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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

631–633

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schröder, Markus

Titel/Untertitel:

Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. X, 257 S. gr. 8 = Beiträge zur Historischen Theologie, 96. Lw. DM 168,-. ISBN 3-16-146595-4.

Rezensent:

Martin Ohst

Die im WS 1994/95 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg angenommene Dissertation treibt auf höchstem sachlichen wie darstellerischen Niveau "Theologiegeschichte in systematischer Absicht" (E. Herms). Eine knappe, luzide Einleitung ordnet sowohl den Gegenstand selbst als auch das Interesse an ihm historisch ein:1 In der Geschichte der Frage nach dem Wesen des Christentums kommt Schleiermacher (Schl.) eine Sonderstellung zu, sofern er diese Frage von den "Reden" an dezidiert historisch gestellt und behandelt hat. In der Gegenwart drängt sich die Frage nach dem Wesen des Christentums erneut auf, nachdem sie unter der Wucht des Einspruchs der dialektischen Theologie zeitweise verstummt war.

Aus seinen großräumigen problemgeschichtlichen Überlegungen ergibt sich dem Vf. die Grundstruktur seiner Untersuchung: Ein erster Hauptteil (A.) zeichnet Schl.s "Einleitung" in die Glaubenslehre (in der Erstfassung von 1821) minutiös nach: Er rekonstruiert Schl.s Religionstheorie und gibt exakt deren Stellenwert im Gesamtgefüge des Werks an; seine ebenso entschiedene wie vornehme Auseinandersetzung mit anderen gegenwärtigen Forschungspositionen (48-55) macht deutlich, daß die neuerliche Detailanalyse dieses schon so vielfach erörterten Themas keineswegs überflüssig ist. Sodann zeigt er mit einem Vorblick auf die materiale Dogmatik (ein Kabinettstück!), wie Schl.s christologische Wesensbestimmung des Christentums als Formal- und Materialprinzip der Dogmatik fungiert. Endlich bestimmt er die Bedeutung der Wesensfrage für Schl.s Theologiebegriff - auf neue Weise (s. u.). Folgende charakteristische Züge von Schl.s Wesensbestimmung des Christentums arbeitet der Vf. in diesem ersten Durchgang heraus: Die Wesensbestimmung in der Einleitung in die Glaubenslehre unternimmt den Versuch, das Eigentümliche am historischen Christentum zu gewinnen, indem zum Zweck des Verstehens des vorgegebenen historischen Phänomens hoch reflektierte religionstheoretische und geschichtsphilosophische Kategorien in Anwendung gebracht werden. Die Intention des ganzen Verfahrens liegt darin, eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende und möglichst weit konsensfähige "Hermeneutik des faktischen Christentums" (26) mit all seinen inneren Disparatheiten und Widersprüchen zu gewinnen: Es soll eine wenn schon nicht allgemein konsensfähige, so doch zumindest diskutable Grundlage für die Verständigung über das Christentum erarbeitet werden - in einer Zeit, in der die hergebrachten Normierungs- und Identifikationsinstanzen wie Schrift und Bekenntnis durch die positionelle Pluralisierung in Kirche und Theologie selbst strittig geworden sind und deshalb keine positionsübergreifenden Grundkonsense mehr zu verbürgen vermögen. Dabei ist sich Schl., wie der Vf. herausarbeitet, durchaus der Tatsache bewußt, daß sein eigener Versuch der Wesensbestimmung in einer bestimmten kontingenten geschichtlichen Situation gründet und damit ebenso transitorisch ist wie diese selbst (vgl. 122).

Die beiden folgenden Hauptteile sind Problemen gewidmet, die in der "Einleitung" zwar angesprochen sind, aber von Schl. an anderen Stellen seines Gesamtwerks eingehender behandelt werden: Der zweite Hauptteil (B) untersucht umfassend die Wurzeln und Ausformungen der beiden erkenntnistheoretischen Grundelemente von Schleiermachers Wesensbestimmung, abstrakt-begriffliches Denken und Wahrnehmung historischer Tatsachen ("Spekulation" und "Empirie"). Der dritte Hauptteil (C) wendet sich demjenigen Problemknotenpunkt zu, an dem Schl.s spekulativ-kategoriale Arbeit und seine historische Bemühung in ihrer wechselseitig kritischen Bezogenheit aufeinander die entscheidende Probe auf ihre Stimmigkeit und Sachhaltigkeit ablegen müssen - "Wort und Geschichte Jesu in der Perspektive der Wesensproblematik".

Wer von Schl. etwas mehr kennt als ein paar behältliche Zitate, der merkt sofort, daß hier nichts weniger unternommen wird als der Versuch, von einem Zentralbegriff seines Denkens her eine neue Gesamtperspektive auf Schl.s Werk eröffnen. Und diesen hohen Anspruch hat der Vf. in vollauf überzeugender Weise eingelöst: In souveräner Kenntnis des Schl.schen Gesamtwerks bis in entlegene Verästelungen hinein und umfassend vertraut mit der älteren wie der neueren Forschungsliteratur, entwirft er ein Bild, das viele alte Mißverständnisse (hoffentlich nachhaltig) außer Kurs setzt (vgl. exemplarisch 50-68.200 mit Anm. 45) und wichtige neue Akzente setzt. Zwei seien etwas näher vorgestellt. In kritischer Anknüpfung an die maßgeblichen Arbeiten von H.-J. Birkner vermag der Vf. überzeugend darzulegen, daß Schl. die Theologie als positive Wissenschaft keineswegs allein "funktional" durch ihren kulturell-historisch vorgegebenen Zweckbezug ("Kirchenleitung") definiert und strukuriert, sondern daß daneben in seiner Theorie der Theologie noch ein materialer Gesichtspunkt wirksam ist, nämlich das von allen theologischen Disziplinen geteilte und jeweils unterschiedlich akzentuierte "Interesse am Christentum" (KD2 8L), dessen "prinzipielle Fassung" (107) eben die Wesensbestimmung des Christentums ist:

