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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

40–44

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

1) Hahn, Ferdinand 2) Hahn, Ferdinand

Titel/Untertitel:

1) Theologie des Neuen Testaments. Bd. I: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums.

2) Theologie des Neuen Testaments. Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung.

Verlag:

1) Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XLIV, 858 S. 8. Kart. Euro 49,00. ISBN 3-16-147950-5.

2) Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XXXVI, 869 S. 8. Kart. Euro 49,00. ISBN 3-16-147951-3.

Rezensent:

Eduard Lohse

In diesen beiden stattlichen Bänden legt der Vf. den Ertrag eines langen Lebenswerkes vor. Diesen Ertrag hat er als akademischer Lehrer in Forschung und Lehre erarbeitet und in eine weit ausholende Darstellung gefasst, die von Anfang bis Ende von straffer Ordnung und pädagogisch überlegter Gedankenführung geleitet ist. Die Aufgabe, eine Theologie des Neuen Testaments vorzulegen, wird so verstanden, dass sie "Glaubenszeugnis des Urchristentums" aufzuzeigen hat, "das als solches Grundlage aller christlichen Verkündigung und Theologie ist" (1). Mithin geht es nicht darum, eine Religionsgeschichte des frühen Christentums zu entwerfen, die auch apokryphe und andere frühchristliche Texte einbeziehen mag. Für eine Theologie des Neuen Testaments ist der Kanon des Neuen Testaments zu Grunde zu legen (VIII). Dessen Bücher sind auf die Vielfalt des in ihnen dargelegten Zeugnisses hin zu befragen. Doch dann muss in einem zweiten Arbeitsgang die Frage nach der Einheit der urchristlichen Botschaft gestellt und beantwortet werden.

Aus dieser Aufgabenstellung ergibt sich eine Zweiteilung: Teil I: Die Vielfalt des Neuen Testaments - Theologiegeschichte des Urchristentums; Teil II: Die Einheit des Neuen Testaments - Thematische Darstellung. Dabei wird im ganzen Werk darauf verzichtet, die eigene Position gegen andere abzugrenzen oder sich des Näheren mit abweichenden Ansichten polemisch auseinander zu setzen. Anmerkungen und alles entbehrliche Beiwerk fallen fort, so dass die flüssig geschriebene Entfaltung der Gedanken den Leser unmittelbar anspricht. Alle biblischen Zitate werden übersetzt und zusätzlich im Wortlaut des Urtextes wiedergegeben. Somit können auch diejenigen, die nicht über griechische Sprachkenntnisse verfügen, mit Gewinn den Ausführungen folgen. In erster Linie ist freilich daran gedacht, dass Studierende der Theologie dieses Lehrbuch zur Hand nehmen mögen. Doch auch der Fachkollege, der mit den Problemen genauer vertraut ist, wird aus der Lektüre förderliche Belehrung erhalten. Denn der Vf. entwickelt seine Erklärungen mit vorbildlicher Klarheit und weist zu deren Begründung im ausführlichen Literaturverzeichnis sowohl auf eigene Veröffentlichungen zur jeweiligen Thematik hin wie auch auf wichtige Publikationen aus der deutschen und internationalen Forschung. Wer nähere Auskunft und Begründung sucht, kann sich anhand dieser übersichtlich gehaltenen Hinweise unschwer zurechtfinden.

Gelegentlich werden in bewusst knapp gehaltenen Überblicken wichtige Positionen aus der Forschungsgeschichte gewürdigt, so z. B. nacheinander zu den drei synoptischen Evangelien (488-492.518-524.547-555). Dabei weiß der Vf. seine Ausführungen so vorzutragen, dass sie sich stets auf einen umsichtig begründeten breiten Konsens stützen können. Insofern wird vom Vf. nicht nur eine Summe seiner eigenen Studien, sondern zugleich auch eine trefflich begründete Bilanz aus der neutestamentlichen Forschung der letzten Jahrzehnte gezogen.

Der erste Band umfasst acht Hauptteile: Verkündigung Jesu - älteste christliche Gemeinden - Paulus - Paulusschule - hellenistisch-judenchristliche Schriften - Synoptische Evangelien und Apostelgeschichte - Johanneische Theologie - Übergang zum 2.Jh. Jeder dieser großen Abschnitte ist in viele kleinere Stücke unterteilt, die jeweils mit sorgfältiger Genauigkeit ausgearbeitet sind und sich zu einem geschlossenen Bild einer urchristlichen Theologiegeschichte zusammenfügen. Da die Fülle der Gedanken in einer Besprechung nur angedeutet werden kann, seien einige Aussagen von grundlegender Bedeutung hervorgehoben, um leitende Motive der Darstellung zu kennzeichnen.

