Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

3–16

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Ulrich, Jörg

Titel/Untertitel:

Innovative Apologetik Beobachtungen zur Originalität Justins am Beispiel der Lehre vom Logos spermatikos und anderer Befunde

Die Frage nach der Originalität bzw. nach dem innovativen Charakter der Theologie Justins1 bedarf zunächst einer Einordnung. Deshalb soll einleitend sowohl nach der Selbstsicht Justins hinsichtlich unserer Leitfrage als auch nach der Beurteilung durch die Tradition gelehrter Kommentierungen gefragt werden. Alsdann will ich an einem profilierten und in der wissenschaftlichen Debatte nach wie vor umstrittenen Beispiel, nämlich der Lehre vom Logos spermatikos, verdeutlichen, inwiefern im Blick auf einzelne Optionen der "philosophischen Theologie" Justins von Originalität die Rede sein kann. Den Abschluss sollen ergänzende Hinweise auf weitere Beispiele sowie eine kurze Bewertung bilden.

I.

Wenn man Justin zu seiner Zeit gefragt hätte, ob er sich selbst als theologisch originell ansehe, hätte er sicherlich mit "Nein" geantwortet. Das ist auch nicht anders denkbar, setzt man das Justin umgebende und prägende, sich im paganen und feindlich gesinnten Umfeld gerade mit Mühe etablierende Christentum als Referenzgröße an. Justin bewegt sich ganz selbstverständlich im Kontext der Weitervermittlung christlichen Lehrgutes über Lehrerpersönlichkeiten und Schulen. Dieser Vorgang führt notwendigerweise auf den Begriff der Tradition. So wie in der platonisch-philosophischen Ausbildung selbstverständlich die Autorität und die Traditionen Platons im Vordergrund stehen, greift auch die christliche Übermittlung von Lehrgut auf das Autoritäts- und Traditionsprinzip zurück, das der Person des jeweiligen Lehrenden Autorität und Glaubwürdigkeit verleiht.2 Der christliche Lehrer beansprucht deshalb gerade keine Originalität, sondern verweist ganz im Gegenteil darauf, den dargebotenen Stoff so weiterzutradieren, wie er selbst ihn gelernt hat. Im Dialog mit Tryphon schreibt Justin: "Und wenn ich dies nun zu euch sage, obwohl ich es schon oft wiederholt habe, so weiß ich doch, dass es nicht unangemessen ist, dies zu tun: Es wäre ja doch lächerlich, wenn ausgerechnet der, der den Unterricht aus den prophetischen Schriften erteilt, nicht immer dieselben Schriften läse, sondern meinte, er selbst bringe etwas Besseres zum Ausdruck, wo wir doch sehen, dass Sonne, Mond und die übrigen Sterne stets den gleichen Weg gehen, um die Wiederkehr der Jahreszeiten zu bringen, und dass der Rechenlehrer, so oft er gefragt wird, was zwei mal zwei ist, nicht aufhören wird, zu sagen, dass es vier sind, nur weil er schon wiederholt die Antwort vier gegeben hat, und dass ebenso all die anderen Dinge, die mit Bestimmtheit zugegeben werden, immer wieder in gleicher Weise gesagt und zugegeben werden."3 In der Generation Justins liegt also bereits eine "orthodoxe Traditionslinie" christlicher Überlieferung vor, auf die ein christlicher Lehrer sich einerseits mit Erfolg berufen und von der er sich andererseits nicht dispensieren kann, ohne seine Autorität zu gefährden und einzubüßen.4

Aber auch im Blick auf den Anschluss an die ihn umgebende philosophische Umwelt und ihre entsprechenden Traditionen kann sich der Christ Justin nicht oder jedenfalls nur in gewisser Weise als originell ansehen. Peter Pilhofers wichtige Arbeit "Presbyteron kreitton" hat uns eindrucksvoll sehen gelehrt, wie sehr die antike Grundauffassung, dass das Ältere stets das Bessere ist, auch von den Christen bei Anlage und Ausgestaltung ihrer apologetischen Argumentationsfiguren vorausgesetzt und umgesetzt ist.5 Justin durfte sich also auch bei den von ihm unternommenen Gesprächsversuchen mit den paganen Kritikern des Christentums keineswegs als "Neuerer" geben, wollte er bestehen können. In seiner 2. Apologie notiert er: "Als Christ erfunden zu werden ist nun aber, ich gestehe es, Gegenstand meines Gebetes und meines angestrengten Strebens, womit ich nicht sagen will, dass Platos Lehren völlig von denen des Christus abweichen, sondern nur, dass sie ihnen nicht durchweg gleichkommen und ebenso wenig die der Stoiker, Dichter und Geschichtsschreiber. Denn jeder hat, soweit er aufgrund des in ihm vorhandenen Teils des göttlichen Logos spermatikos das mit ihm Verwandte [= die Wahrheit] sah, richtige Aussprüche getan; soweit sie selbst sich aber in wichtigeren Dingen widersprachen, haben sie offenbar kein sicheres Wissen und keine unfehlbaren Erkenntnisse besessen."6 Dieses Zitat zeigt nun allerdings nicht nur das Bemühen um Anschlussfähigkeit, sondern darüber hinaus auch, dass Justin bei aller Betonung der Kontinuität zwischen den Lehren Platons und denen der Christen ohne Abstriche auf die Überbietung aller konkurrierenden Lehren durch das Christentum insistiert. Es geht ihm also nicht einfach um eine Versöhnung der griechischen Philosophie mit der christlichen Botschaft, sondern vielmehr gilt: Solange es die pagane Philosophie noch gibt, kann der christliche Glaube als die einzig wahre Philosophie an die existierenden Philosophenschulen und die je von ihnen erfassten Teilwahrheiten anschließen. Er überbietet diese aber zugleich in puncto Wahrheit und Binnenkonsistenz. Bei allem wohl begründeten Bemühen um das Aufzeigen von parallelen Gedanken und Lehren verwirft Justin letztlich jede "philosophische Philosophie" zu Gunsten des Glaubens. Er geht von einem Absolutheitsanspruch des Christentums aus,7 und in diesem Sinne ist das Christentum - und damit Justins eigenes Denken und Lehren - in der Tat für ihn in gewisser Weise originell: nämlich einzigartig, konkurrenzlos und eigenständig.

