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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

25–29

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

1) Doeker, Andrea 2) Schnocks, Johannes

Titel/Untertitel:

1) Die Funktion der Gottesrede in den Psalmen. Eine poetologische Untersuchung.

2) Vergänglichkeit und Gottesherrschaft. Studien zu Psalm 90 und dem vierten Psalmenbuch.

Verlag:

1) Berlin-Wien: Philo 2002. XII, 335 S. gr.8 = Bonner Biblische Beiträge, 135. Geb. Euro 49,00. ISBN 3-8257-0287-1.

2) Berlin-Wien: Philo 2002. 322 S. m. Tab. gr.8 = Bonner Biblische Beiträge, 140. Geb. Euro 49,80. ISBN 3-8257-0321-5.

Rezensent:

Markus Saur

Dass die Psalmenforschung einen enormen Aufschwung genommen hat, zeigt sich nicht nur an den neueren Psalmenkommentaren von Klaus Seybold (HAT 1996) oder Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger (NEB 1993; HThKAT 2000), sondern auch an einer Fülle von Monographien, die in letzter Zeit zu verschiedenen Problemen der Psalmenforschung erarbeitet wurden. Während im Umfeld der Kommentierung von Hossfeld/Zenger die Frage nach den übergreifenden Strukturen innerhalb des Psalters als eines Buches wieder ganz neu in das Bewusstsein der Forschung getreten ist, hat der Kommentar und nun auch die "Poetik der Psalmen" (2003) von Seybold die poetische Gestaltung der Einzelpsalmen zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Zwischen diesen beiden Polen - Psalterforschung und Einzelpsalmexegese - bewegt sich die gegenwärtige Forschungsarbeit an den Psalmen.

Die beiden bei Heinz-Josef Fabry in Bonn erarbeiteten Dissertationen von Andrea Doeker und Johannes Schnocks lassen sich in diesem Rahmen recht gut verorten: Während D. sich eher der Frage nach der Poetologie stellt, untersucht Sch. ausgehend von Ps 90 die Strukturen innerhalb des vierten Psalmenbuches.

Zunächst zu D.s Arbeit zur Funktion der Gottesrede in den Psalmen. D. geht in ihrer Untersuchung klassisch vor: Nach einer Einleitung (1 ff.), in der die Problemstellung der Arbeit skizziert wird, einem Forschungsüberblick (5 ff.), in dem sie sich vor allem mit der These einer hinter den Psalmen stehenden Kultprophetie auseinander setzt, und einigen knappen hermeneutischen Überlegungen (42 ff.), in denen sie ihre Hinwendung zur Poetologie und zum masoretischen Endtext der Psalmen begründet, sich gegen die historische Auslegung der Psalmtexte abgrenzt - ohne freilich diese Methodik grundsätzlich abzulehnen ("Von der Poetologie erwarte ich einen unverstellten Blick auf die reine Textebene und einen adäquaten Umgang mit der lyrischen Form der Psalmen." [51]) - und ihr Ziel, "einen neuen Zugang zu den Psalmen mit Gottesrede zu bekommen, der nicht durch außertextliche Annahmen verstellt ist, sondern der aus den Texten selber entwickelt worden ist" (51), formuliert, folgen im vierten Kapitel - dem Hauptteil der Arbeit - 20 umfangreiche Textanalysen der Psalmen mit Gottesrede. D. unterscheidet hier "Psalmen mit Gottesreden, die etwas festschreiben" (Pss 2; 82; 105; 110; 132) (63 ff.), "Psalmen mit Gottesreden, die etwas für den einzelnen verändern" (Pss 12; 27; 32; 35; 75; 91) (123 ff.), "Psalmen mit Gottesrede, die etwas für das Volk verändern" (Pss 46; 60; 68; 81; 89; 90; 95; 108) (186 ff.), sowie einen multifunktionalen Psalm, nämlich Ps 50 (265 ff.). Ausgehend von ihren Analysen differenziert D. im fünften Kapitel (288 ff.) zwischen kohortativen, therapeutischen, paränetischen, legitimierenden und idiographischen Funktionen der untersuchten Gottesreden, um im sechsten Kapitel (303 ff.) den Ertrag ihrer Untersuchung zusammenzustellen und neben dem Gottesbild der Psalmen noch einmal die Frage nach dem - für D. fraglichen - Verhältnis von Psalmen und Prophetie aufzugreifen. Außerdem fragt sie - erstaunlicherweise trotz ihrer anfangs ablehnenden Haltung: "Historische Fragestellungen, wie diejenige nach dem Trägerkreis der Texte, sollen damit hingegen nicht beantwortet werden." (51) - nach der Trägergruppe der Psalmen mit Gottesrede und skizziert die Bedeutung dieser Psalmen für den Gesamtpsalter.