Hinsichtlich der Verkündigung Jesu wird eine grundlegende Entscheidung getroffen: Eine neutestamentliche Theologie kann und darf Jesu Predigt und Wirksamkeit nicht nur zu ihren Voraussetzungen zählen, sondern hat diese in ihre Darstellung einzubeziehen. Denn schon in vorösterlicher Zeit geht es um die Gegenwart des Heils und dessen endgültige Zukunft (20). Die Rückfrage nach Jesu Verkündigung erfolgt "aufgrund der vollständigen Integration der Jesusüberlieferung in das nachösterliche Kerygma" (21). Daher gilt es, den inneren Zusammenhang zwischen dem vorösterlichen Jesus und der urchristlichen Verkündigung aufzuzeigen (46). Am Ende kam der Tod für Jesus nicht überraschend; denn dieser stand nicht in Widerspruch zu seiner Botschaft (123). Daraus folgt: "Die Identität des irdischen, des sterbenden und des auferstandenen Jesus ist das Fundament für alle christologischen Aussagen. Jede isolierte Wertung der vorösterlichen Geschichte Jesu widerspricht dem Gesamtzeugnis des Neuen Testamentes." (125)

Die älteste urchristliche Verkündigung ist vornehmlich in Bekenntnisaussagen ausgesprochen, die in kurzen formelhaften Wendungen zusammenfassen, was für den Glauben grundlegend und wesentlich ist (128). Tod und Auferstehung Christi stehen im Zentrum der ältesten christlichen Predigt. Dabei kommt den Grabeserzählungen nicht die Funktion eines Beweismittels zu, sondern sie haben Zeichenfunktion (ebd.). "Das Ostergeschehen ist kein historisches Ereignis in dem Sinne, daß man die Faktizität dieses Geschehens neutral oder objektiv nachweisen könnte." (130) Vielmehr wird das Osterzeugnis als Ruf zum Glauben weitergegeben (131). Ist Ostern das "Urdatum" einer genuin christlichen Verkündigung, so wurde der Messiastitel "speziell auf den leidenden und sterbenden Jesus angewandt" (150).

Die Theologie des Apostels Paulus wird im Licht der grundlegenden Bezeugung des einen Evangeliums aufgeschlossen, die als zentrale Mitte bewertet wird. Von diesem Ansatz her kann in überzeugender Weise die Einheit der paulinischen Theologie verständlich gemacht werden (187). Denn "der von Paulus verwendete und explizierte Evangeliumsbegriff ist Grundlage für seine Verkündigung und Theologie" (190). Dabei setzt für Paulus das Evangelium "als Proklamation der Erfüllung des verheißenen Heils" "das Alte Testament in seinem vollen Umfang voraus" (195). "So ist das Alte Testament in seiner Interpretatio Christiana ein integrales Element des Evangeliums." (201) Abschließend wird die wichtige Feststellung getroffen, dass Verkündigung und Theologie des Apostels Paulus insgesamt in einer fundamentalen sachlichen Übereinstimmung mit Jesu Botschaft stehen (329).

In der Paulusschule ging es nicht "um das bloße Festhalten an der vom Apostel vorgegebenen Tradition, vielmehr um deren Weiterentwicklung" (333). Wie sich diese im Einzelnen vollzogen hat, wird für den 2. Thessalonicherbrief, den Kolosser- und Epheserbrief sowie die Pastoralbriefe gezeigt. Hinsichtlich der hellenistisch-judenchristlichen Schriften wird zutreffend bemerkt, "daß das vielfach mit der nachapostolischen Tradition verbundene Thema eines beginnenden Frühkatholizismus eine tendenziöse Feststellung war", die sich als unfruchtbar erwiesen habe (390).