In der Beurteilung der Apologeten im Allgemeinen und Justins im Besonderen durch die gelehrte christliche Historiographie der Neuzeit hat lange Zeit eine Grundlinie dominiert, die weniger nach der gedanklichen Eigenständigkeit Justins gefragt hat, sondern vielmehr nach der theologischen Legitimität oder Illegitimität einer Entwicklung weg vom "ursprünglichen Christentum" hin zur Theologie der Apologeten. Diese mit dem Namen Adolf von Harnacks verbundene "Hellenisierungsfrage" hat neben dem Problem, dass sie im Grunde mit einem relativ schlichten Dekadenzmodell arbeitet, zusätzlich das Manko, dass sie die Frage nach der theologischen Eigenständigkeit der Apologeten bzw. Justins wegen ihres Interesses an deren Verwurzelung im hellenistisch-philosophischen Denken etwas zu schnell überblättert. Ich will mir in diesem Zusammenhang nur kurz den Hinweis erlauben, dass es sich hierbei offensichtlich um ein weitgehend innerprotestantisches Phänomen handelt: Die Kritik findet sich in ihrer Weise schon beim radikalen Pietisten Gottfried Arnold in seiner "Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie"8, dann, in der Analyse durchaus ähnlich, wenngleich milder und verständnisvoller im Urteil, beim Aufklärer Johann Salomo Semler,9 schärfer wiederum diskreditiert bei Albrecht Ritschl,10 schließlich in einer sehr grundsätzlichen Weise negativ bewertet bei Adolf von Harnack und bei Friedrich Loofs11 und dann auch in der Dialektischen Theologie. Demgegenüber hat die neuere Forschung die "Begegnung des biblischen Glaubens mit dem griechischen Geist"12 grundsätzlich wieder neu als notwendigen und in seiner Weise auch folgerichtigen Schritt sehen gelehrt und damit den positiven Blick auch auf die theologischen Unternehmungen der Apologeten des zweiten Jh.s neu geöffnet. In diesem Zusammenhang ist aus der Fülle der neuen Literatur auf die 2000 ersterschienene Überblicksdarstellung von Fiedrowicz ebenso zu verweisen wie auf die zahlreichen Spezialuntersuchungen zu Justin selbst, die sich mit den Namen L. W. Barnard, C. Munier, O. Skarsaune, W. Wartelle und vielen anderen verbinden und die im neuen RAC-Artikel von S. Heid eine konzise Zusammenfassung und Weiterführung erfahren haben.13 Die neuen, freilich nicht unkritisch zu benutzenden Editionen des Dialoges und der Apologien Justins durch M. Marcovich sind in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie die Übersetzungen und Kommentierungen der jüngeren Zeit.14 Die in unserem Zusammenhang interessierende Frage nach der theologischen Originalität Justins ist so meines Wissens erstmals von Karl Bayer in dessen erläuterter Auswahlausgabe der ersten Apologie aus dem Jahre 196615 und dann in dem von L. W. Barnard verfassten TRE-Artikel "Apologetik I: Alte Kirche" aufgeworfen worden, der 1978 erschien.16

II.

Charakteristisch für Justin ist seine Verwendung des Begriffes Logos spermatikos für das universale Wirken des Logos. Einschlägig sind 1. Apol. 44,9 f.; 2. Apol. 8,1; 2. Apol. 8,3; 2. Apol. 10,1-3; 2. Apol. 13,3:17 Ein denkender Mensch, der mit der Wahrheit teilweise übereinstimmt und dies zum Ausdruck bringt, hat, je nach Maß seiner Wahrheitserkenntnis, größeren oder geringeren Anteil an dem Logos, welcher in seiner Gesamtheit allein Jesus Christus innewohnte. Dieser Anteil ist eine Saat oder ein Keim der Wahrheit bzw. des Logos, den der säende Logos als Teil seiner selbst in die Herzen der Menschen ausgestreut hat, damit diese mit seiner Hilfe zur rechten Erkenntnis gelangen können. Es handelt sich um Prinzipien rechten Erkennens und Lebens, die, je nach Vermögen der jeweils Erkennenden, eine mehr oder weniger klare Wahrheitserkenntnis zeitigen, wenn auch keine vollständige, da die vollständige Erkenntnis erst seit dem Erscheinen des Vernunft-Logos in Christus möglich geworden ist. So konnte es durchaus "Christen vor Christus" geben, z. B. Sokrates. Auf diese Weise kann Justin alles, was in der heidnischen Literatur als gut und edel dargestellt worden war, als "christlich" reklamieren: "Alles, was bei allen richtig gesagt worden ist, gehört uns Christen" (2. Apol. 13,4). Damit kann Justin den paganen Vorwurf, dass all das, was am Christentum gut sei, sich schon lange vorher bei den Heiden finde, gleichsam umdrehen. Ein Problem freilich ist, dass sich eine ganz konsistente und widerspruchsfreie Handhabung des Begriffes vom Logos spermatikos bei Justin nicht finden lässt. Es verhält sich nämlich so, dass Justin einerseits den Logos spermatikos göttlich nennt (2. Apol. 13), dass er andererseits aber den Samen des Logos bzw. die Logos-Keime bzw. Keime der Wahrheit (1. Apol. 44) an anderen Stellen als menschliches Potenzial und damit als etwas vom göttlichen Logos Unterschiedenes beschreibt. Da er den Logos (nicht den Logos spermatikos) mit Christus identifiziert, stellt sich die Frage, wie er sich das Verhältnis zwischen dem Logos, der der Christus ist, dem Logos spermatikos, der göttlich ist, und den den Menschen innewohnenden Logos-Keimen bzw. Wahrheitskeimen denkt. Diese Frage erfährt im Blick auf die Texte Justins keine klare Lösung. Im Blick auf die kritische Stelle 2. Apol. 13 kann man nur festhalten, dass auch vor der Menschwerdung Christi jeder Mensch teilhatte an dem "säenden Logos", der in ihm einen Teil der Wahrheit bzw. der Vernunft bzw. einen Teil seiner selbst einsäte. Justin behauptet also die Anwesenheit eines Samens des Logos in der ganzen Menschheit, auch der vorchristlichen, wobei der Besitz dieses Samens für ihn mit der Kenntnis eines Teils der Wahrheit, also einer allgemeinen natürlichen Offenbarung, gleichbedeutend ist - eine relativ einfache Theorie.