Es sollen hier nur zwei Aspekte der Arbeit D.s kritischer betrachtet werden, die für das Gesamtprofil der Untersuchung von Bedeutung sind. Zum einen scheint sich die Frage nach der literarhistorischen Genese und Verortung der Psalmen nicht so einfach beiseite schieben zu lassen, wie D. die Leserinnen und Leser ihrer Arbeit zu Beginn glauben machen will.

Das zeigt sich insbesondere daran, dass fast alle Einzelanalysen der Psalmen mit Gottesrede auch Ausführungen zur historischen Verortung der Texte enthalten; hier schließt sich D. aber in vielen Fällen ohne genauere Prüfung und Abwägung der Argumente bestimmten Forschungspositionen an (vgl. hier insbesondere zu Ps 82 S. 91, zu Ps 110 S. 107 und vor allem zu Ps 108 S. 262). Wenn schon kein Interesse an der historischen Verortung der Texte besteht, warum dann diese Ausführungen? Kann man Exegese vielleicht doch nicht anders denn als historische Exegese betreiben, und spielt "die Möglichkeit von Textwachstum oder redaktionellen Eingriffen" (51, Anm. 29) vielleicht für die Fragestellung D.s doch eine größere Rolle, als von ihr vermutet?

Zum anderen ist die durchgehende Bestreitung der Verbindung einer Reihe von Psalmen mit der Prophetie bzw. der prophetischen Tradition nicht nachzuvollziehen.

D. muss selbst an mehreren Stellen einräumen, dass sich die Nähe der Psalmen mit Gottesrede zu prophetischen Vorstellungen und Redeweisen nicht leugnen lässt - wie etwa bei der Verwendung der Gottesspruchformel n'm jhwh in Ps 110,1: "Diese prophetische Konnotation besteht aber nur formal und wird nicht durch inhaltliche Aussagen der Gottesrede eingeholt." (109; vgl. dazu aber 308, Anm. 11) Kann man das wirklich so sehen, wenn man Ps 110 als - in nachexilischer Zeit messianisch zu lesenden - Königspsalm ernst nimmt und zudem die Nähe von Ps 110,5 f. zu Völkerkampf- und Tag-Jahwes-Motiven etwa in den prophetischen Texten Sach 14 und Joel 4 beachtet? Ähnliche Fragen ergeben sich bei der Verwendung des prophetischen Begriffs hzwn in Ps 89,20 (vgl. zur prophetischen Verortung nur die Überschrift des Jesajabuches Jes 1,1): Hat der Begriff hier wirklich "nicht den Anspruch, eine prophetische Vision einzuleiten" (232)? Wenn D. meint, dass "die Psalmen keinen durchgehenden typisch prophetischen Sprachgebrauch" (308) aufweisen, ist ihr sicherlich Recht zu geben: Durchgehend ist innerhalb des Psalters überhaupt kein typischer Sprachgebrauch; aber dass durchgehend kein einziger Psalm prophetische Prägung aufweise, wird man deshalb nicht behaupten können. Dass mit der Annahme prophetischer Prägung poetischer Texte nicht zugleich die These kultprophetischer Verwendung der Psalmen einhergeht - gegen die D. sich mit großem Engagement wendet-, versteht sich doch von selbst! Gegen wen oder was sich D. richtet, scheint erst am Ende auf: "Die theologische Blickrichtung läßt erkennen, daß Gottes Wort im Menschenwort vermittelbar ist und es nicht einer speziellen Vermittlung, z. B. durch die Prophetie, bedarf, dieses zu verstehen." (315) Wie wäre es aber nun, wenn man Prophetie nicht als autoritär verwaltetes und kultisch vermitteltes Gotteswort verstünde, sondern als menschliche Gegenwartsanalyse und Gegenwartskritik im Angesicht Gottes und der Mitmenschen?

