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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

37–40

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dunn, James D. G.

Titel/Untertitel:

Jesus Remembered.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2003. XVIII, 1019 S. gr.8 = Christianity in the Making, 1. Lw. US$ 55,00. ISBN 0-8028-3931-2.

Rezensent:

Jens Schröter

Die erstaunliche Produktivität von James Dunn hat zu einem neuen monumentalen Opus geführt: "Jesus Remembered" ist der erste Teil einer geplanten Trilogie über die ersten etwa 120 Jahre des Christentums (ca. 27-150). Die folgenden Bände sollen die Frühzeit der nachösterlichen Gemeinden (mit besonderem Blick auf die Apostelgeschichte) sowie die zweite und dritte christliche Generation behandeln.

Bereits der Titel bringt den hier entwickelten Ansatz zum Ausdruck: Jesus ist nur als erinnerter zugänglich, der "historische Jesus" dagegen ein mit den Mitteln historisch-kritischer Forschung konstruiertes Bild, das seine Bedeutung für den historischen Erkenntnisprozess besitzt, jedoch nicht gegen die Evangelien gestellt und schon gar nicht mit dem wirklichen, irdischen Jesus verwechselt werden darf. Das Christentum hat seinen Ursprung in diesem erinnerten, nicht in einem historischen Jesus und auch nicht in einem nachösterlichen Kerygma. Damit sind die Weichen für die Einordnung des Entwurfes in die gegenwärtige Jesusforschung gestellt.

Das Buch ist in fünf Hauptteile aufgegliedert. Teil I "Faith and the Historical Jesus" rückt die historische Jesusforschung in eine geistesgeschichtliche und hermeneutische Perspektive. Aufklärung und Entstehung des historischen Bewusstseins führten zu einer Polarisierung von Dogma und Geschichte, wobei die Jesusforschung im 19. Jh. in den Sog des Historismus geriet ("The Flight from Dogma"). Die gegenläufige Bewegung ("The Flight from History") lässt sich zuerst in Lessings Unterscheidung historischer und religiöser Wahrheiten greifen und verbindet sich in der Jesusforschung vor allem mit den Namen von Martin Kähler und Rudolf Bultmann. Eine eigene Form der Flucht aus der Geschichte stellt schließlich die postmoderne Geschichtsauffassung dar, der zufolge es nur Interpretationen, aber keine Texte gibt.

Das überaus wichtige Kapitel 6 "History, Hermeneutics and Faith" entwickelt vor diesem Hintergrund den eigenen methodischen Ansatz. Historisch-kritische Quellenanalyse sei für die Jesusforschung unverzichtbar, müsse allerdings erkenntnistheoretisch reflektiert werden. Dazu sei zwischen "event, data, and fact" (102) zu unterscheiden: Das vergangene Ereignis (event) sei unwiederbringlich, zugänglich seien nur noch die von ihm zeugenden "data", aus denen der Historiker durch Interpretation die "facts" rekonstruiere. Droysen, auf den D. en passant hinweist, hätte hier eine ausführlichere Würdigung verdient, denn in seinen Historik-Vorlesungen wurde die Verhältnisbestimmung von Heuristik, Kritik und Interpretation bereits reflektiert. Historische Forschung, so D., könne auf Grund des Charakters historischer Erkenntnis niemals zu Glaubenssicherheit führen, Lessings Grabensprung oder Bultmanns Unhintergehbarkeit des Kerygmas seien jedoch keine Alternativen, die hier ins Feld geführt werden könnten. Der Glaube sei vielmehr stets Fragen - auch solchen nach seiner historischen Grundlage - ausgesetzt. Bereits in den ältesten Quellen lasse sich das Ineinander von Glaube und Geschichte wahrnehmen: Jesus begegne von Beginn an als der erinnerte, vergegenwärtigte, sei also nur in der Deutung seines Wirkens und Geschicks durch seine Nachfolger zugänglich, deren Überlieferungen in die schriftlichen Zeugnisse eingegangen sind. Die Behauptung einer Diskontinuität von vor- und nachösterlicher Zeit sei deshalb nicht plausibel, ebenso wenig wie die Annahme, eine von der Glaubensperspektive der frühen Texte absehende Konstruktion des Wirkens Jesu käme der historischen Wirklichkeit näher.

Teil II befasst sich mit den Quellen sowie dem historischen Kontext Jesu ("From the Gospels to Jesus"). D. folgt der Zweiquellentheorie, in Bezug auf Q allerdings mit wichtigen Einschränkungen. Zu beachten ist der Hinweis, gemeinsamer Nicht-Mk-Stoff bei Mt und Lk sei von einem zweiten, neben Mk existierenden Dokument zu unterscheiden. Sinnvoll wäre hier die Verwendung verschiedener Sigla (q/Q), auch wenn dies angesichts der Forschungssituation kaum noch durchzusetzen sei. Die Thesen der Unabhängigkeit und Frühdatierung außerkanonischer Quellen teilt D. nicht. Das EvThom gehöre zu einer gnostischen Strömung des 2. Jh.s, auch andere außerkanonische Schriften böten keinen von der synoptischen Überlieferung unabhängigen Zugang zur ältesten Jesusüberlieferung. Von den schriftlichen Zeugnissen seien für die historische Jesusfrage deshalb in erster Linie die synoptischen Evangelien, insbesondere Mk und Q, zu berücksichtigen. EvThom und JohEv könnten in Einzelfällen historische Zusatzinformationen oder alte Überlieferungen beisteuern, gehörten jedoch insgesamt einer späteren Entwicklungsphase an.