Woher nahm Justin seine Theorie vom Logos spermatikos? Die Literatur zu dieser Frage ist kaum mehr übersehbar, und doch hat es im letzten halben Jh. einige besonders profilierte Herleitungsvorschläge gegeben, an die hier erinnert sein soll. Carl Andresen hatte (in den Spuren Pfättischs und anderer) Anfang der 50er Jahre des letzten Jh.s versucht, die Lehre vom Logos spermatikos am Gedanken der Keimkräfte im mittleren Platonismus festzumachen und Justins Auffassung von hierher zu erklären.18 Es liege im mittleren Platonismus eine Kontamination von Platon und Stoa vor, die das theologische Denken Justins beeinflusst habe. Diese Sichtweise hilft Andresen zunächst, die Tatsache zu erklären, dass Justin mit einer relativ heterogenen Fülle sowohl platonischer als auch stoischer Begriffe und Vorstellungen aufwartet. Für den Vorgang, dass die Idee von den "Keimkräften" aus der Stoa nur noch bildhaft-moralisch im Sinne der semina iustitiae interpretiert wird, macht Andresen den bei Cicero in der Schrift De finibus herangezogenen Antiochos von Askalon namhaft. Auch bei Areios Didymos findet er den Gedanken, dass die Menschen von Natur aus die "Anfänge und Samen" besitzen, die dann durch Sitten und rechte Umgangsformen vervollkommnet werden müssen. Was nun die konkrete Verankerung der Logos spermatikos-Auffassung im mittleren Platonismus angeht, weist Andresen auf eine Linie von Antiochos von Askalon, den bedeutenden Akademiker des ersten vorchristlichen Jh.s, auf den "das ausschließlich ethische Verständnis der Logoi spermatikoi zurückzuführen" sei, über Areios Didymos bis auf den Schulplatoniker Albinos hin.19 Andresen verweist ferner auf Apuleius von Madaura, De Platone II 3, wonach der Mensch gewisse Samen beider Dinge (sc.: der schlechten und der guten) in sich habe, die mit dem Ursprung seiner Geburt verbunden sind und die durch gezielte Ausbildung (educatio) in den anderen Teil hinüberleuchten (emicare) müssen. Der Gedanke des eingepflanzten Keimes in Kombination mit der Entwicklung durch Erziehung scheint in der Tat zunächst eine evidente Entsprechung zur Theorie Justins zu sein. Es läge dann bei Justin eine Übernahme der durch die Mittelplatoniker ethisierten und vergeistigten stoisch-stofflichen Keimkräfte- und Logosauffassung vor.

Man muss allerdings gegenüber den von Andresen genannten Belegstellen etwas Vorsicht walten lassen, findet sich doch der Terminus Logos spermatikos selbst dort nicht und auch sonst nicht im mittleren Platonismus des 2. Jh.s, und man muss wohl auch sagen, dass der Apuleius-Terminus semen utrarumque rerum insgesamt recht wenig besagt (und unter Umständen aus Cicero übernommen sein kann), worauf schon Waszink20 aufmerksam gemacht hat. Die Belegstellen sind also an Zahl wie an Tragkraft eher schwach. Hinzu kommt, dass das ausschließlich moralisch-ethische Verständnis der dem Menschen innewohnenden Keimkräfte, das Andresen bei Justin sieht, primär der Stelle 1. Apol. 44,9 gerecht wird, von der her Andresen auch tatsächlich argumentiert, nicht so sehr aber den einschlägigen Stellen in der 2. Apologie. Man wird also, so sehr die gesamte Studie von Andresen das In- und Miteinander von Platonismus und Stoa im zeitgenössischen geistigen Umfeld Justins hervorragend erhellt, den von ihm gezogenen Schluss "Es dürfte hinreichend bewiesen sein, wie das moralische Verständnis der Keimkräfte bei Justin seine Erklärung aus dem mittleren Platonismus erhält"21 nicht ohne weiteres als Herleitung der Logos-spermatikos-Lehre akzeptieren können.

Ragnar Holte hat demgegenüber (in den Spuren Goodenoughs und anderer) und in Reaktion auf Andresens Aufsatz gemeint, dass es sich bei der Logos-spermatikos-Vorstellung Justins um eine Übernahme von Philo von Alexandrien handele.22 In seinem 1958 erschienenen Beitrag weist Holte nachdrücklich darauf hin, dass dem Logos bei Philo von Alexandrien dieselben Attribute und Namen beigelegt werden, wie das auch bei Justin der Fall ist, und dass dieser Sachverhalt dann auch für die Frage nach der Herleitung der Bezeichnung Logos spermatikos stark in Erwägung gezogen werden müsse. Der in der Stoa noch als Prinzip sowohl des physischen als auch des spirituellen Lebens gebrauchte, materiell gedachte Logosbegriff sei bei Philo symbolisch-spirituell als Beschreibung für die Fähigkeit des Menschen zum Ethischen und Religiösen gebraucht, woraus Justin wiederum die spezielle Bedeutung einer natürlichen Offenbarung zur ethischen und religiösen Erkenntnis geprägt habe, die der Schöpfung implantiert sei und auf Grund derer der Mensch als verantwortlich vor Gott angesehen werden müsse.23 Die Erklärung hat gegenüber der Andresenschen zunächst den Vorzug, dass sie konkrete Textbelege für die Verwendung von Logos spermatikos außerhalb Justins beibringen kann. Aber auch sie ist nicht unproblematisch. Bei Philo taucht der Begriff selbst nämlich auch nur genau dreimal auf,24 und fragt man nach dem von Holte zu Grunde gelegten Verständnis der Beschreibung der Fähigkeit des Menschen zum Ethischen, reduziert sich der Befund gar auf eine Stelle. Die Basis für eine entsprechende Argumentation ist also ohnehin schon schmal, und zudem wird die Sache noch schwieriger, wenn man mit Wolfson und Waszink sieht, dass der äußere Zusammenhang bei Philo stets der der Fortpflanzung der Arten ist - bei Pflanzen und Tieren. Es handelt sich um ein in die Schöpfung implantiertes Prinzip des Wachsens und Keimens. Dabei betrachtet Philo von Alexandrien auch gar nicht den Logos als letzten Grund der Entstehung und Erhaltung von Tieren und Pflanzen, sondern Gott. Für Justin hingegen ist, anders als bei Philo, der Logos spermatikos ein in den einzelnen Menschen implantiertes Prinzip für die Teilhabe an religiöser und ethischer Erkenntnis, weswegen die Theorie vom Logos spermatikos in der Tat auch die Unentschuldbarkeit der Nicht-Erkennenden mit aufzuweisen vermag. Eine direkte Übernahme und Interpretation des Logos-spermatikos-Begriffes Philos oder gar der bei Philo hinter dem Begriff stehenden Ideen ist also nicht nachzuweisen und legt sich auch nicht nahe.