Bei der Interpretation des Markusevangeliums sollte statt vom "Messiasgeheimnis" treffender vom "Offenbarungsgeheimnis" gesprochen werden, "weil damit die Besonderheit dieses komplexen Phänomens bei Markus am besten umschrieben werden kann" (511). Für den Evangelisten Matthäus ist kennzeichnend, "daß er den Erzählstoff grundsätzlich strafft" (522), aber die Lehre Jesu um so nachdrücklicher hervorhebt (546). Im Lukasevangelium liegt ein Bericht mit kerygmatischer Zielsetzung vor (556), in dem schwerpunktmäßig eine theologia resurrectionis et exaltationis "im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Gesamtkonzeption" entfaltet wird (566). In der johanneischen Theologie bildet die Sendung Jesu durch Gott "geradezu das Herzstück", "womit grundlegende Aussagen über den Vater und über den Sohn verbunden sind" (608).

Ist der erste Band der Aufgabe gewidmet, die Vielfalt der neutestamentlichen Überlieferungen darzustellen, so wird im zweiten Band beschrieben, "wie diese unterschiedlichen Konzeptionen innerlich zusammenhängen" (764). Dabei geht es nicht so sehr darum, zu mancherlei Einzelheiten Stellung zu nehmen, "als vielmehr durchgehende Linien aufzuzeigen" (II, VIII). Indem der Vf. darauf bedacht ist, der Vielfalt urchristlicher Verkündigung die sie verbindende Einheit gegenüberzustellen, macht er deutlich, dass von einer Theologie des Neuen Testaments im strengen und eigentlichen Sinn nur dort gesprochen werden kann, "wo es um einen Gesamtzusammenhang geht, bei dem in einer durchreflektierten Weise zum Ausdruck gebracht wird, was christlicher Glaube ist und beinhaltet" (II, 1). Für den Aufbau dieser Darstellung wird eine Gliederung in fünf Teile gewählt, "die sich zunächst auf die Offenbarung Gottes im Alten Testament beziehen, dann das Offenbarungsgeschehen in der Person Jesu behandeln, um im Anschluß daran die soteriologische, die ekklesiologische und die eschatologische Dimension des Heilsgeschehens zu erörtern" (II, 27 f.). Dabei wird im Einzelnen danach gefragt, wie sich Gemeinsamkeiten zu "vorhandenen Spannungen und Widersprüchen" verhalten. Durch solche Gegenüberstellung ist zu klären, wo noch offene Probleme bestehen und welche theologischen Konsequenzen sich aus diesen ziehen lassen (II, 29).

Bei dieser Weise des Vorgehens werden stets die Ausführungen des ersten Bandes vorausgesetzt; doch lässt es sich nicht ganz vermeiden, dass sich gewisse Wiederholungen einstellen. Indem der Schwerpunkt der Ausführungen auf die Aufgabe gelegt wird, ein zusammenstimmendes Gesamtzeugnis aller Schriften des Neuen Testaments zu erheben, wird nicht nur eine interessante exegetische Denkbewegung vollzogen, sondern werden zugleich systematisch-theologische Überlegungen angestellt, die wichtige Vorarbeit für dogmatische Erörterungen kirchlicher Lehre leisten.

Auch zum zweiten Band können nur wenige Hinweise gegeben werden, die der Leser durch eigene Lektüre ergänzen möge. In prägnanter Zusammenfassung geht der Vf. von der Voraussetzung aus: "Eine fundamentale Gemeinsamkeit aller neutestamentlichen Schriften besteht im Bekenntnis zu dem einen Gott. Das Grundbekenntnis des alten Bundes ist in gleicher Weise Grundlage für die urchristliche Bekenntnistradition." (II, 83) Daher ist "das Neue Testament vom Alten und das Alte Testament vom Neuen her zu lesen ... Die neutestamentliche Botschaft ist eine Fortschreibung des alttestamentlichen Zeugnisses" (II, 139).

