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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

49–51

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wagner, J. Ross

Titel/Untertitel:

Heralds of the Good News. Isaiah and Paul "In Concert" in the Letter to the Romans.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2002. XXII, 437 S. gr.8 = Supplements to Novum Testamentum, 101. Lw. Euro 109,00. ISBN 90-04-11691-5.

Rezensent:

Florian Wilk

Das Buch enthält die überarbeitete Version einer unter Anleitung von R. Hays verfassten, 1999 an der Duke University (Durham, NC) angenommenen Dissertation. Dabei basieren drei Abschnitte (170-180.307-329.329-340) auf schon 1997/ 98 publizierten Aufsätzen; am Ende (ab 361) stehen eine Liste der benutzten Ausgaben und Untersuchungen zu den Jesajatexten, das Literaturverzeichnis sowie Autoren- und Stellenregister.

Da sich Schriftauslegung, Theologie und Missionserfahrung im Werk des Paulus wechselseitig beeinflusst haben, sucht W. dieses Beziehungsgefüge an einem herausragenden Beispiel, der Jesajarezeption im Römerbrief, zu erhellen. Infolge aktueller Studien zum Schriftgebrauch des Apostels (D.-A. Koch, C. D. Stanley, T. Lim, R. Hays) sei es geboten, die Analyse seiner Zitiertechnik (Welcher Wortlaut lag ihm vor? Wie hat er ihn verändert?) mit der seiner Auslegungsstrategie (Wie hat er Jesajatexte - ausweislich ihrer Resonanzen im Umfeld seiner Zitate und Anspielungen - gelesen? Wie hat er diese in seinem Brief, zumal im Konnex mit anderen Schriftbezügen, interpretiert?) zu verbinden. W. setzt dabei voraus, dass a) Paulus Jesaja auf vielfältige Weise (erinnert, gehört, gelesen, exzerpiert) im Licht zeitgenössisch-jüdischer "restoration eschatology" rezipierte und b) seine Schrift- und Querverweise als Hinweise für eine erneute Lesung und Deutung des Briefs in Rom dienten (1-39).

Im Hauptteil der Arbeit analysiert W. den Gedankengang von Röm 9-11 auf der Folie der beigezogenen Schrifttexte (43-305).

Dieser gehöre notwendig zur Entfaltung der These 1,16 f., da Gerechtigkeit dort Gottes Treue zum Bund mit Israel meine, und sei in sich folgerichtig: Einerseits werde das "Loblied auf Gottes Barmherzigkeit" (Röm 11) lange vorbereitet, u. a. mit der Rede vom Rest und Samen, der Israels Bestand sichere und das Potenzial zu seiner Erneuerung in sich trage (9,27 ff.), andererseits greife es auch die kritischen Sätze aus Röm 9-10 auf, indem es die Rettung Israels an die Beseitigung des Unglaubens gegen Christus knüpfe.

Ergänzend werden die Zitate in 15,7-33 (307-340) sowie, mit knappen Exkursen, die in 2,24 (176 ff.) und 14,11 (336-340) behandelt. Den Schluss bildet die Auswertung unter einer dem Titel der Arbeit entsprechenden Überschrift (341-359).

W. sieht Röm 9-11; 15 mit Zitaten und Anspielungen durchsetzt, in denen Jesajas Stimme erklinge, wie Paulus sie im Hören auf die jeweiligen Kontexte und die großen Themen der jesajanischen Prophetie vernommen habe. Dazu sei festzustellen: a) Paulus zitiere mit Vorliebe aus Jes 1-11; 28 f. und 52 f.

b) Er nutze stets eine LXX-Version des Jesajabuchs - meist in Kongruenz mit dem alexandrinischen Text, z. T. aber in einer dem Hebräischen angenäherten Fassung - und ändere häufig den Wortlaut seiner Vorlage entsprechend seiner Zitierabsicht.

c) Oftmals vermische, kombiniere oder verknüpfe er mehrere Schriftworte, damit sie sich gegenseitig auslegten; er höre Jesaja demnach im Zusammenklang mit anderen Stimmen der Schrift.

d) Paulus zufolge "erzähle" Jesaja im Einklang mit Dtn 29-32 von Israels Abfall, Bestrafung und Wiederherstellung.