Jan Hendrik Waszink hatte nun, in einer gewissen Verfeinerung der Arbeiten Holtes und in einer Modifikation seiner Ergebnisse in einem Beitrag des Jahres 1964 gemeint,25 dass Justin nicht bloß eine, sondern eine dreifache Quelle für den Begriff Logos spermatikos und sein Verständnis habe: erstens die Stoiker, denen der Begriff geläufig war, wenn auch in erkennbar anderem Sinne als das bei den Justinbelegen der Fall ist; zweitens das biblische Gleichnis vom Sämann (Mt 13,1-9); drittens die Metapher vom Säen und Pflanzen, die insgesamt in der zeitgenössischen Gedankenwelt häufig vorkommt, insbesondere auch bei Philo von Alexandrien. In der Ausarbeitung des Begriffes hin zur bei Justin vorliegenden Theorie zeigten sich schließlich unverkennbare Einflüsse des mittleren Platonismus. Doch auch diese These von Waszink stößt auf Probleme: Denn so sehr Justin zweifellos sehr viel (werdendes) Neues Testament zitiert, ist doch ausgerechnet das Sämanngleichnis nirgends dabei und auch sonst keine "Sprüche" über den Sämann, wie sie aber in anderen Stellen in den Texten des frühen Christentums durchaus zu finden sind, z. B. 1Clem 24,4 f. und EvThom 9.26 Auch Philos Einfluss ist an keiner Stelle exakt zu belegen, oder jedenfalls kommt man nicht über die drei bei Holte aufgewiesenen Stellen hinaus, die, wie wir sahen, nur eingeschränkte Beweiskraft beanspruchen können. Stoischer Einfluss könnte sich nun allerdings nahe legen angesichts der Tatsache, dass der Begriff Logos spermatikos in der Stoa häufig vorkommt, und angesichts des Befundes, dass die 1. Apologie immerhin an Mark Aurel adressiert ist. Jedoch ist die Vorstellung vom Logos spermatikos bei Justin eine ganz andere. Denn in der Stoa verhält es sich so, dass die Logoi spermatikoi (Plural!) in im Grunde physikalischem Sinne als die Keimkräfte gedacht sind, die gemäß dem Vernunftgesetz die künftige Entwicklung der Naturdinge bestimmen - und dass es sich bei all dem um eine organische, natürliche, dynamische Entwicklung handelt. Bei Justin aber liegen die Dinge so, dass ein Same des Logos (Singular!) allen Menschen eingepflanzt ist, der durch sein statisch verstandenes Anwesendsein eine natürliche Erkenntnis ermöglicht und so bei manchen, z. B. Sokrates, dazu geführt habe, dass sie zum Teil die Wahrheit erfassten und den Logos, also den zeitlosen Christus selbst, erkannten. Das aber hebt den stoischen Gedanken einer organisch-physikalisch-natürlichen Entwicklung auf und setzt an seine Stelle die Idee vom in das Herz des Menschen eingestreuten Gottessamen. Man muss also mit der Rückführung des Begriffes Logos spermatikos auf die Stoa durchaus auch vorsichtig sein.

Schließlich hat Eric Osborn Anfang der 90er Jahre die Debatte neu aufgenommen. Auch Osborn optiert zu Gunsten einer stoischen Herleitung: "The idea of logos spermatikos is an integral part of Stoic philosophy."27 Osborn räumt in den Spuren Waszinks ein, dass die Parabel vom Sämann wie auch die Bilder vom Säen und Pflanzen zu Justins Idee beigetragen haben könnten, sieht aber den Stoizismus inhaltlich als Hauptquelle Justins an. Er macht auf Stellen bei Cicero aufmerksam, denen zufolge die göttliche Kraft in ratio, animus und mens angesiedelt ist. Im Kleantheshymnus wird gesagt, dass alle an einem einzigen ewigen Logos Anteil haben. Durch den Hinweis auf Stellen u. a. bei Sextus Empiricus kann Osborn zudem auch auf das Rationalitäts- bzw. Vernunftprinzip als Leitperspektive des Stoizismus verweisen, das ja auch bei Justin immer wieder im Vordergrund der apologetischen Argumentation steht. Aber auch hier muss man einwenden, dass das Prinzip der Rationalität im antiken Denken nicht exklusiv und auch nicht primär vom Stoizismus abgeleitet werden kann und dass die beigebrachten Stellen über die Einwohnung der göttlichen Kraft bzw. der Anteilnahme am Logos noch längst nicht der Denkfigur des Logos spermatikos bei Justin entsprechen und diese auch nicht präfigurieren. Die Herleitung der Logos-spermatikos-Auffassung von der Stoa als "chief source" bleibt also fraglich und ist zumindest als etwas zu einseitig anzusprechen. Es bleibt im Grunde nur der Befund, dass der Begriff Logos spermatikos im zeitgenössischen Umfeld Justins am besten in der Stoa belegt ist, was schon Waszink mit Recht unterstrichen hatte.

Man könnte mithin allenfalls sagen, dass Justin zwar den Begriff aus der Stoa entnahm, ihn aber durch die Verbindung mit dem Gedanken vom Sämann und inhaltlich durch die christologische Zuspitzung selbständig weiterentwickelte. Mag er den Begriff selbst der Stoa verdanken, mag er in der Wahl der Metapher an zeitgenössische Gedanken- und Bilderwelten anschließen, so war doch die Vorstellung vom Logos-Christus, der schon lange vor seiner Inkarnation den Menschen seine Keime einpflanzt und seinen Samen ins Herz streut, im Prinzip Justins eigene Schöpfung.28 Es ergibt sich mithin die begründete Vermutung, dass wir die theologische Originalität Justins höher einschätzen sollten, als es bislang üblich war. Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der philosophiegeschichtlichen Einordnung Justins, die Andresen noch so vehement gefordert hatte,29 wird sich jedenfalls nicht geben lassen, fasst man sowohl die rezeptorische Eklektizität als auch die gedankliche Eigenständigkeit des christlichen Philosophen und Märtyrers ins Auge. Dies kann unmittelbar übrigens auch im Blick auf einige Stellen in den Apologien gezeigt werden, in denen Zeugnisse der heidnischen "Dichter und Philosophen" recht unvermittelt und additiv nebeneinander stehen und die christliche Position diesen dann zugleich beigesellt und gegenübergestellt wird.30

Im Folgenden soll der bislang nur im Blick auf die Figur vom Logos spermatikos erhobene Befund um weitere Beispiele ergänzt und die Grundthese dadurch erhärtet werden.

III.

3.1 Der Beweisgang für die Lehre von der leiblichen Auferstehung in 1. Apol. 17-20

Man sieht am sorgsamen Aufbau von 1. Apol. 17-20, wie wichtig es Justin war, die Lehre von der leiblichen Auferstehung als rational beweisbar darzustellen. Das heißt nicht, dass er auf eine einheitliche Auferstehungslehre der Christen hinauswill, denn im Dialog mit Tryphon 80,2 räumt er offen ein, dass selbst unter den Christen der reinen und frommen Richtung über die Auferstehung verschiedene Vorstellungen im Umlauf seien. In der 1. Apol. geht es ihm um die Beweisbarkeit, wenigstens um den Beweis der Nicht-Unmöglichkeit der leiblichen Auferstehung, und zumindest darin stimmen die Christen aus seiner Sicht eben doch überein. Der Gedankenablauf stellt sich folgendermaßen dar: Einem allgemeinen Hinweis auf die Verantwortlichkeit aller Menschen (1. Apol. 17) folgt die These von der Postexistenz der Seele, die er als den Christen und Heiden gemeinsame Auffassung darstellt (1. Apol. 18). Erst dann wendet er sich der Postexistenz des Leibes zu, die er als die dezidiert christliche Auffassung einführt (1. Apol. 19). 1. Apol. 20 folgen die außerchristlichen Parallelen zum Weltgerichtsgedanken: Es erfolgt eine Ablehnung der stoischen Ekpyrosis-Auffassung (Weltenbrand ja, aber keine Palingenesie), die Unterstreichung der These, dass die Seelen der Ungerechten bestraft werden (analog zu den Auffassungen auch bei Dichtern und Philosophen), und die Summa, dass die Lehren der Christen mit denen der hochgehaltenen Philosophen teils übereinstimmen, teils aber noch großartiger sind. Sieht man sich vor diesem Hintergrund die Argumentation zu Gunsten der leiblichen Auferstehung an,31 so fällt Folgendes auf: Der "Beweisgang" (der immerhin zeigt, dass es keinen Grund gibt, nicht an die leibliche Auferstehung zu glauben) ist zwar durch Paulus angeregt (1Kor 15,52 f.), in der Durchführung jedoch eine eigenständige Leistung Justins.32 An die originelle Gedankenfolge schließt sich die Schriftstelle aus dem Lukasevangelium (Christus als Lehrer lehrt, dass bei Gott nichts unmöglich ist ...) als Beleg für die Nicht-Unmöglichkeit der leiblichen Auferstehung an. An der sorgsamen Ausarbeitung des Kapitels erkennt man, wie wichtig es Justin war, die der heidnischen Kritik besonders ausgesetzte Vorstellung von der leiblichen Auferstehung als rational nachvollziehbar darzustellen.

