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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

44–46

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klauck, Hans-Josef

Titel/Untertitel:

Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. X, 456 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 152. Lw. Euro 99,00. ISBN 3-16-147899-1.

Rezensent:

Jens Schröter

Hans-Josef Klauck legt in diesem Band gesammelte Aufsätze aus der Zeit vor seinem Wechsel nach Chicago, genauer aus den Jahren 1995-2002, vor. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf der Einordnung des entstehenden Christentums in sein religiöses und soziales Umfeld, ein weiterer auf dem Verhältnis von Exegese und Kirche.

Der Band wird durch einen ins Thema einführenden Originalbeitrag eröffnet: "Pantheisten, Polytheisten, Monotheisten. Reflexionen zur griechisch-römischen und biblischen Theologie". Der Titel greift ein Goethezitat auf und setzt es zur antiken Theorie der theologia tripartita, der dreifachen Gotteserkenntnis, in Beziehung. Anhand von Dio Chrysostomus (Or. 12), Plutarch (De superstitione, De Iside et Osiride) sowie Apuleius von Madaura wird dies zunächst für den paganen Bereich näher ausgeführt, dem dann alttestamentliche (Ps 82, Dan 7), hellenistisch-jüdische (Weish, Philo) und schließlich neutestamentliche Texte (1Kor 8,4-6; Joh 10,34- 36) zur Gottesvorstellung gegenübergestellt werden. Es wird ein weiter Rahmen gespannt, der auf eine grundlegende und - wie der Schlussabschnitt herausstellt - durchaus aktuelle Frage zusteuert, nämlich diejenige nach der Stellung des christlichen trinitarischen Gottesbildes zwischen Monotheismus und Polytheismus. Am Ende steht die anregende Frage, ob der spezifisch christliche Beitrag zur Gottesvorstellung in einer "Ontologie der Relationen" bestehen und sich gerade darin als zukunftsfähig erweisen könne.

Die übrigen Beiträge sind acht Themenbereichen zugeordnet. Unter "II. Sünde und Vergebung" finden sich die Aufsätze über "Die kleinasiatischen Beichtinschriften und das Neue Testament" sowie "Heil ohne Heilung? Zu Metaphorik und Hermeneutik der Rede von Sünde und Vergebung im Neuen Testament". Die Beichtinschriften liefern interessante Analogien zur neutestamentlichen Rede von Sünde und deren Beseitigung: Für Vergehen verwenden die Inschriften wie das Neue Testament hamartia/hamartanein für deren Beseitigung können lytra dargebracht werden, auch hilaskesthai und Derivate sind nachweisbar, allerdings in anderer Verwendung (Gnädigstimmen der Gottheit). Wichtig ist freilich, den gattungsmäßigen Unterschied zwischen den Inschriften (etwa aus Epidauros) und den neutestamentlichen Heilungserzählungen zu notieren, auf den K. am Schluss hinweist. Der zweite Beitrag geht von metapherntheoretischen Erwägungen aus und behandelt auf dieser Grundlage verschiedene Paradigmen, mit denen im Neuen Testament Verfehlungen und deren Beseitigung versprachlicht werden: das medizinische (Arzt und Kranke), das soziale (Sklavenbefreiung), das finanzielle (Nachlass von Geldschulden), das forensische (Verurteilung und Begnadigung), das rituelle (Befleckung und Reinigung), das kultische (Sühnopfer), das kommunikative (Bekenntnis), das fachsprachliche (Sünde und Umkehr), das existentielle (Tod und Leben) sowie einige "kleinere Paradigmen". Der Beitrag ist in methodischer Hinsicht für die gegenwärtige Soteriologiediskussion überaus hilfreich, denn er führt die Vielfalt vor Augen, in der ein für das Urchristentum zentrales Thema in den Texten begegnet. Damit wird eine traditionsgeschichtliche Engführung bereits im Ansatz vermieden. Freilich kann es sich nur um eine erste Bestandsaufnahme handeln, die der Ausarbeitung harrt.

Der Bereich "III. Ekstatische Rede" versammelt zwei Beiträge zum Thema Glossolalie. "Von Kassandra bis zur Gnosis" beleuchtet das Phänomen ekstatischer Rede, ausgehend von Aischylos' Orestie über Altes Testament und Judentum sowie die Zauberpapyri und endend bei dem koptischen Ägypterevangelium aus Nag Hammadi. Der zweite Beitrag untersucht, hieran anknüpfend, die von Paulus in 1Kor 14 anlässlich der Zungenrede in der korinthischen Gemeinde verhandelte Frage nach dem Verhältnis von pneumatischen und verständlichen Äußerungen. Paulus grenzt Zungenrede von Prophetie ab und urteilt nach dem Maßstab des Nutzens für die Gemeinde sowie der Liebe, die auch der Vernunft Grenzen setzt. Christlicher Verkündigung ist damit ein Weg gewiesen, der geisterfüllte, prophetische Rede und verständliche, vernünftige Argumentation verbindet.

