 2/4; 1990) erschienen waren, erwies es sich als unmöglich, die Regionen Jerusalems, Antiochiens, Persiens, Armeniens und Georgiens in einem einzigen Teilband zusammenzufassen. Im Vorwort des hier anzuzeigenden Bandes über die Patriarchate Jerusalem und Antiochien berichtet Theresia Hainthaler von mehrfachen Änderungen an der ursprünglichen Konzeption (VII). Die Christologie der persischen, armenischen und georgischen Christenheit soll nun in Bd. 2/6 eigens zur Darstellung gebracht werden (Bd. 2/5 wird den lateinischen Westen behandeln). Zu der langen Entstehungszeit des vorliegenden Bandes trug natürlich auch der Tod von Grillmeier im Jahre 1998 bei. Seine Beiträge wurden von der Herausgeberin umsichtig redigiert und auf den aktuellen Forschungsstand gebracht, zum Teil in separaten, namentlich gekennzeichneten Nachträgen. Die eigenen Beiträge von Hainthaler dürften über die Hälfte des Gesamttextes ausmachen; Konzeption und Endredaktion lagen in ihren Händen. In der folgenden Besprechung wird deswegen nicht immer angegeben, ob der jeweilige Abschnitt von ihr oder von G. stammt. Für die Darstellung syrischer Schriftsteller wurden Luise Abramowski (Tübingen) und Tanios Bou Mansour (Université du Saint Esprit, Kaslik/Libanon) hinzugezogen.

Die Studien des ersten, Palästina gewidmeten Teils des Buches (4-174) nehmen nicht nur die theologischen "Experten" mit der ihnen eigenen Formelsprache in den Blick; auch die liturgisch-homiletische Tradition (das "Kerygma von Jerusalem") wird ausgewertet (dabei finden die Homilien des Hesychius von Jerusalem besondere Beachtung). Hier zeige sich ein Christus-Glaube in untechnischer Sprache, der auch für die Annahme Chalcedons offen sein konnte.

Zum palästinischen Mönchtum wird zu Recht festgestellt, dass es dem Konzil von 451 mehrheitlich ablehnend gegenüberstand. Die antichalcedonensische Strömung dürfte im Heiligen Land insgesamt stärker gewesen sein, als oft angenommen wird (so zusammenfassend 160). Freilich zeigten sich die antichalcedonensisch gesinnten Mönchsväter von Gaza in erster Linie von asketischen, nicht von dogmatischen Anliegen bewegt. Es gelingt, die praktischen Bezüge ihrer "christologischen Spiritualität" herauszuarbeiten (Isaias, Barsanuphius und Johannes, Dorotheus).

Starken Rückhalt besaß die Lehre Chalcedons auf dem Sinai. Mit Theodor von Raithu und seiner praeparatio wird schon auf die monenergetische Kontroverse vorausgeblickt. Für Grillmeier sind hier, wie seine Textanalyse zeigt, bereits die Keime zur Mia-Energeia-Lehre gelegt. Abgerundet wird das Bild mit Johannes Climacus und Johannes Moschus, dessen Sammlung von Mönchsgeschichten sich als Gegengewicht zur antichalcedonensischen Propaganda eines Johannes Rufus lesen lässt.

Ausführlicher wird auf Pamphilus den Theologen eingegangen. Obwohl dem neuchalcedonensischen Autor, dessen genaue Identifizierung nicht ganz gesichert ist, keine besondere Ori-ginalität zuzusprechen sei, meint Grillmeier doch, dass hier schon ein neuer, über das Erbe der Kappadozier (Hypostase als "Individualhypostase") hinausweisender Hypostasen-Begriff in Sicht kommt (Hypostase als "letztes Subjekt, das vollkommen in sich steht"; 149). Es bleibt abzuwarten, wie dieser Wechsel im Verständnis von Hypostase in einem der Folgebände ausführlicher entfaltet werden wird.