3.2 Die Grundzüge der Soteriologie(n) bei Justin

Sieht man die Christusaussagen in den Texten Justins an, so fällt Folgendes ins Auge: Es gibt im Ganzen zwei voneinander zu unterscheidende Linien des christologischen bzw. soteriologischen Kerygmas, die sich wenigstens zum Teil auch noch zeitlich unterscheiden lassen. In den etwas früher als der Dialog entstandenen Apologien findet sich ein ausgesprochen messianisch akzentuiertes Christus-Kerygma. Man kann das schon daran sehen, dass Aspekte wie Präexistenz oder Schöpfungsmittlerschaft in der Disposition des christologischen Teils (1. Apol 31,7) gar nicht genannt werden. Es geht vielmehr um das geschichtliche Eintreten der messianischen Weissagungen über Jesus und in Jesus: Jungfrauengeburt, Heilungen, Leiden, Tod, Auferstehung und Erhöhung. Oskar Skarsaune,33 der hier eine "kerygma source" postuliert, hat immer wieder darauf hingewiesen, dass dieses christologische Kerygma im intensiven Dialog und in intensiver Auseinandersetzung mit dem Judentum entwickelt worden ist. Zentraler Aspekt dieses Kerygmas ist das Kreuz Christi, wie es charakteristisch in einer Version von Psalm 95,10 LXX heißt: "Der Herr ist König geworden vom Holz her". Neben dieser christologischen Linie existiert bei Justin jedoch noch eine zweite, die sich nun aber nicht in den Apologien findet, sondern im Dialog mit dem Juden Tryphon (Dial. 48-107). In diesem Christus-Kerygma liegt der Akzent auf dem Gedanken der Wiederherstellung, der Rekapitulation. Christus ist hier der präexistente Schöpfungsmittler, als der erscheinende Gott in den alttestamentlichen Theophanien und als der wahre Sohn Gottes gesehen, der Adams Sünde rückgängig macht und den Teufel wie die Dämonen besiegt und den Menschen neues Leben und Neuschöpfung bringt. In dieser Linie liegt die spätere Rekapitulationslehre eines Irenäus im Grunde genommen schon in nuce vor (Skarsaune), auch wenn Justin den Begriff anakephalaiosis, den Irenäus dann bringt, selbst noch nicht verwendet. Die Frage ist, woher wiederum Justin diese Auffassung hat, sie ist ja gewiss nicht seine eigene theologische Erfindung - man denke nur an die Texte des werdenden Neuen Testaments.

Sieht man sich auf Basis der bahnbrechenden Arbeiten von Skarsaune das Material bei Justin genauer an, dann fällt Folgendes auf: Justin knüpft zwar an Rekapitulationsvorstellungen in neutestamentlichen Texten an, aber tut dies in einer höchst eigenständigen Weise. Das gilt sowohl für seine Paulusrezeption als auch für seinen Umgang mit Lukas. Denkt man etwa an die Adam-Christus-Typologie in Röm 5, stellt man fest, dass Justin erstens viel mehr "dämonologische" Elemente hat, die bei Paulus eigentlich keine Rolle spielen, und dass er zweitens auch das für Paulus so wichtige "pollo - mallon" weglässt, mit dem der Apostel die vielfache Überbietung des Falles Adams durch die stellvertretende Sühne Christi unterstreicht - für Justin geht es mithin "nur" um eine Wiederherstellung, nicht um eine gleichzeitige Überbietung. Stellt man Vergleiche mit der lukanischen Theologie an, kann man auf die Versuchungsgeschichte verweisen, in der Lukas das Konzept von Christus als zweitem Adam, Sohn Gottes, entfaltet: Zwischen die Taufe Jesu (Lk 3,21 f.: "Du bist mein lieber Sohn ...") und die Versuchung durch den Teufel hat Lukas die Genealogie Jesu eingewoben, die den Weg zurückverfolgt zu Adam, dem Sohne Gottes (3,38), und zielt dann ab auf die Anrede des Teufels ("Wenn Du der Sohn Gottes bist ..." 4,3). Justin kennt dieses Verfahren, dass man die Beziehung zwischen Adam und Christus über einen Titel zusätzlich unterstreicht, aber anders als Lukas tut er das Dial. 100,3 nun ausgerechnet über den Menschensohntitel - und legt bei der Versuchungsgeschichte großen Wert auf die Satan-Titulatur34, die wiederum bei Lukas keine Rolle spielt. Mit der einfachen Ableitung aus Quellen des werdenden Neuen Testaments kommt man also kaum weiter und mit dem Vergleich mit anderen erhaltenen christlichen Texten der Zeit auch nicht.

Man kann nun natürlich postulieren, dass Justin eine eigene Materialquelle gehabt haben muss, die uns heute nicht mehr vorliegt, welche sein Rekapitulationssoteriologiematerial beinhaltete (das ist die Lösung von Skarsaune), oder man kann, was mir methodisch einfacher und damit zumindest erwägenswert scheint, sagen, dass die Auswahl, Anordnung und Konzeptionierung des soteriologischen Materials in Dial. 48-107 als Justins eigene theologische Leistung anzuerkennen ist: gewiss fußend auf einer ihn umgebenden, lebendigen christlichen Denkart, die er aber so und nicht anders selbständig strukturiert und präsentiert hat.