Dabei verorte Paulus die christusgläubigen Juden und Heiden mit Hilfe von Texten über den Rest und die Fremdmächte im dritten, die Christus als das Ziel des Gesetzes ablehnenden Juden hingegen mit Texten zu Israels Götzendienst und Verblendung im ersten und zweiten Akt jener Geschichte; freilich sehe er in der Bekehrung von Heiden ein Handeln Gottes, das darauf abziele, Israels Eifersucht zu wecken und so dessen Untreue zu überwinden.

e) Indem Paulus seine Mission unter Heiden und seine Sorge um das "ungläubige" Israel bei Jesaja präfiguriert finde, sehe er in diesem einen "Kollegen" im Predigtdienst am Evangelium.

Demgemäß stelle er seinen Dienst in jesajanischen Bildern als Verkündigung der Erlösung Israels dar, schreibe aber zugleich Jesajas "Erzählung" auf der Basis seines Glaubens und seiner Missionserfahrung um - so, dass Israels Erlösung in zwei Stufen erfolge, die durch die paulinische Mission verbunden seien. Denn während Letztere durch die mit der Erwählung des Restes einhergehende Verhärtung der übrigen Juden ermöglicht worden sei, werde der Erfolg jener Mission am Ende zur Rettung auch dieser Übrigen führen.

Die referierten Ergebnisse zur Kohärenz von Röm 9-11, zur Zitiertechnik des Paulus, zu seiner Orientierung an längeren Textpassagen und zur Prägung seiner Mission und Theologie durch das Jesajabuch decken sich an etlichen Punkten mit meiner Studie zum Thema von 1998 (FRLANT 179; von W. nur marginal erwähnt). Weiterführende Bedeutung hat die Arbeit zumal a) in der Auswertung neuerer Editionen zu den Qumrantexten und der Verarbeitung weiterer, vor allem englischsprachiger Literatur, b) in der verstärkten Berücksichtigung intratextueller Zusammenhänge in Jesaja-LXX und -Targum sowie intertextueller Verknüpfungen im paulinischen Gebrauch heiliger Schriften. Sie ergänzt dadurch das Bild der heutigen Forschung von Paulus als einem schriftgelehrten Interpreten des Jesajabuchs.

Anlage und Durchführung freilich geben Anlass zur Kritik:

1. Der Titel des Buchs ist irreführend: Paulus stellt Jesaja nicht als "fellow preacher" vor (s. u. zu 10,16), sondern als Voraus-Verkündiger des Evangeliums (1,2) und all dessen, was damit zusammenhängt (9,29), einschließlich der Rolle des Paulus.

2. Die selbst gestellte Aufgabe wird nicht vollständig bewältigt.

So berechtigt die Konzentration auf Röm 9-11; 15 sein mag, so wenig entspricht es dem Thema, anerkannte Zitate (3,15 ff.) und Anspielungen (4,25; 8,33 f., "less certain" auch 8,32; 9,6.30 f.; 13,11) in einzelnen Sätzen oder Anmerkungen abzuhandeln. Zudem wird die (sinnvolle!) Absicht, im Sinne von Hays' "intertextual echoes" die Resonanzen der jesajanischen Kontexte im Römerbrief aufzuspüren, nur selten ausgeführt.

3. Die Forschungsgeschichte zur Jesajarezeption bei Paulus bleibt unerwähnt, die betreffende Forschungsarbeit ungenutzt.

Dies gilt u. a. für A. Penna in: RivBib 5, C. J. A. Hickling in: JSNT.S 3, P. E. Dinter in: BTB 13, D. A. Oss in: BBR 2; für die US-Dissertationen von A. M. Hall (Louisville 1949), D. R. Denny (New Orleans 1985), D. A. Oss (Philadelphia 1992) und für H. Hübner, Biblische Theologie ... 2, Göttingen 1993. Überhaupt wird die kontinentaleuropäische, zumal deutschsprachige Exegese zu Paulus (Ausnahme: E. Käsemann), seinem Schriftgebrauch (Ausnahme: D.-A. Koch) und seinen Jesajazitaten vernachlässigt.