Die meisten der Druckfehler in der Arbeit wären mit einem normalen Rechtschreibprogramm schnell gefunden worden. Ein Literatur- und ein Abkürzungsverzeichnis stehen am Ende des Bandes, dessen Erschließbarkeit ein Stellenregister gedient hätte.

Von der Arbeit D.s unterscheidet sich in Anlage und Durchführung grundlegend die Monographie von Sch. zu Ps 90 und dem vierten Psalmenbuch. Nach einer knappen Einleitung (15 f.) führt Sch. im ersten Hauptteil seiner Arbeit zunächst eine detaillierte Analyse von Ps 90 durch (17 ff.), bei der er jeden einzelnen der 17 Verse textkritisch, syntaktisch und poetisch unter die Lupe nimmt. Mit Hilfe dieses Vorgehens verschafft sich Sch. eine klare Grundlage für die folgenden Überlegungen zur synchronen Makrostruktur. Sch. sieht innerhalb des Psalmtextes "Einschnitte nach den vv.2.6.10.12.16." (127) Neben chiastischen Gestaltungsmitteln weist Sch. unter anderem auf ein Palindrom hin, das V. 1 (m'wn) und V. 17 (n'm) miteinander vernetze; auch wenn man hier die mater lectionis in V. 1, das waw, großzügig eliminieren muss, um das Palindrom erkennen zu können, zeigt sich an diesem Detailbeispiel der Argumentation die Originalität der Beobachtungen, die Sch. in seiner Arbeit zusammenträgt. Im Blick auf diachrone Ansätze zu Ps 90 meint er, dass auf der Basis der Strukturbeobachtungen "von der Einheitlichkeit des Psalms ausgegangen werden" (144) kann. Eine theologische Reflexion der Zeitproblematik und eine Kommentierung von Ps 90 schließen den ersten Hauptteil der Arbeit ab; Sch. kommt dabei zu dem Ergebnis, das Gott nach Ps 90 den verstreichenden Zeitläuften "von außen gegenwärtig ist" (163), während der Mensch "das Verrinnen der Zeit als stetige Verkürzung der Zeit bis zum Tod erlebt [...], und daß so das Anhalten schlechter Lebensumstände als ständige Verkürzung einer für die Zukunft erhofften Lebenszeit erscheint. Mit der Verringerung der Zeit wächst ihre empfundene Beschleunigung" (164). Wichtig seien vor allem V. 11 f., das Zentrum des Psalms: Hier "erkennt der Psalm die Unverfügbarkeit Gottes wie auch der menschlichen Existenz an" (175). Im zweiten Hauptteil seiner Monographie wendet sich Sch. dem vierten Psalmenbuch und seiner Struktur zu (179 ff.); er geht dabei auf den Qumranbefund ein, vergleicht das vierte Psalmenbuch mit den Mosegebeten des Pentateuchs und betrachtet sowohl die Kleingruppe Ps 90-92 als auch die größere Einheit der Jahwe-Königspsalmen. Im Mittelpunkt steht ein Durchgang durch die 17 Psalmen des vierten Psalmenbuches, die - freilich nur skizzenartig - literarkritisch und im Blick auf ihre Positionierung betrachtet werden. Auf der Grundlage dieser großflächigen Exegese stellt Sch. dann drei Modelle der "Entstehung des vierten Psalmenbuchs als Fortschreibung des sog. messianischen Psalters Ps 2-89" (252) vor: 1. Die Annahme eines sukzessiven Wachstums von Ps 90-106 weist Sch. mit dem Hinweis darauf zurück, "daß sich Ps 90-92 als eine wenig befriedigende erste Fortschreibung des messianischen Psalters erwiesen haben und daß die redaktionelle Erweiterung von Ps 102 nicht stimmig zu erklären ist." (258) 2. Die These, die Jahwe-Königspsalmen Ps93-100* seien die primäre Fortschreibung, lehnt Sch. auf Grund der Lexembeziehungen zwischen Ps 90-92; 102 f. und Ps 93-100* ab: Sein komplexer Befund führt Sch. zu der Erklärung, "daß der Grundbestand der JHWH-Königspsalmen als bewußter Gegenentwurf in die schon aus Ps 90-92; 102 f. bestehende Fortschreibung eingebunden und mit geeigneten redaktionellen Zusätzen verklammert wurde." (260) Damit ist man auf das von Sch. favorisierte Entstehungsmodell verwiesen: 3. Die Beziehungen zwischen Ps 90-92; 102 f., in denen die Reflexion der conditio humana und die "Begrenztheit und Unverfügbarkeit des Lebens" (265) wesentlich sind, zeigen, dass man es in Ps 90-92; 102 f. mit der primären Fortschreibung zu tun hat, die als Antwort auf die individuelle und kollektive Gottesfrage am Ende des messianischen Psalters gelesen werden kann. Diese Antwort wird erst auf einer zweiten Stufe durch die- später redaktionell überarbeiteten - Jahwe-Königspsalmen ergänzt und dann noch mehrfach fortgeschrieben. Im Blick auf die Datierung meint Sch., "daß man den Abschluß des vierten Psalmenbuchs zeitlich nicht vor der zweiten Hälfte des 3. Jh. v.Chr. ansetzen kann." Abgeschlossen wird die Studie mit einem kurzen zusammenfassenden Schlussteil, auf den dann eine Reihe wichtiger Tabellen zur Struktur von Ps 90 und des vierten Psalmenbuches, ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein Bibelstellenregister folgen.