3.3 Der Begriff photismos als Bezeichnung für die Taufe

Der Begriff photismos als Bezeichnung für die Taufe findet sich erstmals bei Justin.35 Joseph Ysebaert hat meines Wissens als Erster darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um ein eigenständiges terminologisches Vorgehen Justins handeln muss.36 Die berühmte Wendung kaleitai de tuto to lutron photismos (1. Apol 61,12) war lange Zeit dahingehend gedeutet worden, dass zu der Zeit Justins photismos bereits ein fester Terminus technicus für die Taufe gewesen sein müsse (Harnack, Hatch), aber Ysebaert hat gezeigt, dass diese Auffassung auf einer etwas überzogenen Interpretation des kaleitai beruht; kaleitai heißt bei Justinus ziemlich oft einfach einai. Das würde bedeuten, dass Justin den Begriff photismos selbständig auf die Taufe bezogen hat und ihn nicht als feststehenden Terminus technicus (der außer 1. Apol. 61,12 nirgends belegt wäre) kennt und benutzt. Jedenfalls bleibt der Begriff photismos bei Justin für den Eintritt in das Christentum, d. h. auf das Erlangen der vollständigen Wahrheit, reserviert.37

3.4 Der Begriff ekpyrosis als Bezeichnung

für das Endgericht

Die Bezeichnung ekpyrosis findet sich christlicherseits erstmals bei Justin.38 Es handelt sich dabei um einen eigentlich ganz und gar stoischen Begriff,39 aber eben bei ihm nicht stoisch als Weltenbrand verstanden und erst recht nicht mit der Palingennesie-Vorstellung verbunden, sondern als Ausdruck für das zu erwartende Endgericht, das Gericht über die Gottlosen. Auch hier prägt Justin einen aus der zeitgenössischen geistigen Umwelt allbekannten Begriff signifikant um, um ihn einerseits aufzunehmen und ihn andererseits in eigenständiger Weise dezidiert christlich zu interpretieren.

3.5 Kreuzesallegorien

Originell ist Justins von den späteren Apologeten bereitwillig aufgenommener Versuch, das Kreuz bzw. die Kreuzesform oder -gestalt als die Grundstruktur der Welt zu erweisen. Er geht aus von einer frei wiedergegebenen Stelle im Timaios (36b), wo Platon den Weltenbaumeister die Grundgestalt des Alls durch chi-förmige Überkreuzung des Äquators anlegen lässt. Dieses ch, das in Wirklichkeit ein + und nicht, wie Platon dachte, ein ch gewesen ist, ist für Justin identisch mit dem Kreuz, das er nun als Grundstruktur der Welt (wieder)entdeckt.40 Das Kreuz (Christi) bietet für Justin die Deutung des Lebens und der Geschichte, in der der Logos herrscht und in der mit dem Logos zusammen diejenigen gekreuzigt werden, die der Vernunft gehorchen und die das Gute tun. Von hier aus unternimmt Justin interessante allegorische Deutungen des Kreuzes, die zwar methodisch keineswegs neuartig, aber am konkreten Beispiel durchgeführt außerordentlich originell sind. Das Kreuz als Zeichen des Logos zeige sich in der symbolisierenden Vernunft des Menschen, dass sie mit Segeln in Kreuzesform das Meer befahren; dass sie mit Geräten in Kreuzesform den Acker bestellen (Zeichen der in der Geschichte waltenden Vernunft). Der Atem des Menschen, der sein Leben bewirkt und ausmacht, gehe durch die Nase, die wie ein Kreuz im Gesicht des Menschen sich befinde. Das zeige, dass der Mensch vom Logos geschaffen sei, der ihm sein Zeichen aufgeprägt und ihn zu seinem Geschöpf sichtbar gestempelt habe. Die Macht des Logos zeige sich aber auch an den Feld- und Siegeszeichen der Kaiser, die eben auch die Form des Kreuzes tragen. Das Kreuz wird als Zeichen von Herrschaft und Macht gedeutet: tes arches kai dynameos ta semeia.

IV. Zusammenfassung und methodische Konsequenzen

Es hat sich gezeigt, dass sich bei Justin theologische Optionen finden, die nur zum Teil aus den Begrifflichkeiten und Denkkategorien der paganen oder jüdischen Umwelt des frühen Christentums und nur zum Teil aus der bereits vorliegenden christlichen Tradition herzuleiten sind. Es zeigt sich mithin, dass Anlass besteht, die theologische Eigenständigkeit und Originalität Justins nachdrücklich zu unterstreichen. Im Blick auf die methodischen Konsequenzen ist meine These die folgende: Vielleicht sollte man bei allem berechtigten Interesse an der älteren Hellenisierungs- oder der neuerdings profiliert vorangetriebenen Pluralismus-und-Identitätsdebatte immer auch daran denken, die theologisch eigenständige Leistung Justins (und wohl auch anderer Apologeten) stärker in den Blick zu nehmen und zu profilieren. Es verhält sich zweifellos so, dass man bei aller methodischen Berechtigung von Herleitungs- und Ableitungsfragen mit eben diesen Fragen bei Justin an eine gewisse Grenze stößt - und zwar genau an die Grenze, an der seine denkerische Eigenständigkeit, seine Originalität einsetzt. Umgekehrt kann man sagen: Gerade indem man mit dem methodisch umsichtigen Bemühen um die von Andresen seinerzeit so vehement geforderte und geförderte befriedigende Klärung von Herleitungs- und Ableitungsfragen an eine Grenze stößt, wird die theologische Originalität Justins inmitten seines geistigen Umfeldes erkennbar. Grundsätzlicher formuliert: Vielleicht müssen wir bei aller berechtigten Begeisterung für Herleitungs- und Ableitungsfragen wieder stärker damit rechnen und es unterstreichen lernen, dass einige wichtige Gestalten der frühen Kirchengeschichte einfach originelle Köpfe gewesen sind, die bei aller Orientierung an Tradition und zeitgenössischem geistigen Umfeld eben doch und vor allem als selbständige Denker anzusprechen und zu würdigen sind: als Denker, die ihren theologischen Überzeugungen innerhalb des Christentums ihrer Zeit profiliert Ausdruck gegeben und gerade damit dem Christentum inmitten seiner nichtchristlich-hellenistischen Umgebung in hohem Maße Kontur verliehen und es ins Gespräch gebracht haben.

Summary

2nd century apologists have long been discredited as mere representatives of hellenistic philosophy and religion. On the other hand, Justin and the others have seen themselves in an unbroken continuity to the "remembrances of the apostles". The truth, however, seems to be somewhere in the middle. It is surprising to observe the originality of 2nd century apologists and their clever attempts at getting into conversation with their pagan environment. A prominent example for the apologists' originality is Justin Martyr's doctrine of the Logos spermatikos. It can neither be satisfactorily explained as a derivation from Stoa, nor as such from Middle Platonism or from Philo of Alexandria. The unfolding of the idea rather has to be appreciated as Justin's own creation. The same is true for other instances in Justin's texts, namely his proof of bodily resurrection, his concept of soteriology, his use of the terms photismos and ekpyrosis, and last not least his remarks on a symbolic understanding of the cross.