"Indem die Theologie die wissenschaftliche Reflexion auf ihren Gegenstand selbst vollzieht, ist sie mehr als bloße Theorie kirchenleitenden Handelns, da die Bestimmung des christlichen Prinzips nicht nach der Logik dieser Praxis, sondern nach der der allgemeinen Wissenschaft vollzogen wird" (ibd). Letztlich ist es allein durch diese materiale Einheit des Schl.schen Theologieprogramms verständlich, daß innerhalb seiner die
Historische Theologie quantitativ wie qualitativ eine höchst beachtliche Stellung einnimmt (vgl. 110). - Umgekehrt bedarf wiederum die Historische Theologie der begrifflich-spekulativ abgesicherten Wesensbestimmung des Christentums: "Die reflektierte Historie bedarf zur Gliederung ihres Stoffes und zur Rekonstruktion der vergangenen Sinngehalte des christlichen Glaubens eines kritisch ermittelten Konstruktionsprinzips" (114).

Unter den historisch-theologischen Disziplinen steht wegen der geschichtsphilosophischen Voraussetzung, "daß das Wesen einer geschichtlichen Erscheinung in den geschichtlichen Anfängen am reinsten zur Darstellung kommt" (115), die exegetische Theologie in besonderer Nähe zur Wesensbestimmung des Christentums. Und darum ist Schl.s historischer Umgang mit Wort und Geschichte Jesu schon rein systemimmanent der Ort, an dem sich die Tragfähigkeit seiner methodologisch-theoretischen und inhaltlich-materialen Ausführungen zum Wesen des Christentums erweisen muß.

Der Vf. gelangt hier zu ebenso differenzierten wie plausiblen Ergebnissen. In Übereinstimmung v. a. mit E. Hirsch und D. Lange macht er auf die historisch wie systematisch tief problematische Ausblendung der Anfechtung aus dem Jesus-Bild aufmerksam: "An dieser Stelle erliegt der Historiker Schleiermacher offenkundig seinen eigenen Voraussetzungen" (209). Er zeigt aber auch, daß der immer wieder pauschal gegen Schl. erhobene Vorwurf des "unhistorischen Konstruktivismus" am Grundproblem aller historischen Wahrnehmung vorbeigeht und deswegen ins Leere läuft. Der "Vorteil des Schleiermacherschen Ansatzes" sei gerade darin zu sehen, "daß der konstruktive Anteil allen historischen Verstehens als solcher durchsichtig und nachprüfbar gemacht wird. Im Gegensatz zum ungezügelten Wildwuchs mancher Jesus- oder Christusphantasien gibt Schleiermacher in seinem ,Leben Jesu’ das ihn leitende Vorverständnis bzw. den vorausgesetzten Konstruktionsrahmen klar zu erkennen und macht diesen so diskursfähig" (211). Die Frage nach "Schleiermachers Eignung zum Historiker"2 dürfte damit als positiv beantwortet gelten.

In markanten Schlußbemerkungen faßt der Vf. die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen und schlägt die Brücke zu den gegenwärtigen Aufgaben theologischer Theoriebildung. Ungeachtet der Tatsache, daß Schleiermachers Wesensbestimmung des Christentums aus heutiger Sicht begrifflich-konstruktiv wie empirisch-historisch deutliche Defizite aufweist, bleibt sie doch als klassische Fixierung der Aufgaben neuzeitlicher evangelischer Theologie bedeutsam: "In methodischer Hinsicht bleibt Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion insofern vorbildlich, als sie sich als Synthese zweier ,klassisch’-neuzeitlicher Theorieperspektiven verstehen läßt. Zum einen entfaltet Schleiermacher die Wesensbestimmung im Anschluß an einen subjektivitätstheoretischen Begriff der Religion, so daß das Wesen des Christentums als das des christlich-religiösen Selbstbewußtseins begreifbar wird. Zum anderen wird das Wesen des Christentums im engen Zusammenhang mit seiner Geschichte erhoben, so daß die historische Entwicklung der christlichen Religion als geschichtliche Realisierung der Erlösung darstellbar wird" (232).

Der Vf. hat eine Arbeit vorgelegt, die auf absehbare Zeit zu den Standardwerken der Schl.-Forschung gehören wird. Er selbst stellt sich als Theologe vor, der systematische und historische Interessen produktiv miteinander zu verbinden weiß - wo wird er wohl auf Dauer weiter arbeiten?

Fussnoten:

1 Daß H. R. Schulz, Johann Salomo Semlers Wesensbestimmung des Christentums, Würzburg 1988, nicht erwähnt wird, ist ein Schönheitsfehler.

2 H. Jursch, Schleiermacher als Kirchenhistoriker, Jena 1933, S. 6-8; s. auch den interessanten Exkurs "Schleiermachers historische Begabung im Urteil der Kritik", ibd. S. 92-97.