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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1381–1383

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Sinner, Rudolf von

Titel/Untertitel:

Reden vom dreieinigen Gott in Brasilien und Indien. Grundzüge einer ökumenischen Hermeneutik im Dialog mit Leonardo Boff und Raimon Panikkar.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XIV, 403 S. gr.8 = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 43. Lw. Euro 79,00. ISBN 3-16-147972-6.

Rezensent:

Gilberto da Silva

Rudolf von Sinner möchte in seinem Buch, das der Überarbeitung seiner in Basel 2001 eingereichten Dissertation entspricht, ohne die Entwicklung einer Theorie, sondern "durch Beobachtung anhand von Fallstudien" einen Beitrag zu einer ökumenischen Hermeneutik leisten (3). Darunter versteht der Vf. "im Verschiedenen das Gemeinsame (wieder-)erkennen, Unterschiede, Konflikte und Trennendes benennen und im Lichte des Evangeliums nach den Grenzen des Vertretbaren fragen zu können" (329; vgl. 336). Er meint also stets einen Sachverhalt im Sinne des innerchristlichen Dialogs.

Im I. Teil wird die Fragestellung auf dem Hintergrund kontextueller Theologien erörtert. Dazu bietet der Vf. eine knappe Darstellung der gegenwärtigen Diskussion um die ökumenische Hermeneutik in der ökumenischen Bewegung und kommt zu dem Schluss, dass Kontextualität und Katholizität, in einem hermeneutischen Zirkel miteinander verbunden, als "Qualitäten" (34) bzw. "Polaritäten" (35) zu verstehen sind. Während Kontextualität ein Sich-Einlassen "auf eine Praxis des Glaubens an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit" voraussetzt, ist die Katholizität konstitutiv für das Christsein (ebd.). Außerdem sind Kontextualität und Katholizität "Leitbegriffe", die "fundamentale Kategorien christlicher Existenz darstellen" (34). In diesem Zusammenhang spielt für den Vf. die christliche Trinitätslehre eine zentrale Rolle, ja "sie ist das Beispiel par excellence für Theologie in der Polarität von Kontextualität und Katholizität", weil sie die "größtmögliche Weite bei gleichzeitiger Anbindung an eine spezifisch christliche Tradition" ermöglicht (58). Das Heranziehen des brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff und des katalanisch-indischen "pluralisti- schen" Theologen Raimon Panikkar als Fallbeispiele erklärt sich aus der Tatsache, dass für beide die Trinitätslehre "zentral geworden" ist und "ein wichtiges Kohärenzmodell ihrer Theologie" darstellt (ebd.).

Der II. Teil beschäftigt sich mit der sozialen Trinitätslehre Boffs. Nach biographischen und kontextuellen Erörterungen wird der Boffsche Ansatz aus systematischer und ökumenischer Sicht analysiert.

Bei dem Lateinamerikaner fungiert die dreifaltige Perichorese als strukturierendes Modell für die menschliche Gesellschaft (101), und zwar im Kontrast zu einem politischen, kirchlichen und sozialen "monarchischen Gottesbild" als Symbol für autoritäre Gesellschafts- und Kirchenmodelle (102). Der Vf. verweist hier auf den strapazierenden Charakter der Boffschen Analogie, wobei besonders die Konfliktivität menschlicher Gesellschaft außer Acht gelassen wird (139). Für den Vf. muss dagegen der fundamentale Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Gemeinschaft deutlich festgehalten werden (140). Es wird auch Kritik an Boffs Verengung und Widersprüchlichkeit geübt, zumal hier eine für sich beanspruchende kontextuelle Theologie die Wirklichkeit abstrakt wahrzunehmen versucht (164 f.). Außerdem ist ein "Verlust christlicher Spezifizität" (sic) in Boffs späteren ökologischen Publikationen zu vermerken (182). Aber trotz der Abstraktheit und der methodischen Unschärfe ist die boffsche Trinitätslehre im Sinne einer ökumenischen Hermeneutik von Bedeutung, weil sie deutlich macht, dass christliche Lehre nur in der Polarität von Kontextualität und Katholizität möglich ist (188).

Der III. Teil untersucht die "kosmotheandrische Intuition" Raimon Panikkars. Strukturgleich zum vorangehenden Abschnitt wird nach biographischen und kontextuellen Erörterungen Panikkars Ansatz aus systematischen und ökumenischen Gesichtspunkten analysiert. Panikkar geht es um die Erfahrung des Heils und das Beschreiten eines Heilsweges (261) im Zuge einer "Enthistorisierung der christlichen Botschaft" (264). Das bedeutet, dass Jesus zwar Christus ist, aber "Christus ist nicht (nur) Jesus" (274). Dies macht für den Vf. aus Christus eine "Figur", ein universales Symbol für die Mittlergestalt (ebd.). Damit erweitert Panikkar die christliche Trinitätslehre zu einer "Perichorese der Religionen, Heilswege und göttlichen Personen" (280).