Fussnoten:

1) Ich danke der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der Arbeitsgemeinschaft Zweites Jahrhundert in Benediktbeuern und der Theologischen Fakultät der Universität Aarhus, wo ich meine hier niedergelegten Beobachtungen vortragen und diskutieren durfte, für die anregende, konstruktive und weiterführende Kritik.

2) Zum Rückgriff auf die Tradition bei Justin siehe L. Abramowski, Die "Erinnerungen der Apostel" bei Justin, in: Das Evangelium und die Evangelien, hrsg. v. P. Stuhlmacher, WUNT 28, Tübingen 1982, 341-351.

3) Justin: Dial. 85,5 - Siehe R. Holte, Logos spermatikos, in: StTh 12 (1958), 109-168, besonders 110-113.

4) Siehe S. Heid, Art.: Iustinus Martyr I, in: RAC 19 (2001), 801-847, 809.

5) P. Pilhofer: Presbyteron kreitton. Der Altersbeweis der christlichen und jüdischen Apologeten und seine Vorgeschichte, WUNT 2/39, Tübingen 1990.

6) 2. Apol. 13,2 f.

7) Zum Absolutheitsanspruch des Christentums und den sich hieraus ergebenden Problemen im Dialog mit der paganen Umwelt siehe H. C. Brennecke, Der Absolutheitsanspruch des Christentums und die religiösen Angebote der Alten Welt, in: Pluralismus und Identität, hrsg. v. J. Mehlhausen, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 8, Gütersloh 1995, 380-397.

8) G. Arnold: Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie. Vom Anfang des Neuen Testaments biss auff das Jahr Christi 1688, Frankfurt a. M. 1700, 56: "So findet man bey ihm einen feinen schmack von der ersten gravität und lauterkeit, wiewol er manchmal neben anderen eigenen gedancken auch aus der Philosophie etwas untermenget die ihm noch von seinem heydnischen Wesen her anhienge".

9) J. S. Semler: Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte, Band 1: bis 1400, Halle 1773, 31 f.: Platonische Denkungsart sei besonders in Ägypten und auch andernorts auf die christlichen Lehrsätze angewandt worden, dies aber nur für "cultivierte Personen", also ohne Anspruch auf allgemeine Brauchbarkeit und Verbindlichkeit. Man gehe zu weit, wenn man meine, die "gelehrte Einkleidung" habe der christlichen Lehre selbst vielen Schaden getan.

10) A. Ritschl, Die Entstehung der altkatholischen Kirche. Eine kirchen- und dogmengeschichtliche Monographie, Bonn 21957, 298 f.: Justin vertrete den "herabgekommenen Paulinismus" des 1Clem. Durch die hier wie dort gegebene Einmischung der Philosophie in die Theologie entstehe die "dogmatische Theologie", die unzulässig sei, weil sie sich im Gegensatz zur biblischen befinde.

11) F. Loofs: Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, Halle 41906, 114-129: Die Theologie der Apologeten habe ihre Eigenart darin, dass ihr Christentum, weil es bei ihnen an die Stelle trat, die vor ihrer Bekehrung die Philosophie eingenommen hatte, mannigfach auf deren Niveau herabgezogen wurde. Es sei hier der Grund gelegt für die verhängnisvolle Verkehrung des Christentums in eine offenbarte Lehre.

12) D. Wyrwa, Über die Begegnung des biblischen Glaubens mit dem griechischen Geist, in: ZThK 88 (1991), 29-67.

13) S. Heid, Art.: Iustinus Martyr I., in: RAC 19 (2001), 801-847.

14) Zu den Apologien: C. Munier: L'Apologie de Saint Justin Philosophe et Martyr, Par. 38, Fribourg 1994 (Einl., Text, frz. Übers.); M. Marcovich: Iustini Martyris Apologiae pro Christianis, PTS 38, Berlin-New York 1994 (Einl., krit. Edition); H. P. Thyssen: Justin Apologier, Bibel og historie 18, Aarhus 1996 (Einl., dän. Übers., Komm.); A. Wartelle: Saint Justin, Apologies, EAug, Paris 1987, (Einl., Text, frz. Übers., Komm.). Zum Dialog mit dem Juden Tryphon: M. Marcovich: Iustini Martyris Dialogus cum Tryphone, PTS 47, Berlin New York 1997 (Einl., krit. Edition); P. Bobichon: Justin Martyr. Dialogue avec Tryphon, Par. 47/1 und 47/2, Fribourg 2003 (krit. Edition, frz. Übers., Komm.).

15) Justin: Die erste Apologie, hrsg. von K. Bayer, Humanitas christiana, griechische Reihe 1, München 1966, 103 u. ö.

16) L. W. Barnard, Art.: Apologetik I: Alte Kirche, in: TRE 3 (1978), 371-411, hier 378.

17) 1. Apol. 44,9 f.: "Und alles, was die Philosophen und Dichter über die Unsterblichkeit der Seele oder die Strafen nach dem Tod oder die Schau des Himmels oder ähnliche Lehren gesagt haben, das konnten sie nur denken und entwickelten es, indem sie ihren Ausgangspunkt bei den Propheten nahmen. Daher scheinen bei allen Menschen Samenkörner der Wahrheit zu existieren: Die, die nicht genau erkennen, werden aber widerlegt, wann immer sie sich selbst widersprechen." 2. Apol. 8,1: "Wir wissen, dass auch die, die die stoischen Lehren vertraten, gehasst und getötet wurden, weil sie wenigstens in ihrer Sittenlehre anständig geworden waren (wie in manchem auch die Dichter), weil der Same des Logos dem gesamten Menschengeschlecht eingepflanzt ist." 2. Apol. 8,3: "Denn, wie wir gezeigt haben, haben sich die Dämonen immer bemüht, alle, die nur irgendwie nach Maßgabe des Logos zu leben und die Bosheit zu meiden bestrebt waren, dem Hass preiszugeben. Es ist nicht verwunderlich, wenn sie, sobald sie widerlegt werden, darauf hinwirken, diejenigen noch viel mehr verhasst zu machen, die nicht bloß gemäß eines Anteils am Logos spermatikos, sondern gemäß der Betrachtung und Schau des Logos in seiner Ganzheit leben." 2. Apol. 10,1-3: "Nun zeigen sich unsere Auffassungen als erhabener als jede menschliche Lehre, weil die ganze Vernunftkraft der um unseretwillen erschienene Christus geworden ist, Leib, vernünftiger Geist und Seele. Denn alles, was die früheren Philosophen oder Gesetzgeber gut ausgesprochen und ausfindig gemacht haben, das ist von ihnen durch Forschung und Untersuchung zustande gebracht worden, die von einem Teil des Logos geleitet waren. Da sie aber nicht das Gesamte des Logos, der Christus ist, erkannten, widersprachen sie sich häufig selbst." Schließlich 2. Apol. 13,3: "Jeder hat, soweit er aufgrund des in ihm vorhandenen Teils des göttlichen Logos spermatikos das mit ihm Verwandte (= die Wahrheit) sah, richtig gesprochen." (Zu dieser Übersetzung siehe Waszink [wie Anm. 20], 386.)