In Kapitel 8 "The Tradition" befasst sich D. mit vorsynoptischen Überlieferungsprozessen. In Anknüpfung an neuere Entwicklungen in der Mündlichkeitsforschung entwickelt er ein Modell, das Raum für verschiedene, nebeneinander existierende Versionen einer Überlieferung lässt. Die Möglichkeiten, ältere Überlieferungsformen durch literarkritische Operationen erheben zu wollen, erweisen sich damit als begrenzt. So weisen etwa die verschiedenen Versionen der Erzählung vom Hauptmann zu Kafarnaum (Mt 8,5-13/Lk 7,1-10) D. zufolge nicht notwendig auf eine gemeinsame schriftliche Quelle (Q) hin, sondern könnten sich als zweimalige Verschriftlichung einer mündlichen Überlieferung (q) erklären, was durch die Variante in Joh 4,46-54 zusätzlich unterstützt werde. Auch Phänomene der dreifachen Tradition lassen sich so erklären, denn Mt und Lk könnten von Mk abweichende Versionen einer Überlieferung verarbeitet haben.

Das Modell eines flexiblen Überlieferungsprozesses erscheint dem synoptischen Befund wesentlich adäquater als ein vorrangig an literarischer Vermittlung orientiertes: Mt und Lk müssen keineswegs das MkEv in derjenigen Fassung gekannt haben, die heutigen Textausgaben zu Grunde liegt. Bei von Mk abweichenden Versionen ist der Einfluss mündlicher Überlieferungsprozesse zusätzlich in Rechnung zu stellen. Auch bei "q/Q"-Texten ist keineswegs stets von einer identischen, schriftlichen Vorlage auszugehen. Bei dem, was gegenwärtig zuweilen unter "Q" subsumiert wird, kann es sich vielmehr um ganz unterschiedliche Phänomene handeln. Die Zweiquellentheorie erweist sich deshalb als heuristisches Instrument zur Klärung bestimmter Phänomene der synoptischen Evangelien, ist jedoch kein allein erklärungskräftiges Modell ihrer Entstehung.

Kapitel 9 beleuchtet den historischen Kontext Jesu. D. stellt Vielfalt und gemeinsame Überzeugungen des Judentums der hellenistisch-römischen Zeit heraus und ordnet Jesus unter Berücksichtigung der neueren archäologischen Forschungen in das Galiläa des ersten Jh.s ein. Gegenüber früher vorherrschenden Auffassungen wird die jüdische Prägung Galiläas betont; die Herrschaftszeit des Antipas sei nicht von Aufständen, sondern von Stabilität gekennzeichnet gewesen, was sich auch in den Evangelien widerspiegle.

Teil III heißt "The Mission of Jesus" und behandelt Jesu Verhältnis zum Täufer, die Verkündigung der Gottesherrschaft, die Frage nach den Adressaten seiner Botschaft sowie die Gründung der Nachfolgegemeinschaft. Jesus habe mit der Rede von der Gottesherrschaft eine Metapher verwandt, die die Wirklichkeit Gottes in der Spannung von Zukünftigkeit und Gegenwart zur Sprache bringe. Seine Botschaft ziele auf die Wiederherstellung Israels, was durch den Zwölferkreis als engste Gruppe um Jesus symbolisch veranschaulicht werde. Dies verlange Leben in der konsequenten Nachfolge, die auch Leiden und Bruch mit bisherigen Bindungen einschließen könne. Das Gesetz werde vom Liebesgebot her ausgelegt, was seine abgrenzende Funktion in Frage gestellt und damit zu den in den Evangelien berichteten Konflikten geführt habe.

Teil IV befasst sich mit der im Wirken Jesu angelegten "impliziten Christologie" (den Ausdruck verwendet D. nicht, entfaltet jedoch das damit Gemeinte): der Frage nach der Wahrnehmung Jesu durch andere sowie seinem Selbstverständnis. Die verschiedenen, auf Jesus angewandten- bzw., wie im Falle des Menschensohnausdrucks, von ihm selbst gebrauchten - Hoheitsbezeichnungen seien nicht als nebeneinander stehende oder gar miteinander konkurrierende Konzepte, sondern als einander ergänzende Interpretationen aufzufassen. Die Autorität, mit der Jesus im Namen Gottes aufgetreten sei, habe wesentlich zur Entstehung des Glaubens an ihn beigetragen, der sich in den Hoheitsbezeichnungen Ausdruck verschafft habe. D. knüpft hier an neuere Überlegungen zur Christologie an, die gezeigt haben, dass es sich bei diesen Bezeichnungen nicht um feste Konzepte handelt, sie zudem bei ihrer Anwendung auf Jesus bzw. der Verwendung durch ihn selbst inhaltlich neu gefüllt wurden.