Die stringente Argumentation Sch.s lässt nur wenig Raum für kritische Anmerkungen. Aber gerade im Blick auf den zweiten Hauptteil könnte man fragen, ob der Durchgang durch die Psalmen des vierten Psalmenbuches nicht zumindest durch eine entsprechende Betrachtung von Ps 89 hätte vorbereitet werden können, so dass die Trennlinie zwischen Ps 89 und Ps 90 ff. schärfere Konturen gewonnen hätte. Im Blick auf den Königspsalm 101 innerhalb des vierten Psalmenbuches hätten einige Hinweise zu der Funktion eines solchen Textes im Kontext der Jahwe-Königspsalmen das Profil der Trägergruppen der Fortschreibungen des vierten Psalmenbuches noch klarer konturieren können. Aber das sind nur Randbemerkungen, die den Ertrag der Arbeit nicht beeinträchtigen und ihre Bedeutung für die weitere Diskussion um die Komposition des Psalters im Allgemeinen und die Entstehung des vierten Psalmenbuches im Speziellen nicht schmälern sollen. Ähnliches gilt für den ersten Hauptteil, der in der weiteren Forschung zu Ps 90 auf Grund seiner detaillierten Diskussion der sprachlichen und stilistischen Fragen nicht übergangen werden kann.

Die wenigen Druckfehler stehen der guten Lesbarkeit der Arbeit nicht im Wege. Auf S. 138 wird Gerhard von Rads Aufsatz zu Ps 90 im Jahr 1974 verortet (vgl. 309, wo der entsprechende Literaturnachweis auf einen Sammelband aus demselben Jahr verweist, der der Angabe zufolge sowohl von von Rad als auch von Odil Hannes Steck herausgegeben wurde); tatsächlich geht der Aufsatz auf ein Vortragsmanuskript aus dem Jahr 1963 zurück; von Rad verstarb im Jahr 1971, Odil Hannes Steck gab den Sammelband dann 1974 heraus.