18) C. Andresen, Justin und der Mittlere Platonismus, in: ZNW 44 (1952/1953), 157-195.

19) C. Andresen (wie vorige Anm.), 172.

20) J. H. Waszink, Bemerkungen zu Justins Lehre vom Logos spermatikos, in: Mullus. FS Th. Klauser, Münster/W. 1964, 380-390.

21) C. Andresen (wie Anm. 18), 174.

22) R. Holte (wie Anm. 3), 109-168.

23) R. Holte (wie Anm. 3), 127 f.

24) Legum Allegoriae III 150; Quis Rerum Divinarum Heres sit 119; Quaestiones in Exodum II 68.

25) J. H. Waszink (wie Anm. 20), 380-390.

26) So mit Recht L. W. Barnard (wie Anm. 16 ), 378.

27) E. Osborn, Justin Martyr and the Logos spermatikos, in: StMiss 42 (1993), 143-159, 148.

28) L. W. Barnard (wie Anm. 16), 378: Es mag "sich einfach so verhalten, daß Justin in seiner Ausarbeitung der Vorstellung vom Logos spermatikos den geläufigen stoischen Begriff übernahm, im übrigen aber den Gedanken des Sämanns kühn und selbständig weiterentwickelte."

29) C. Andresen (wie Anm. 18), 157.

30) 1. Apol. 20 u. ö.

31) 1. Apol. 19,1-6: "Was aber dürfte für einen denkenden Menschen noch unglaublicher scheinen, als wenn wir nicht im Leib lebten und einer uns sagte, dass es möglich ist, dass aus einem Tropfen menschlichen Spermas gebildete Knochen, Sehnen und Fleisch entstehen können, welche wir ja sehen? Folgendes sei nämlich einmal als Hypothese aufgestellt: Wenn einer zu euch, die ihr nicht derartige (Wesen) wäret und auch nicht aus derartigen (Dingen), indem er euch menschliches Sperma zeigt und ein gemaltes Bild [des menschlichen Leibes], mit Gewissheit sagen würde, es sei möglich, dass dies aus jenem entstehe, würdet ihr das glauben, ehe ihr es in fertigem Zustand gesehen hättet? Nein; da sollte wohl niemand wagen zu widersprechen! In derselben Weise nun besteht Unglaube, weil ihr noch keinen Toten als Auferstandenen gesehen habt. Aber so wie ihr anfangs nicht geglaubt hättet, dass aus einem kleinen Tropfen derartige (Dinge) entstehen können und ihr sie (doch) entstehen seht, in derselben Weise müsst ihr anerkennen, dass es nicht unmöglich ist, dass die zerstörten und nach Art des Samens in die Erde zurückgekehrten menschlichen Leiber zum geeigneten Zeitpunkt auf Gottes Befehl auferstehen und Unvergänglichkeit anziehen werden [1Kor 15,53]. Denn auf welche Weise diejenigen von einer würdigen Macht Gottes reden (wollen), die sagen, ein jeder gelange in jenen Zustand, aus dem er gekommen sei, und dagegen vermöge nichts, nicht einmal Gott, irgend etwas, das können wir nicht sagen: Aber dies erkennen wir, dass sie es nicht für möglich gehalten hätten, dass irgendwann so beschaffene Dinge entstehen, als welche sie sich selbst und den ganzen Kosmos und das daraus Entstandene (nun) sehen. Wir haben begriffen, dass es besser ist, auch an Dinge zu glauben, die der eigenen Natur und den Menschen unmöglich sind, als ungläubig zu sein wie die anderen, nachdem wir erkannt haben, was unser Lehrer Jesus Christus gesagt hat: Was bei den Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott. [Lk 18,27]".

32) So mit Recht K. Bayer (wie Anm. 15), 103.

33) O. Skarsaune: The Proof from Prophecy. A Study in Justin Martyr's Proof-Text Tradition, NT.S 56, Leiden 1987.

34) Dial. 103,5: "[Der Teufel] ist von Jesus als Satanas bezeichnet worden, ein zusammengesetztes Wort, mit welchem der Teufel, wie er [= Jesus] anzeigt, wegen seines Tuns benannt wurde. Denn Sata heißt in der Sprache der Juden und Syrer ein Abtrünniger und das Wort Nas wird mit Schlange übersetzt, und aus diesen beiden Wörtern ist das eine Wort Satanas geworden." (Diese Etymologie dann auch Iren., Haer. V 21,2).

35) 1. Apol. 66,4; Dial. 70,1.

36) J. Ysebaert: Greek Baptismal Terminology. Its Origins and Early Development, Nijmegen 1962, 174.

37) Zur Widerlegung der These vermeintlicher Abhängigkeiten von den Mysterienkulten, besonders dem Mithraskult siehe A. Wlosok: Laktanz und die philosophische Gnosis, Heidelberg 1960, 249 f.

38) 1. Apol. 60,8 unter Berufung auf Mose.

39) Nach stoischer Auffassung gibt es zwar angesichts des "Alterns" der Welt so etwas wie einen Weltenbrand (eine Rückkehr zum ursprünglichen Feuer), der aber zugleich Beginn einer neuen Weltperiode ist, in der die Welt und die Individuen in derselben Gestalt wiederkehren werden - weil der Logos, der einmal vernunftgemäß und methodisch die vollkommenste Welt geschaffen hat, bei einer neuen Gestaltung der Welt nicht andere Wege einschlagen wird; und auch dieselben Keimkräfte der Vernunft werden wieder in genau derselben Weise wirken. Vgl. M. Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 71992, 78-81.

40) 1. Apol. 60,1-5: "Die naturphilosophische Bemerkung im Timaios in bezug auf den Sohn Gottes, wo es heißt: Er ließ im Universum ein ausbreiten, hat Platon ebenso von Mose übernommen. Denn in den Schriften des Mose ist vermerkt, wie zu der Zeit, als die Israeliten aus Ägypten ausgezogen waren und in die Wüste gelangt waren, ihnen giftige Tiere, Nattern, Vipern und jede Art von Schlangen entgegentraten, die dem Volk den Tod brachten. Da habe Moses auf Gottes Eingebung und Wirken hin Erz genommen und das Bild eines Kreuzes gemacht und dies auf dem heiligen Zelt aufgerichtet [...]. Daraufhin seien, wie vermerkt ist, die Schlangen umgekommen, das Volk aber, erzählt er, sei so dem Tode entgangen. Dies hat Platon gelesen, da er es aber nicht genau verstand und es nicht als Bild eines stehenden Kreuzes wahrnahm, sondern an ein ch dachte, behauptete er, die nach dem ersten Gott kommende [zweite] Kraft sei im Universum als ch ausgebreitet."