Als klare Vertreter der Zwei-Naturen-Lehre kann Hainthaler schließlich Johannes von Scythopolis, den Scholiasten des Corpus areopagiticum, und Johannes IV. von Jerusalem (574-593/ 94) identifizieren; von Letzterem wird der für die Kirchengeschichte des Kaukasus hochinteressante Brief an den Katholikos der (kaukasischen) Albaner ausgewertet, in dem der Patriarch seinen Adressaten eindringlich vor der julianistischen Lehre der Armenier warnt.

Ob es "eine eigene palästinische Theologie" gegeben habe, wie Hainthaler abschließend fragt (und dazu den vorsichtig bejahenden Lorenzo Perrone zitiert; 162), wird man auch nach der Lektüre der hier vorgelegten Untersuchungen nicht leicht beantworten können. Die Anziehungskraft der heiligen Stätten führte Vertreter unterschiedlichster Positionen zusammen. Das gilt in ähnlicher Weise auch für das Patriarchat Antiochien, das zutreffend als "Durchgangsland" charakterisiert wird (182). Damit treten auch die Grenzen einer geographischen Stoffanordnung zu Tage. Wichtige Autoren, die man im vorliegenden Band vermuten würde, wurden schon andernorts, weil dort zum Verständnis unabdingbar, besprochen. Das gilt etwa für Severus von Antiochien (Bd. 2/2) und Leontius von Jerusalem (Bd. 2/2).

Die Verhältnisse im Patriarchat Antiochien, von denen der zweite Teil handelt (179-659), liegen noch disparater als in Jerusalem. Hier wird zunächst die Spaltung der Hierarchie in einen pro- und einen antichalcedonensischen Zweig nachgezeichnet. Das Wirken von Jakob Baradai und die von ihm vollzogene Weihe eines eigenen miaphysitischen Patriarchen stehen dabei im Vordergrund, wie auch die mancherlei Zwistigkeiten innerhalb des miaphysitischen Lagers vorgeführt werden, die sich in der Hauptsache mit den Namen der Patriarchen Paul von Beth Ukkame und Damian von Alexandrien verbinden. Mit dem größten Gewinn liest man sodann das von Hainthaler stammende Kapitel über das vorislamische Christentum bei den Arabern im Einflussbereich des antiochenischen Patriarchates. Die sich nicht selten in Spekulationen verlierende Sekundärliteratur zu diesem Thema wird sorgfältig an den Quellen geprüft. Deutlich wird die entscheidende Rolle der im syrisch-palästinischen Raum siedelnden Ghassaniden für die institutionelle Festigung des Miaphysitismus. Eher en passant wird die "antiochenische Schule" behandelt. Da ihre Vertreter im Laufe des 5.Jh.s in Persien eine neue Wirkungsstätte fanden, sollen sie erst in Bd. 2/6 dargestellt werden. Dagegen wird schon im vorliegenden Band die scharf antinestorianische Polemik vorgestellt, die Simeon von Beth Arscham in seinem Brief über die konfessionelle Lage in Persien äußert (Anfang 6. Jh.). Inhaltlich kann Simeon als Vertreter des Henotikon bestimmt werden. Auch die tritheitische Kontroverse schlug in Syrien heftige Wellen; die Lektüre des betreffenden Abschnittes setzt die Darstellung des Johannes Philoponos in Bd. 2/4 voraus.

Schließlich wird das christologische Profil der einzelnen Patriarchen erhoben. Die bedeutendsten (prochalcedonensischen) Amtsinhaber werden im Kapitel "Die griechische Theologie" zusammen mit Pseudo-Dionysius Areopagita eingehender besprochen. Im Abschnitt zum Areopagiten bringen die ergäzenden Bemerkungen der Herausgeberin den neuesten Forschungsstand ein (349-356). Zu dogmengeschichtlichen Einordnungsversuchen ist ihre Einsicht wichtig, dass noch nicht entschieden werden könne, wo der Ansatz des Pseudo-Dionysius in dieser Zeit beheimatet gewesen sei (353). Bei den Patriarchen Ephraem (527-545) und Anastasius (559-570.593-598) werden verschiedene Facetten der als "Neuchalcedonismus" bezeichneten Richtung herausgearbeitet. Außerdem wird die Kontroverse nachgezeichnet, zu der es unter den Severianern Ende des 6. Jh.s gekommen war, nachdem sich zwei miaphysitisch gesinnte Kleriker des antiochenischen Patriarchats, Probus und Johannes Barbur, zum Chalcedonense bekehrt hatten.