Der letzte Teil, "The Climax of Jesus' Mission", behandelt Passion und Auferweckung und resümiert abschließend noch einmal das Konzept des "Jesus remembered". Die Passionsereignisse müssten im Kontext der Wirksamkeit Jesu gedeutet werden. Auch wenn sich gerade an dieser Stelle die Frage nach authentischen Jesusworten besonders schwierig gestalte, lasse die Überlieferung erkennen, dass Jesus seinen Tod bewusst in Kauf genommen habe. Weitergehende Annahmen der Deutung seines Todes - etwa als leidender Menschensohn oder als leidender Gottesknecht nach dem Vorbild von Jes 53 - bleiben spekulativ. Die Überlieferung gibt hier vermutlich weniger her, als es bei D. den Anschein hat. Ob der Einfluss von Jes 53 auf die Deutung des Todes Jesu im Urchristentum tatsächlich "very influential" war (811), wäre noch einmal zu prüfen und wird durch Anm. 222 (ebd.) schwerlich belegt. Auch zwischen Jes 53,10 f. und Mk 10,45 bestehen kaum Beziehungen, die sich als "certainly striking" bezeichnen lassen. An dieser Stelle ist das Gespräch weiterzuführen.

Abschließend behandelt D. die Auferstehung, da die Evangelien ihre Jesuserzählungen nicht mit dem Kreuz, sondern mit leerem Grab und Erscheinungen des Auferstandenen enden lassen. Nur auf dieser Basis sei deshalb auch die Entstehung des Christentums, wie sie in den folgenden Bänden dargestellt werden soll, nachzuzeichnen.

D.s Darstellung nötigt in hohem Maße Respekt ab. Sie bewegt sich durchgehend auf dem aktuellen Forschungsstand und bezieht bei umstrittenen Fragen klare und zugleich abgewogene Positionen. Die Darstellungsweise verlangt häufig einen langen Atem, weil D. ausführlich Texte und Thesen der Forschung zu den verschiedenen Problembereichen bespricht, bevor er ein Fazit formuliert. Dies erschwert es mitunter, die Hauptlinie der Argumentation im Auge zu behalten, hat aber andererseits den Vorteil, dass die vertretenen Auffassungen nachvollziehbar und gut begründet sind. Mitunter hätte die Darstellung freilich gestrafft werden können, zumal sie sich häufig im Rahmen des weithin Akzeptierten bewegt.

Eine besondere Stärke liegt in der Beachtung der erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Probleme der historisch-kritischen Forschung. Darin erweist sich der Entwurf in der gegenwärtigen Diskussion über die Grenzen der neutestamentlichen Fachdiskussion hinaus als wegweisend. Zugleich unterscheidet es ihn von etlichen anderen Jesusbüchern der letzten Jahre, die eine derartige Reflexion vermissen lassen.

D. ist sich der Tatsache bewusst, dass jeder geschichtliche Entwurf Aneignung der Vergangenheit aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart ist, und entwirft eingedenk dessen ein Bild von den Anfängen des christlichen Glaubens als Rezeption des Wirkens Jesu. Diejenigen Ansätze der neueren Jesusforschung, die die "historische Wirklichkeit" unter Absehung von den urchristlichen Rezeptionsvorgängen zu erheben suchen, werden dabei unter ein kritisches Vorzeichen gestellt: "There is no such Jesus" hält ihnen D. entgegen (126), ein Jesus, der die in den Texten bezeugten Wirkungen hervorgerufen habe, sei indes durch historische Forschung sowie eine an Gadamer orientierte, wirkungsgeschichtlich ausgerichteten Hermeneutik sehr wohl einsichtig zu machen.

Dass das von D. entworfene Jesusbild durch die Orientierung an den Synoptikern eher "traditionell" wirkt, spricht in keiner Weise gegen seine Plausibilität - im Gegenteil. Hat die Forschung an den nichtkanonischen christlichen Quellen in den zurückliegenden Jahren zu dem Ergebnis geführt, dass es sich bei diesen um spätere, die synoptischen Evangelien voraussetzende Texte handelt, legt sich die an den Synoptikern gewonnene Einzeichnung des Wirkens Jesu in ein die neueren archäologischen Forschungen berücksichtigendes Bild Galiläas für die historische Jesusforschung nahe.

Man wünscht dem Buch eine breite Rezeption, nicht nur durch die Fachkollegen. Dem könnte allerdings der Umfang von über 1000 Seiten dichter Information und Argumentation abträglich sein. Eine gekürzte Version, die z. B. die mitunter sehr ausführlichen Darstellungen der Forschungswege komprimiert, könnte dem vermutlich entgegenwirken.