4. Manche Auslegung paulinischer Texte erscheint zweifelhaft.

An drei Stellen wird die grammatische Struktur verkannt (9,22 f. kontrastiert im Schluss a maiore ad minus die Zornesgefäße von einst und jetzt; 9,32b ist wie 14,23b mit ginetai o. ä., nicht aus 9,31 zu ergänzen; 15,9a darf nicht aufgefüllt werden, da ta ethne gemäß 11,28 adversativ an ton pateron in 15,8 anknüpft), bei vielen Zitaten der Wortlaut nicht präzise reflektiert (nämlich in 9,17 die Parallelität der hopos-Sätze [vgl. die Infinitive in 9,22], in 9,28 der positive Sinn von logos [vgl. 9,6a], in 9,29 die das Ganze bewahrende Rolle des Samens [vgl. 9,23 und Gen 18], in 10,16 der objektive Sinn des Gen. hemon im Bezug auf Jesaja [vgl. hemin in 9,29], in 10,21 die ingressive Bedeutung des Aorists [vgl. 10,20], in 11,8ff. die 11,11 f. vorbereitende Funktion der Motive Betäubungsgeist und gebeugter Rücken [vgl. Jes 51,23], in 11,26 f. der Bezug auf die Parusie [vgl. 1Thess 1,10] und damit auf die Zeit des Schauens, in 15,10 der Anteil nehmende Sinn von meta [vgl. 12,15]).

Wiederholt vertritt W. auch fragwürdige Deutungen (so bezieht er 9,25f. auch auf Judenchristen, 9,27a auf die Abrahamsverheißung, egno in 10,19 auf Gottes Plan, sich den Heiden zuzuwenden, 11,26a auch auf Heiden, 15,9c auf Christus als Sprecher), postuliert kaum überzeugende Schriftbezüge (zu 9,28: Jes 28,22; zu 10,18.19: Jes 40,21.28; zu 11,8: Jes 6,9 f. [andere Vorschläge zu 9,30; 10,19; 11,26; 14,21 lehnt W. dagegen ab]) und verzeichnet gedankliche Zusammenhänge (etwa in 10,5 f.18; 11, 28 f.; 15,8-12).

5. Schwere Bedenken weckt die Methode, Funktion und Bedeutung der Zitate und Anspielungen von einer Betrachtung der jesajanischen Kontexte in der LXX-Version her zu bestimmen.

Schon die Frage, in welchem Wortlaut Paulus diese Kontexte las oder kannte, lässt sich nicht beantworten. Brisant ist das zumal dort, wo seine Zitate auf einer dem Hebräischen angeglichenen Textfassung basieren (W. hält das bei Jes 8,14; 28,16; 52,7 für wahrscheinlich, betrachtet die Kontexte aber dennoch in ihrer ursprünglichen LXX-Gestalt); doch auch sonst kann man für Paulus nicht einfach den kritischen Text der Göttinger Septuaginta voraussetzen. Sodann ist a priori völlig offen, in welchem Umfang Paulus die Kontexte wahrnahm (W. geht meist von ein bis zwei Kapiteln des Jesajabuchs aus, begründet das jedoch von dessen Aufbau her, wie er sich heutiger Forschung darstellt) und wie sich ihm deren jeweiliger Sinn erschloss (W. fragt stets nach den großen Linien, die den betrachteten Passus als Sinnzusammenhang ausweisen; interpretatorische Probleme spricht er dabei ebenso wenig an wie zeitgeschichtliche Bezüge der LXX).

Demgemäß ist das Unternehmen, Stellung und Funktion eines Jesajawortes in seinem Kontext zu bestimmen, um diese dann mit seiner Verwendung bei Paulus zu vergleichen, wenig sinnvoll - und das Verfahren, auf dieser Basis seine Deutung durch Paulus zu klären, verfehlt. Das wird dann auch an den vielen Stellen deutlich, wo Paulus a) Begriffen oder Aussagen seiner Zitate und Anspielungen eine neue, z. T. gar dem postulierten Sinnzusammenhang zuwiderlaufende Bedeutung gibt oder b) die seiner Deutung eines Schriftwortes entgegenstehenden Aussagen in dessen Kontext übergeht.

Gerade dieser letzte Kritikpunkt jedoch zeigt, dass W. mit seinem Buch einen diskussionswürdigen Beitrag zur Debatte über das Konzept der Intertextualität bei Paulus geliefert hat.