Teil IV besteht ebenfalls aus zwei Aufsätzen, zusammengefasst unter der Überschrift "Mysterienkulte und Herrenmahl". Der erste Beitrag befasst sich mit dem Verhältnis von Urchristentum und antiken Mysterienkulten und knüpft damit an K.s Habilitationsschrift "Herrenmahl und hellenistischer Kult" (21986) an. Über das dort Ausgeführte hinaus werden hier auch die Taufe sowie weitere Einzelmotive der korinthischen Korrespondenz (Verbindung von Täufer und Täufling, Einweihung in die verborgene Weisheit Gottes nach 1Kor 2,6 f.) einbezogen. Die Übertragungstheorie der Religionsgeschichtlichen Schule greift zu kurz, um die Analogien zu erklären. Die Vorstellung einer "Inkulturation des Evangeliums" erfasst das Phänomen besser. Der kurze zweite Beitrag befasst sich speziell mit dem Herrenmahl nach 1Kor 10-12. Es werden sowohl pagane wie jüdische Analogien notiert, mit deren Hilfe sodann ein Rekonstruktionsversuch der korinthischen Mahlfeier unternommen wird. Am Ende finden sich einige Hinweise zur Auslegung der so genannten Einsetzungsworte in 1Kor 11,24 f., die, da Paulus sie ausdrücklich zitiert, Hinweise für das korinthische Herrenmahlsverständnis liefern könnten und es als unsozial und damit einem Mahl, das Jesus vergegenwärtigt, unangemessen erscheinen lassen.

Teil "V. Volk Gottes und Gemeinde" umfasst drei Beiträge: "Gottesfürchtige im Magnificat?" fragt nach der Bedeutung der in Lk 1,50 erwähnten phobumenoi auton (i. e. theon). Die im Titel gestellte Frage wird positiv beantwortet: Lukas denke hier bereits an die gottesfürchtigen Heiden der Apostelgeschichte. Der Beitrag ist freilich zu knapp, um dies eingehender zu begründen und die Diskussion über die Gottesfürchtigen umfassender zu berücksichtigen, die in Anm. 2 und 3 allenfalls angedeutet wird. "Gemeinde und Gesellschaft im frühen Christentum - ein Leitbild für die Zukunft" greift die ekklesiologische Frage nach dem Selbstverständnis christlicher Gemeinschaften auf. Dazu werden zunächst eine pagane Außen- (Lukian, Apuleius) sowie eine frühchristliche Binnenperspektive (Diognet 5,1-17) nachgezeichnet, die zeigen, dass die Christen der ersten beiden Jahrhunderte als fremdartig wahrgenommen wurden und sich selbst als Bürger dieser Welt, die ihre wahre Heimat jedoch im Himmel haben, verstanden. Hiervon ausgehend werden sodann die Bezeichnungen "Volk Gottes" und "Gemeinde Gottes" (ekklesia) untersucht, Letztere mit Analogien im antiken Vereinswesen. Abschließend werden Paulus und die Offb als urchristliche Modelle für das Verhältnis von Gemeinde und Gesellschaft herangezogen: Paulus entwickelt ein Verständnis urchristlicher Gemeinde zwischen Anpassung und Rückzug aus der Welt, die Offb - gerichtet an Gemeinden im paulinischen Missionsgebiet - vertritt dagegen die radikale Option einer Absage gegenüber der herrschenden römischen Ordnung - nicht auf Grund einer Verfolgung, sondern als Antwort auf die Gefahr einer "Verbürgerlichung" des Christentums. Beide Modelle liefern, wie abschließend vermerkt wird, Impulse, die auch für eine gegenwärtige Standortbestimmung von Kirche in der Gesellschaft zu bedenken sind. Der dritte Beitrag, "Junia Theodora und die Gemeinde von Korinth", behandelt eine 1954 gefundene korinthische Inschrift in zwei Kolumnen, die von der Römerin Junia Theodora spricht, die um 50 n. Chr. in Korinth gewohnt hat. Der Text wird erstmals in deutscher Übersetzung geboten und im Blick auf das Neue Testament ausgewertet. Interessant sind vor allem der durch die Inschrift bestätigte römische Einfluss sowie die Beziehungen Korinths zu kleinasiatischen Städten. In Bezug auf Letztere tritt Junia als Hausbesitzerin und Gastgeberin in Erscheinung, was einen Vergleich mit Phoebe aus Kenchreai nahe legt. Wird diese in Röm 16,2 als prostatis bezeichnet, so ergibt sich eine terminologische Beziehung zu Z. 77 der Inschrift, wo der Terminus prostasia begegnet (dessen genaue Bedeutung allerdings nicht geklärt ist).