Den griechischen Theologen werden im letzten Teil des Werkes die Syrer zur Seite gestellt (438-647). Tanios Bou Mansour gibt zunächst einen Überblick über die Eigenart syrischer Christologie in der vorchalcedonensischen Epoche, ehe er zur Besprechung von Jakob von Sarug übergeht. Nachdem die Forschung Jakobs christologische Parteizugehörigkeit nicht immer einheitlich bestimmt hat, lokalisiert ihn Bou Mansour überzeugend im antichalcedonensischen Lager. In seiner Terminologie stehe Jakob zwischen dem Erbe Ephraems des Syrers und der alexandrinischen Denkwelt, wobei Letztere dominiere. Anders wird Philoxenus von Mabbug bewertet, der unentwegte Gegner Chalcedons, auf dessen Betreiben Patriarch Flavian 512 abgesetzt wurde und Severus den Patriarchenstuhl einnehmen konnte. Philoxenus habe sich wesentlich stärker als Jakob auf die Konzeptionen der griechischen Theologie eingelassen. Das zeigt Bou Mansour nicht nur für Philoxenus' cyrillische Christologie und seine an Athanasius ausgerichtete Soteriologie, sondern auch für die im Wesentlichen von Evagrius Ponticus beeinflusste Erkenntnislehre.

Philoxenus bekämpfte in seinen "Reden gegen Habib" einen uns nicht weiter bekannten Repräsentanten der antiochenischen Christologie. Luise Abramowski gelingt es nun im letzten Abschnitt des Bandes, aus der Polemik des Philoxenus die Zitate des Habib auszusondern und dabei den ursprünglichen Gedankengang Habibs (wenigstens als "Torso") zu rekonstruieren. Ein Stück bislang unbeachteter antiochenischer Theologie von hohem systematischen Anspruch wird auf diesem Wege wiedergewonnen.

Der Band betritt nicht selten Neuland der Forschung. Hainthaler markiert in ihrem Resümee (648-659) weitere Aufgaben. Dazu dürfte auch eine erneute Reflexion über den Begriff "Neuchalcedonismus" zählen. Im vorliegenden Band wird mit den inhaltlichen Bestimmungen Grillmeiers gearbeitet - nicht ohne Hinweis auf das abweichende Votum Karl-Heinz Uthemanns (vgl. etwa Hainthaler S. 372, Anm. 82, mit Bezug auf Uthemann, Der Neuchalcedonismus als Vorbereitung des Monotheletismus, in: StPatr 29 [1997], 373-413; siehe dazu auch ausführlicher Hainthaler, Ephraem von Antiochien und Fulgentius von Ruspe, in: Y. de Andia/P. Hofrichter [Hrsg.], Christus bei den Vätern, Innsbruck-Wien 2003, 201- 223; bes. 204-209).

Die ökumenischen Konsense, zu denen es in der jüngeren Vergangenheit in Fragen der Christologie gekommen ist, mögen die Leser abschließend vor die Frage stellen, warum denn die Theologen der Alten Kirche nicht schon zu einer solchen (differenzierten) Übereinstimmung gefunden hatten. Hier leitet der Band, der die verschiedenen Ansätze bis in Nuancen hinein voneinander abhebt, zu einem historisch angemessenen Verständnis an. Bou Mansour beschreibt es so: "Wenn man lernt, mit Sympathie die Theologen zu lesen, die sich aktiv an den christologischen Kontroversen ihrer Zeit beteiligt haben, erkennt man besser ihre Schwierigkeit, sich auf den Standpunkt des jeweils anderen einzustellen und dessen Logik zu würdigen." (569) Zu solcher Einsicht werden sicher auch die folgenden Bände beitragen. Ob sie unter dem Namen der hauptverantwortlichen Autorin und Redakteurin erscheinen werden? Es wäre zu wünschen. Ehre, wem Ehre gebührt!