Ihrem Inhalt nach lässt sich neutestamentliche Theologie als "Theologie der Offenbarung Gottes" bestimmen. Dabei liegen nicht zufällig "die fundamentalen christologischen Aussagen in Bekenntnisformeln vor" (II, 195). Im gesamten Zeugnis des Neuen Testaments werden überall Tod und Auferstehung Jesu berücksichtigt (II, 213). "Von der Hinrichtung aus wurde der christianisierte Messiastitel auf das irdische Wirken Jesu übertragen." (II, 238) "Die Gewißheit, daß Jesus auferweckt worden ist und in die himmlische Wirklichkeit eingegangen ist, verband sich mit der Erfahrung, daß er gegenwärtig in der Gemeinde handelt." (II, 249) Die urchristliche Christologie "erstreckt sich von der Präexistenz über die Menschwerdung, den Tod, die Auferstehung und die Erhöhung Jesu bis hin zu seiner Wiederkunft. Bei den einzelnen Themen liegen zum Teil sehr divergente Aussagen vor, doch zeigen sich auch deutliche Verbindungslinien" (II, 255). Von der neutestamentlichen Anthropologie kann gesagt werden, dass "eine grundsätzliche Einheitlichkeit vorliegt im Blick auf das Geschöpfsein wie das Sündersein des Menschen" (II, 333). "Aber erst von dem rettenden Handeln Gottes her wird die wahre menschliche Existenz in allen ihren Dimensionen aufgedeckt." (II, 335)

"Die Rechtfertigungsbotschaft ist das Herzstück der paulinischen Theologie geworden." (II, 430) Und: "Zur Kirche Jesu Christi gehört ihre Einheit" (II, 506). In den verschiedenen Berichten über die Stiftung des Herrenmahls ist jeweils "vorausgesetzt, daß das Herrenmahl in Jesu eigener Mahlfeier seinen Ursprung hat, daß es Zeichen seiner rettenden Hingabe ist ... und daß die soteriologische Dimension in der Gegenwart des Herrn und seinen Gaben wirksam wird" (II, 559). Und was urchristliche Ethik angeht, so haben "alle Weisungen, ob aus alttestamentlich-jüdischer Tradition, aus der hellenistischen Popularethik oder aus der urchristlichen Überlieferung selbst ... die Funktion von Orientierungshilfen" (II, 736).

Die Ergebnisse der Betrachtungen zur Einheit des Neuen Testaments werden am Ende dahin zusammengefasst, dass eine Einheit nicht in Gleichförmigkeit besteht, "sondern in einer vielgestaltigen Entfaltung der urchristlichen Botschaft" (II, 803). "Insofern enthalten die einzelnen Themen der neutestamentlichen Verkündigung und Theologie ein hohes Maß an Gemeinsamkeit, während die Spannungen auf noch nicht ausreichend gelöste Sachfragen hinweisen" (ebd.).

Vor einem halben Jahrhundert hatte die sich immer weiter ausdifferenzierende neutestamentliche Wissenschaft zu der These führen können, der neutestamentliche Kanon begründe als solcher nicht die Einheit der Kirche, sondern in seiner dem Historiker vorfindlichen Gestalt die Vielfalt der Konfessionen (E. Käsemann). Auch unser Vf. breitet mit Genauigkeit die in den Schriften des Neuen Testaments ausgesprochene Vielfalt der Zeugnisse aus. Doch weiß er nicht nur die Einsichten seitheriger Forschung aufzunehmen und auszuwerten, sondern nimmt sie auch zum Anlass, nach der Gemeinsamkeit zu fragen, wie sie urchristlicher Predigt schlechthin eignet. "Das Neue Testament erweist sich dabei durchaus als ein in sich geschlossenes Ganzes, ermöglicht aber gleichzeitig eine weitergehende theologische Reflexion und Erkenntnis und fordert zu stets neuem Nachdenken auf." (II, 806)

Für dieses beachtliche und höchst beachtenswerte Werk ist dem Vf. hoher Respekt zu bezeigen. Mit stets gleich bleibender Umsicht des Urteils hat er dargestellt, welche verschiedenen Ausprägungen urchristlicher Theologie in den kanonischen Schriften des Neuen Testaments vorliegen. Aber er bleibt nicht dabei stehen, diesen Befund auszubreiten, sondern sucht die zutiefst verbindende Einheit zu erheben, die den verschiedenen Konzeptionen urchristlicher Verkündigung zu Grunde liegt. Es steht zu hoffen, dass der beträchtliche Umfang des Werkes sich nicht als hinderlich für seine Verbreitung und Aufnahme auswirken möge. Wer begonnen hat, sich mit diesem Lehrbuch zu befassen, wird alsbald feststellen, dass seine Ausführungen sich flüssig und gut lesen lassen und zum Mitdenken einladen. Mit diesem "opus magnum" hat der Vf. Theologie und Kirche einen hoch zu schätzenden Dienst erwiesen, dem dankbare und verdiente Anerkennung zuteil werden mögen.