Der Vf. sieht die Hauptschwierigkeit dieses Modells darin, dass die Anknüpfungen zwischen der Panikkarschen "trinitarischen" Figur ("Kosmotheandrismus") und der christlichen Trinität "spekulativer Art" sind und "ohne Bezug zur ökonomischen Trinität" auskommen (ebd.). Für den Vf. kann es im Anschluss an Schrift, Gottesdienst und Tradition keine immanente Trinitätslehre ohne ökonomische Trinitätslehre geben. In diesem Sinne sei die "Wiedererkennbarkeit des dreieinigen Gottes in der kosmotheandrischen Intuition nicht gegeben" (281; vgl. 292). Außerdem verschwindet der historische Jesus aus dem Blickfeld, indem u. a. auch Sünde und Kreuz fehlen (304). Der Vf. kritisiert Panikkar auch darin, dass ihm eine intensivere, kritischere "Auseinandersetzung mit den konfliktiven Aspekten gelebter Religion" fehlt (320).

Der IV. Teil schließt die Studie mit der Zusammenfassung und Aufstellung der Grundzüge einer ökumenischen Hermeneutik anhand der untersuchten Ansätze ab. Ein Vergleich beider Autoren macht für den Vf. deutlich, dass "eine interkulturelle oder interreligiöse Hermeneutik" sich bei Boff nicht findet, während das theologische Denken Panikkars "keinen Platz für religiös motivierten politischen Widerstand" hat (335). Es handelt sich also um grundsätzlich unterschiedliche Ansätze, die sich jedoch berühren. In einer dann nicht ganz deutlichen Bezugnahme zu dem vorher Untersuchten präsentiert der Vf. eine dreistufige ökumenische Hermeneutik, die "Differenz und Kohärenz zugleich erlauben, diese jedoch auf unterschiedlichen Ebenen ansiedeln" kann (337): Auf der "Propositionsebene" erscheinen die Lehrsätze und Konzeptionen, die möglicherweise zu direkten Gegensätzen zwischen den Aussagen verschiedener Theologien führen; die Ebene der hermeneutischen "Grundhaltungen" kann im Anschluss an die beiden Ansätze als "Hermeneutik der Kohärenz" (Panikkar) und "Hermeneutik des Verdachts" (Boff) bezeichnet werden; "die dritte, tiefste und alles tragende Ebene ist die einer Hermeneutik des Vertrauens" (339), das sich (für Christen) auf den dreieinigen Gott richtet.

Der Rückbezug von Teil IV. auf Teil II. und III. wirft aber zwangsläufig die Frage auf, ob die beiden untersuchten Modelle tatsächlich einen Beitrag zu der vom Vf. erwünschten ökumenischen Hermeneutik leisten können bzw. wollen. Der Vf. zeigt ja in seiner Untersuchung, dass eine ökumenische Hermeneutik - im christlichen Sinne - primär nicht in den Intentionen beider Autoren liegt, bei Boff angesichts der sozialen bzw. ökologischen, bei Panikkar angesichts der von Anfang an religiös-pluralistischen Fragestellung. Daher wirken die Ausführungen im konklusiven Teil etwas forciert und überinterpretierend. Darüber hinaus ist es fraglich, ob die (christliche) Trinitätslehre tatsächlich eine zentrale Rolle für die beiden Autoren spielt, besonders im Fall Boffs. Außerdem zeigt sich ein strukturelles Problem darin, dass der Verlust an christlicher Spezifität, den der Vf. mit Recht bei beiden Autoren ausmacht, es erschwert, daraus Impulse für eine (christliche) ökumenische Hermeneutik abzuleiten.

Dem Vf. ist es in dieser Studie durchaus gelungen, zwei grundunterschiedliche Konzepte zusammenzubringen und sie in einen produktiven Dialog zu setzen. Sein Zugang zu den Ansätzen wird bearbeitet im Zusammenhang zwischen vertretener Theologie und inneren Beweggründen bzw. historisch-biographischen Erfahrungen der Theologen. Hinzu kommt ein praktischer, persönlicher Bezug zu den Autoren, der den Text durchzieht und völlig angemessen und zu begrüßen ist in der Abhandlung einer Thematik im Sinne kontextueller Theologie. Darin ist ein echter Beitrag zu einer ökumenischen Hermeneutik zu sehen.