Teil VI behandelt "Herrscherkritik und Kaiserkult". Zunächst wird der Tod Herodes Agrippas I. in Apg 12,20-23 (einschließlich eines Vergleichs mit Josephus, Ant 19,338-353) thematisiert, wobei besonderes Augenmerk auf dem Vergleich der "Stimme eines Gottes" (Apg 10,22) mit der Erwähnung von Neros vox caelestis in antiken (und mittelalterlichen) Quellen liegt ("Des Kaisers schöne Stimme"). Auffällig ist, dass das Thema der schönen Stimme Neros in den Quellen häufig begegnet. Abschließend wird erwogen, ob sich hinter Apg 12,20-23 eine implizite Kritik am Kaiser der eigenen Zeit - also Domitian - verbergen könne. Die Beziehung zwischen Apg 12 und den Erwähnungen der Stimme Neros ist in der Tat augenfällig, der Weg zur Herrscherkritik (indirekte Kritik an Nero auf dem Weg über Agrippa I., die auf Domitian gemünzt sei) freilich etwas mühsam. Auch lässt sich Kaiserkritik in der Apg sonst nicht belegen. Einer der beiden englischsprachigen Beiträge des Bandes befasst sich mit der Offb ("Do they never come back? Nero Redivivus and the Apocalypse of John"). Untersucht werden die Legende vom Nero redivivus und ihre spezielle Adaption in der Offb, für die die Sibyllinischen Orakel (bes. Buch III, 63-74) eine vermittelnde Rolle gespielt haben könnten. Der dritte Beitrag des Teils ("Das göttliche Kind") untersucht Motive in Geburts- und Kindheitsgeschichten antiker Texte mit Blick auf Mt 1-2 und Lk 1-2.

Teil "VII. Geteilte Briefe (aus anderer Sicht)" enthält nur einen Beitrag: "Compilation of Letters in Cicero's Correspondence". Untersucht wird die Entstehung der Sammlung der Briefe Ciceros, wobei besonderes Augenmerk auf dem Vergleich mit der neutestamentlichen Briefliteratur liegt. Die Briefsammlung könnte Analogien für die Kompilation mehrerer Briefe, die Entstehung eines Briefes über einen längeren Zeitraum sowie den schmalen Grat, der zwischen der Anfügung eines Postskripts und der Abfassung eines neuen Briefes auf Grund neuer Informationen besteht, liefern. Von hier aus könnte Licht auf 2Kor 10-13 oder auch Röm 16 fallen.

Der letzte Teil, "Exegese und Kirche", umfasst drei Beiträge, die den Themen "Streit um die Rechtfertigung. Paulus, Jakobus und Martin Luther", einer Analyse der katholischen neutestamentlichen Exegese zwischen Vatikanum I und II sowie dem Dokument "Die Interpretation der Bibel in der Kirche" der Päpstlichen Bibelkommission von 1993 gewidmet sind. Vor allem der zweite Beitrag ist informativ und anregend, allerdings fällt der gesamte Teil aus dem inhaltlichen Profil des übrigen Bandes heraus.

Das Buch wird durch umfangreiche Register gut erschlossen.

Der Sammelband bietet ein breites Spektrum von Themen, das viele Aspekte, mit denen sich K. in früheren Untersuchungen bereits befasst hatte, näher ausführt und durch reichhaltiges religionsgeschichtliches Material untermauert. Etliche Beiträge bereiten dabei ein Feld, auf dem weiterzuarbeiten wäre. Sie erweisen sich darin als innovativ und werden die religionsgeschichtliche Erforschung des Urchristentums beflügeln. Einige Aufsätze sind zudem durch Literaturnachträge ergänzt worden und bieten so einen guten Einblick in den gegenwärtigen Forschungsstand. Andere wurden überarbeitet oder zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgelegt. Manches, das zuvor an entlegenen Orten veröffentlicht worden war, ist nunmehr leicht zugänglich. Einige, vor allem die kleineren Artikel rechtfertigen einen Wiederabdruck dagegen weniger, da sie kaum über allgemein Bekanntes hinausgehen. Die Standortbestimmung der katholischen Exegese ist für das konfessionsübergreifende Gespräch über den Beitrag der Exegese für Theologie und Kirche anregend und weiterführend.